Ich war gerade 18 Jahre alt, als ich das viel besungene Felseneiland CAPRI auf einer Fähre von Neapel aus, langsam wie einen trutzigen, lang gestreckten Klotz, dem die Wogen nichts anhaben konnten, aus dem Meer aufsteigen und immer größer werden sah.
In Europa tobte der zweite Weltkrieg und nur durch Hitlers Sympathie für Mussolini war 1941 für eine kurze Epoche die Genehmigung zu einem Besuch im verbündeten Nachbarland zu erhalten, während die übrige Welt für Deutsche und deren Vasallen hinter unsichtbaren Mauern ein – aus Nazi-Sicht – verachtungswürdiges Dasein führte.
Immer mächtiger wuchs der 6 km lange, schroffe Brocken, an dessen Küstenlinie wild und schäumend die weiße Brandung nagte, aus den Fluten empor… bedrohlich, abweisend…
Im Gegensatz zu ihren Schwestern Ischia und Procida, hatte sie nicht ein Vulkan, die in dieser Gegend oft arg wüten, ausgespieen – vielmehr behauptet dieser Berggipfel eines abgesunkenen Appenin-Ausläufers, der die Halbinsel Sorrent bildet, eigensinnig seinen Anspruch auf Licht, Sonne und Himmel. Als spektakulärer Sonderling triumphiert er nun über die Finsternis und Tiefe des Ozeans.
Bis kurz vor Ankunft im Hafen von Grande Marina schien es unmöglich, wo die Fähre – einer Nussschale gleich, an dem bizarren Felsgewirr überhaupt anlegen sollte. Ein schmaler Sandstreifen erlaubte es schließlich und eine Zahnradbahn beförderte die wenigen Reisenden zum 175 m hoch gelegenen Hauptort Capri hinauf. Vom Hauptplatz mit der Kirche zweigen Gassen und Gässchen mit weißen Häusern ab. Zwischen den winkeligen und krummen Wegen kuscheln sie sich eng aneinander, als müssten sie sich gegenseitig vor der Mächtigkeit der Bergkulisse schützen.
Kunstvolle, kleine Keramikplatten an den Eingängen kündeten bunt und fantasievoll von einer fremden Identität, die wir als Fremde nicht zu deuten wussten… Botschaften aus einer stillen, abgeschiedenen Welt, hinein gekleckst ins grandiose Machwerk der Natur.
Das scheidende Sonnenlicht warf einen freundlichen, rötlichen Schein auf die verwunschene Enklave inmitten dunkel drohenden Gesteins. Verlassen und einsam träumte sie vor sich hin.
Der Kriegszustand zwang auch Italien die Verdunkelungspflicht auf. So konnte später kein irdisches Licht das Meer von Sternen daran hindern, ihre glitzernde Herrlichkeit sichtbar am Himmel auszubreiten.
Meine ältere Begleitung, die ich am Lido von Venedig kennen gelernt und die mich zu diesem Sondertrip verleitet hatte und ich bezogen inzwischen in einer kleinen Pension Quartier. Ich leider nur für 3 Nächte, da mein Visum nur insgesamt 14 Tage gültig war.
Am folgenden Morgen stellte sich heraus, dass wir doch nicht allein auf diesem Vorposten zum Paradies weilten. Zwei deutschen Soldaten war auf dem Weg zum Kriegsschauplatz Afrika, zwei Tage Zwischenstation zur Stärkung ihres Kampfgeistes, genehmigt worden.
Natürlich beschlossen wir sofort die Insel gemeinsam zu erforschen, zumindest einen Teil von ihr. Zuerst vom Meer her, so zu sagen von außen, am Nachmittag dann zu Fuß ihre Innenseite.
Ein Fischer samt Boot war schnell gefunden. Mit ihm schipperten wir gemächlich entlang bizarrer Felsen, die Zacken, Nischen und Gestalten erfunden hatten, wie sie in solch´ spektakulärer Vielfalt kein Bildhauer meißeln könnte.
Obwohl sich das Meer heute sanftmütig gab, trennte eine weiß lodernde Gischt unsere Nussschale von den zerrissenen Fronten der Küste.
Immer wieder taten sich große und kleine Schlünde auf, die schwarze Löcher unbekannten Ausmaßes vermuten ließen.
Natürlich steuerten wir eine ganz besondere dieser Höhlen an, die durch ihren Nimbus weltbekannt geworden war… die berühmte „Blaue Grotte!“
Mit immerhin 1,30 m Größe starrte uns dunkel und geheimnisvoll die Öffnung entgegen. Trotzdem konnten Boote nur bei ruhigem Wellengang in sie eindringen.
Glücklicherweise war dies am heutigen Tag der Fall…
Geschickt manövrierte der fremde Fischer sein Gefährt in das viel zitierte „Wunder“, in dem uns ein, durch das niedrige Loch nur indirekt von der Sonneneinstrahlung in faszinierendem Blau schimmernder See, als vibrierendes Spiegelbild des Himmels gegen die dunklen Felswände glucksend, empfing.
Ein Rechteck von 15 m Länge und 30 m Breite!
Schweigend ließen wir die mystische Atmosphäre dieses 15 m hohen und ebenso tiefen, unterirdischen Feen-Reiches auf uns einwirken… dann kam plötzlich der Vorschlag: wollen wir nicht in diesen Zaubergarten eintauchen?!
Der Einwand nicht vorhandener Badekleidung wurde mit einer Handbewegung als „unnötig“ weggewischt. Wo Natur pur herrschte, da durften auch wir, als Stück von ihr „natürlich“ auftreten.
So glitten wir hüllenlos in das köstliche Wasser, das unsere Körper mit der mildesten Variante seiner unermesslichen, oft aggressiven Kraft, umspülte.
Wir bedeuteten dem, ob der ungewöhnlichen Geschehnisse einigermaßen verwunderten Fischer, uns erst draußen, außerhalb des Grottengewölbes wieder in sein schwankendes, schützendes Vehikel einzuladen und ahnten nicht, mit welcher Gewalt uns dasselbe, eben noch so freundliche Element, am Ausgang empfing.
Wie eine Furie spülte es uns, durch den Widerstand an der Felsbarriere wütend geworden, Wellenkämme über den Kopf.
Besonders ich musste alle meine Kräfte einsetzen, um nicht an diese harten Brocken geschleudert zu werden, was mir nach gelegentlicher Berührung der Füße mit ihnen, auch gelang, sodass ich einigermaßen unbeschadet das offene Meer samt Boot erreichte.
Zurückgekehrt in den hellen Tag und sicher an Land, beschlossen wir für den Nachmittag, den Ort Capri auf einem Panorama-Pfad zu umwandern.
Wieder begegneten uns kaum Menschen. Außer uns schien momentan kein Fremder hier seine Fußspuren zu hinterlassen.
Natürlich trug der Krieg daran die Schuld, denn ohne Vergangenheit ist diese Insel keinesfalls.
Von den Urmenschen des Paläolitkums, also der Altsteinzeit, die Tausende von Jahren vor Chr. die empor strebende menschliche Rasse umhertrieb, zeugen Funde von Faustkeilen.
Mit Augustus streckte das römische Imperium 29 n. Ch. die Hand nach der Schönheit im Mittelmeer aus und erwarb sie. Sein Nachfolger Tiberius baute 12 Villen hier, von denen sich eine noch als Ruine imposant präsentiert. Sogar als Verbannungsort für unliebsame Mitglieder des römischen Kaiserhauses musste später die Insel herhalten und auch Piraten ließen sich im Mittelalter von ihrem unwirtlichen Äußeren nicht abschrecken, sie zu überfallen. Im 19. Jhdt. bildete sich auf ihr sogar eine deutsche Künstlerkolonie.
Für uns einsame Wanderer auf einem Weg, der jeden Augenblick neue überwältigende Panoramen bot, zählte jedoch einzig und allein die Gegenwart und die war trotz der Kämpfe die die Welt in Aufruhr versetzten, beglückend und hoffnungsvoll.
Im Laufe von Jahrmillionen hatte das Meer an dem Gestein gemeißelt und Formen erschaffen, die immer von neuem Bewunderung hervorriefen. Da tauchten plötzlich nah den Ufern 2 Felsen wie mahnende Finger aus dem blauen Fluten – die beiden Faraglioni – die fast 100 m hoch, zum Wahrzeichen der Insel avancierten. Ebenfalls als Wächter über das Eiland triumphierte an anderer Stelle der mächtige „Arco naturale“ über das feuchte, von Wellen bewegte Element…
Im Hintergrund, thronte als majestätisches Haupt über dem zweiten Ort Ana Capri, der fast 600 m hohe Monte Salero. In deren Territorium vorzudringen, fehlt uns Vier leider die Zeit.
Aber nicht nur die beiden Ortschaften hatten sich einen Platz im Herz des ehernen Gebirgszuges erobert, auch die Vegetation konnte prall und üppig mit Bäumen, Sträuchern und einem bunten Eldorado blühender Exotik das nackte Gestein besiegen und ihr Farbenmeer über die Insel ausstreuen.
Noch ein Sommerabend bleibt uns ziel- und planlos Capri zu durchstreifen.
Wie am Tag unserer Ankunft flüchteten offenbar nach Einbruch der Dunkelheit die Menschen in ihre Behausungen. So wie Pflanzen ihre Blüten schließen, zog sich auch die Bevölkerung in ihre jeweiligen Kämmerlein zurück und scheute die Finsternis.
Kein Lichtschein störte also die Melodie dieser Nacht, in der ein kaum vernehmbarer, lauer Wind, den Takt vorgab. Gleichgültig wurde, in welche Richtung wir uns bewegten, über alles breitete sich Harmonie und Friede.
Da die Gassen, uneben und schmal, manche Fallen bereithielten, mussten wir, um nicht zu stolpern auf unsere Schritte achten. Noch beschirmten uns die Fassaden der einstöckigen Häuser und bedeuteten uns, dass wir nicht alleine waren im unendlich All, verlockten aber gleichzeitig dazu, ihren Schutz zu verlassen…
Langsam entfernten wir uns aus ihrem Gewirr, bewegten uns hinaus aus ihrer Enge und das unbebaute Terrain ließ das Firmament noch größer, gewaltiger erscheinen.
Über uns begannen die Sterne zu glitzern, immer mehr schalteten ihr winziges Lämpchen ein, sodass der ganze Himmel funkelte und blitzte.
Und dann war auch ER plötzlich da, unser Begleiter auf der Bahn der Erde – unser Mond. Nicht mehr ganz voll, aber genügend potent, um uns mit seinem fahlen Schein den Weg zu weisen. Einen Weg, den wir immer weiter zu verfolgen, nicht müde wurden.
Die Insekten hatten ihr Konzert eingestellt, auch die Vögel waren verstummt, nur der Klang unserer Schritte störte die Stille.
Automatisch hatte meine Begleiterin sich mit dem älteren Soldaten zusammen gefunden; eng umschlungen wandelten sie vor uns Jüngern her. Auch wir hielten uns an den Händen, fühlten uns zueinander hingezogen, mussten aber, da beide an andere Partner gebunden, Abstand wahren.
Es dürfte gegen Morgen gewesen sein, als wir unsere Quartiere für den kurzen Rest der Nacht aufsuchten.
Am folgenden Vormittag stellte ich fest, dass meine Zehen, nach dem wundervollen Bad in der „Blauen Grotte“ einen Denkzettel abgekriegt hatten. Die außerhalb auf den Felsen ansässigen Seeigel hatten ihre Stacheln in sie gebohrt und ich musste sie nun, nach diesem unvergesslichen Tag, in mühevoller und langwieriger Prozedur mit der Pinzette einzeln heraus holen.
Die beiden Soldaten hatten inzwischen die Insel pflichtgemäß in Richtung Afrika verlassen und niemand wusste, ob, wie und wann sie zurückkehren würden.
Beim Gedanken an sie erfüllte mich ein wehmütiges Gefühl des Abschieds von einer kurzen, doch sehr intensiven Begegnung, aber auch die Genugtung, den Versuchungen einer verführerischen Naturkulisse widerstanden zu haben. So konnte das Erlebnis Capri als makelloses „Mirakel“ in der Erinnerung fortbestehen.
Das war 1941 meine erste Bekanntschaft mit dem Mittelmeer, das mich seither nie wieder losgelassen hat.
Über 20 Jahre später, längst verheiratet und Mutter einer erwachsenen Tochter, habe ich Capri wieder gesehen – in den 60er Jahren, nachdem sich Deutschland von einem wahnwitzigen, irrealen Krieg ganz langsam zu erholen begonnen und Anschluss an die übrige Welt gefunden hatte.
Wir lebten nun nicht mehr in Österreich, sondern in Deutschland, dessen Trümmerfeld in den Wirtschaftswunder-Zeiten mit Hilfe der ehemaligen Feinde und unzähliger Gastarbeiter ein neu aufgebautes, boomendes Territorium geworden war. Nur die Narben der Wunden zeugten noch von den Schrecken der Vergangenheit.
Per Auto steuerten wir nunmehr drei Jahre hintereinander das Traumziel Italien an, um auf einem romantischen Campingplatz auf der Sorrentiner Halbinsel den Blick auf die paradiesische Insel vom eigenen „Haus“ aus, zu genießen.
Wie einst ragte ihr zerklüftetes Panorama unnahbar und voll abweisender Majestät aus den Meereswogen.
Aber der Schein trog!
Die einige Jahre nachdem Krieg entdeckte und kreierte Sparte „Tourismus“ hatte die spröde Schöne in ihren Griff gezwungen.
Angekommen am Hauptplatz von Capri, stauten sich unterhalb der Kirche die Menschenmassen, verzehrten auf den Stufen zum Gotteshaus ihre mitgebrachten Imbisse, schwätzten und lachten und untermalten das ehrwürdige Denkmal der Religiosität mit einer unwürdigen Geräuschkulisse.
Am Hauptplatz selbst hatten sich teure Restaurants mit befrackten Kellnern etabliert, die einen Hauch von Luxus verströmten und internationales Flair boten.
Wir flüchteten in die Gassen… eng und winkelig waren sie noch immer, doch ihr bezaubernder Charme hatte auch hier einen kommerziellen Anstrich erhalten.
Die Schönheit der Natur stellte ihre kuriose Extravaganz weiterhin strahlend zur Schau, nur die Ruhe fehlte, um sie wahrhaft in sich aufnehmen zu können. Viel zu spürbar war auch diese Ablenkung am Panorama-Pfad über der Küste. Immer wieder Schritte, Gesprächsfetzen von Unbekannten, das Klicken unzähliger Kameras ertönten vor und hinter der eigenen Körperlichkeit.
Ja, sie waren noch da… die beiden Faraglioni und auch der Arco naturale – sie hatten sich nicht verändert, trotzten wie eh und je dem wilden Element, doch ihre grandiose Kulisse verlor sich im Gewimmel der Tausende von Betrachtern. Ihre Einmaligkeit wurde erdrückt von fremder Betriebsamkeit.
Da uns dieses Mal keine Zwangsjacke der Zeit angelegt war, kurvten wir auf halsbrecherischer Straße hinauf nach Ana Capri, dem grünen Hügel oberhalb des Tummelplatzes der Touristen. Hier konnte man noch ein wenig von Beschaulichkeit ahnen, die in der Vergangenheit so manchen Großen der Geschichte zum Bleiben verlockte. Einer von ihnen war der Arzt Axel Munthe und seine prächtige Villa hier zieht nun als Museum ebenfalls Besucher wie ein Magnet an.
Massentourismus… Stichwort, das für die Veränderung der bezaubernden Insel die Verantwortung trägt.
Die Zeiten der Not sind gottlob überwunden und jeder Mensch hat das Recht, die Wunder der Natur kennen zu lernen! Nur sollte er nicht in Massen über sie herfallen und sie als Besitztum betrachten, das man nach Lust und Laune benutzen darf.
Das, was einst nur den oberen Zehntausend zugänglich war, sollte allen seine Schönheit
offenbaren dürfen. Aber bitte kontrolliert und beschränkt! Denn wie bei Massenaufmärschen und Massenveranstaltungen geht Identität hoffnungslos verloren.
Schöne Wort für taube Ohren!
Leider, denn wenn es dem Mensch gut geht, hält er nichts von Sparsamkeit und Beschränkung, dann ist „immer mehr“ sein Ziel!
Jedes Jahr spürten wir die Verfremdung dieser Insel deutlicher, kehrten gern auf unseren Campingplatz zurück und wenn wir dann abends vor unserem Zelt bei einem Glas Rotwein auf das Felsmassiv blickten, das wie eine schemenhafte Vision aus dem Meer emporstieg, dann… ja dann erwachte bei mir die Erinnerung an ein Capri, wie es sich als Geschenk der Natur in einer sehr bösen Zeitepoche präsentierte.