1944 Wien

Kalt und gleichgültig schlich sich das Jahr 1944 über die Schwelle des geschundenen Jahrhunderts, trug im Gepäck eine zermürbende Bedrohung, Ängste und Todesfurcht für die Menschen und von der Regierung den Aufruf zu eisernem Durchhalten.

Für mich und Kurt allerdings hielt dieses neue Jahr eine unbeschreibliche Glücksbotschaft bereit.

In den gerade sich anbahnenden Vorfrühlingstagen wurde es klar: ich erwartete ein Baby!

Was bedeutete uns jetzt noch der sich immer mehr verschärfende und verhärtende Krieg. Es war unser Leben, das wir unabhängig von allen äußeren Umständen zu bewältigen hatten und irgendwie auch über die gefahrvollen Endrunden dieses erbärmlichen Gemetzels der Völker, hinweg zu retten gewillt waren. Jetzt erst recht, da es für uns einen neuen Sinn gewonnen hatte.

Auch Mutter nahm die Nachricht von einer weiteren Vergrößerung der Familie mit Freuden entgegen. Nur erinnerte sie ihr nüchterner Menschenverstand bei allem Frohlocken, an die handfeste Tatsache der unerträglichen Enge in unserer Behausung.

Etwas, woran wir bisher keinen Gedanken verschwendet hatten. Wir waren glücklich, wir würden ein Kind haben, alles andere degradierte zur Nebensache.

So blieb es auch Mutter überlassen, intensiv und immer wieder in diesen erwartungsfrohen Wochen, Kurt zu drängen, nach einer größeren Wohnung Ausschau zu halten. Freilich ein Ansinnen, das einer unerfüllbaren Illusion gleichkam. Wenn es überhaupt eine Chance dafür gab, dann höchstens durch Kurts berufliche Beziehungen.

„Ja, natürlich“, versprach er auf Mutters brisante Hinweise, „ich werde mich nach allen Kräften dafür einsetzen!“ Viel Hoffnung auf Erfolg hatte allerdings auch er nicht.

Überzeugt, dass die frohe Nachwuchsbotschaft wie in Wien, auch in Berlin ein Jubelgeschrei auslösen würde, war die Enttäuschung besonders für Kurt groß, als statt dessen mahnende Worte per Brief, wie „kann man es in dieser Zeit verantworten, ein Kind in die Welt zu setzen!“ als ernüchternder Kommentar eintrafen.

Zugegeben, die Reichshauptstadt wurde täglich mit Bomben der Alliierten attackiert und ihre Menschen verbrachten mehr Zeit in den Luftschutzkellern als in ihren Wohnungen. Immer mehr von ihnen verloren von Heute auf Morgen, von einer Minute zur anderen, ihr Heim und ihre Habe und konnten nur beten, wenigstens am Leben zu bleiben.

Viele große Firmen wurden deshalb auch aus der Hauptstadt in andere Gegenden verlagert und auch das Werk, in dem Kurts Vater sein gesamtes Arbeitsleben zugebracht hatte, sollte nach Schlesien evakuiert werden. Nie aus der Stadt Berlin heraus gekommen, stand ihnen nun ein Umzug in die Fremde bevor.

Mir brachte dagegen der zu erwartende neue Erdenbürger von Staatsseite einige Vorteile, in Form von Zusatzrationen wie Milch, etc. ein. Nach den millionenfachen Verlusten an den Fronten, war Nachschub an menschlichem Material, höchst notwendig und erwünscht.

Schon stülpte der Mai der Natur sein Brautkleid über…

Aus den Kapseln praller Knospen an Bäumen und Sträuchern drängten fragile Gebilde neuen Lebens, dem Licht der Sonne entgegen, sprengten ihre Hülle und entfalteten ihre zart duftende Schönheit an noch kahlen Ästen, verströmten eine Symphonie an Farbe und Form auf dem herrlichen und doch so gewalttätigen europäischem Kontinent.

In diesen Wochen und Monaten, wo Maschinengewehre an den Kriegsfronten und Bombengeschwader aus der Luft die Existenz des Lebens auszulöschen versuchten, leuchteten für Kurt und mich die Sterne der Vorfreude vom Himmel und vertrieben alle Schattenbilder in die Finsternis des Nichts.

Die Vorbereitungen auf das große Ereignis liefen schon auf Hochtouren…

Welcher Name würde für das kleine Wesen angemessen sein? Das ganze Kalendarium für gängige und auch ausgefallene Benennungen männlicher und weiblicher Spezies, wurde Abend für Abend durchgegangen, wieder verworfen.

Der Name, das Aushängeschild eines jeden Menschen sollte schließlich nicht nur passend sein, sondern seinem Tträger auch gefallen.

Außer den „namentlichen“ Überlegungen waren es vor allem die praktischen Bedürfnisse, die einem Baby zustehen und die es zu beschaffen galt.

In einem Punkt waren wir uns einig:

Der als Zuteilung erwerbbare Einheitskinderwagen kam für „unser Kind“ nicht in Frage. Etwas komfortableres, größeres musste her. Für dessen Beschaffung bot sich Mutter, als Spezialistin an. Zwar war es noch immer wie zu Großmutters Zeiten üblich, die Kleinen in wärmende Wickelpolster zu verpacken, wofür auch das schmalbrüstige Vehikel auf Bezugschein reichen würde, aber Säuglinge wachsen schnell heran… und „Es“ sollte es bequem haben.

Für die Sonderpunkte auf der Kleiderkarte konnte ich mir auch eine kaschierende Hülle bei eintretendem Körperumfang, anfertigen lassen.

Indessen wütete der Krieg unvermindert weiter.

Im Juni landeten alliierte Truppen auf dem europäischen Kontinent. In der Normandie fand eines der mörderischsten und blutigsten Schlachten im Westen statt und Deutschland war nun außer von Ost und Süd, auch von daher eingekreist.

Die Nachrichten verbrämten das Disaster, rühmten die heldenhafte Verteidigungsbereitschaft und kündigten die bevorstehende Wunderwaffe, deren Einsatz bevorstehen würde, an.

Sieg um jeden Preis, lautete auch jetzt noch die Parole, andernfalls war Hitler entschlossen, den eigenen Untergang mit dem seines Volkes zu besiegeln.

Also Durchhalten, wie es einst die Engländer bei den tödlichen V 1 und V 2- Geschossen über London getan hatten! Nicht der Zermürbung durch die Bombardements erliegen!

Noch bevor der Juni in die heiße Sommerphase überwechselte, wurden neue drastische Maßnahmen erlassen, um auch in der Heimat noch irgendwie verfügbare Kräfte für den hoffnungslosen Krieg zu mobilisieren.

Währenddessen gelang Kurt ein weiterer Erfolg im privaten Bereich. Er setzte es durch, dass ich im Hinblick auf meinen Zustand aus dem Berufsleben vorzeitig ausscheiden und nunmehr intensiv mich auf das freudige Ereignis vorbereiten konnte.

Die Sommermonate Juli und August sorgten für turbulente Ereignisse sowohl extern wie intern.

Das Externe präsentierte sich als Hiobsbotschaft eines Attentats auf Hitler, das der „Volksempfänger“ am 20.7. voll Empörung verkündete und zugleich mit der Beruhigung, der Führer sei unverletzt, aufwartete.

Fassungslos saßen wir an diesem Abend in Mutters Küche beisammen und grübelten, warum diese, vielleicht einzige und letzte Rettung aus dem aussichtslos gewordenen Krieg, denn schief gegangen sei, während die Stimme aus dem Radio laufend beteuerte, dass Hitler wohlauf sei.

Nur langsam kristallisierten sich die tatsächlichen Geschehnisse aus den Nachrichten heraus.

Ein hoher Militär aus uraltem Adelsgeschlecht, der als solcher Zugang zum Führerhauptquartier „Wolfsschanze“ in Ostpreußen hatte und offenbar Kopf einer Widerstandsgruppe war – in unserem Polizeistaat fast ein Wunder, von dem niemand ahnte – hatte eine Bombe gezündet, die zwar explodiert war, aber aus irgendwelchen Gründen ihr „Ziel“ verfehlt hatte.

Und dann schließlich erfolgte die Meldung, der Täter – Stauffenberg – sei gefasst und sofort standrechtlich erschossen worden.

„Warum erst jetzt, dieser missglückte Versuch, wo sowieso schon alles verloren ist“, überlegte ich seufzend. „Warum hat man nicht rechtzeitig diesen „Führer“ beseitigt?“

„Hast Du jemals Menschen erlebt, die in der Phase der Hoffnung, des Glaubens und vor allem der überwältigenden Siege, abgesprungen sind?

Am Anfang hat Hitler tatsächlich Vertrauen erweckt. Der „Wolf“ im Schafspelz war damals nicht zu erkennen. Nicht nur die Militärs, die die Siege errangen, waren auf seiner Seite, sogar manches neutrale Ausland –wie z.B. Schweden – wollte es sich mit ihm nicht verscherzen und stand ihm mehr oder weniger wohlwollend gegenüber.“

„Und jetzt, was wird jetzt… ? „ überlegte ich laut.

„Jetzt…“ wiederholte Kurt, „jetzt geht es weiter bis zum bitteren Ende…“

„Und das wird sein… ?“

„Ich bin kein Hellseher,“ erwiderte Kurt ungeduldig. „Unter vorgehaltener Hand geht schon lange der Slogan “genieße den Krieg, denn der Frieden wird fürchterlich` um“.

„Schwacher Trost, katastrophale Aussichten…“ schüttelte es mich vor Entsetzen.

„Mach´ Dir keine Sorgen“, beschwichtigte mich Kurt sogleich. „Wir kommen durch, das verspreche ich Dir noch einmal…“

Kurze Zeit später erfolgte der „interne“ Beweis für Kurts Zuversicht in punkto „durchkommen“.

Er konnte uns eine Überraschung anbieten.

Mit Hilfe der Firma war es ihm gelungen, eine eigene Wohnung aufzutreiben.

Mutter strahlte und dankte voll Inbrunst dem lieben Herrgott für dieses abermalige Wunder.

Das 2-Zimmer-Domizil lag im Bezirk Josefstadt, ca. eine halbe Stunde zu Fuß entfernt, in einem Haus mit Hinterhof und Pawlatschen-Balkon und befand sich in ziemlich verwohntem Zustand. Doch die Firma war bereit, die altertümliche Wohneinheit für ihren erfolgreichen Angestellten renovieren zu lassen.

Während Mutter von der Aussicht, aus der häuslichen Enge befreit zu werden, schwärmte, wurde mein Gesicht von Tag zu Tag länger… .

In ein altes, einstöckiges Pawlatschenhaus mit Holzbalkon sollte ich ziehen?

Ich kannte die Situation einer derartigen Behausung von meiner Tante…

Zum Anschauen mag so ein Relikt anheimelnd wirken, aber darin wohnen??

Ich wusste, dass sich auf den Brettern vor den Wohnungstüren die gesamte Hausgemeinschaft zu Klatsch und Tratsch zusammenfand und deren besonderes Interesse sich speziell auf etwaige Neuzugänge konzentrierte. Haarscharf würden die unter die Lupe genommen werden.

Ich fürchtete die heimtückischen Spitzfindigkeiten der eventuellen Nachbarn auf dem gemeinsamen, umlaufenden Balkon, das unausweichliche Miteinander, das jedes Privatleben ausschloss.

Ich lehnte diese Art von Verbrüderung ab und legte stets größten Wert auf ein Dasein hinter verschlossenen Türen.

Dazu kam ein unbestimmtes Gefühl, eine instinktive Warnung hinsichtlich der Tatsache, dass Kurt als „Zu`graster, also Nicht-Österreicher besonderen Verdacht erwecken könnte. Da sich das Kriegsglück fundamental verschlechtert hatte, bestand die Gefahr, dass „Auswärtige“ mit zusätzlichem Misstrauen beäugt würden.

Je öfter ich also die Sachlage bedachte und meinem Unterbewusstsein Glauben schenkte, umso wankelmütiger wurde ich bezüglich der so dringend nötigen größeren Behausung… bis ich schließlich unter Tränen gestand, dass ich nicht in diese alte, neue Wohnung ziehen würde.

Mutter war, was selten passierte, ob dieser strikten Ablehnung echt ratlos. Als Hausfrau spürte sie den Platzmangel am meisten. Nun gäbe es die Möglichkeit, diesem zu entfliehen, da machte i c h einen Strich durch die Rechnung und weigerte mich, dieses Angebot wahrzunehmen.

Sie klagte Vater ihr Leid, aber der hatte nur ein Achselzucken für das Problem. „Na, wenn sie nicht wollen, dann bleiben sie halt hier! Wer weiß, wofür es gut ist!“ damit war die Sache für ihn erledigt.

Nicht so für Mutter. Sie erinnerte sich ihres Nachbarn, der sie immer wieder zu den verbotenen Nachrichtensendern der Feinde zu sich und einem Glas Wein hinüber gebeten hatte. Diesmal klopfte sie an seine Pforte, um ihre Sorge und Enttäuschung bei irgendjemand loszuwerden und fand ihn, wie fast immer, allein und Zeitung lesend im geräumigen Wohnzimmer.

In facettenreichen Worten und mit entsprechenden Gestikulationen schilderte sie ihm die Chance, die zu nutzen, sie ihre Tochter leider nicht zwingen könnte.

Der Nachbar hörte aufmerksam und geduldig zu, ging dann in die Küche und holte 2 Gläser, in die er wie so oft, den nun immer schwieriger zu beschaffenden Wein goss.

„Warten Sie einen Augenblick“, beruhigte er sie, „ich habe da vielleicht eine Idee…“

Überrascht und ein wenig hoffnungsvoll sah ihn Mutter an. Was meinte er damit?

Der Nachbar ließ sich Zeit mit einer Antwort, schien intensiv nachzudenken.

Die Fenster seines Wohnzimmers waren zur Gasse ausgerichtet und bereits verdunkelt, sodass kein Geräusch hier hinauf drang.

Der Raum wirkte hoch, wie üblich in den Häuserblocks der Jahrhundertwende und größer als der von Mutter. Dafür gab es in der langen, schmalen Küche keine natürliche Lichtquelle und auch das Kabinett war wesentlich kleiner und gewährte lediglich einen Blick in einen, von hässlichen Mauern eingefassten Lichtschacht. Diese Kammer diente dem Nachbarn zum Abhören der feindlichen Sender, an deren Nachrichten er heute allerdings nicht interessiert zu sein schien, was Mutter dankbar registrierte, war sie doch zutiefst mit eigenen Problemen belastet.

„… so eine Gelegenheit kommt doch nicht wieder“, erinnerte sie nach Minuten langem Schweigen, an den Grund ihres Besuches.

Der Nachbar zögerte noch einen Moment…

„Ich habe die Absicht, mich von meiner Frau zu trennen“, erklärte er dann in bedächtigem,

aber sehr bestimmten Ton. „Es hat keinen Sinn mehr…“

Mutter stockte der Atm. „Das tut mir aber leid“, murmelte sie erschrocken.

„Ja und da kommt mir Ihr Anliegen wie ein Wink des Schicksals“, entgegnete er ohne auf ihr Bedauern einzugehen. „Wissen Sie was… ? Ich tausche mit Ihnen“ erklärte er dann spontan.

Eine Pause entstand. Mutter konnte sich keinen rechten Reim auf diese Ankündigung machen.

„Ja, ich nehme für meine Frau die Wohnung in der Josefstadt und Sie können diese hier für Ihre Tochter und ihren Schwiegersohn haben… .“

Jetzt erst erfasste Mutter die Tragweite seiner Worte. „Wollen Sie das wirklich“ jubelte es in ihrem Innern… . „Ich verspreche Ihnen, Sie werden es nie bereuen. Die Wohnung im 8. Bezirk wird zu einem Schmuckkasterl hergerichtet, dafür sorgt mein Schwiegersohn. Der Tausch kostet sie keinen Pfennig…“ gab sie anstelle von Kurt, eine enthusiastische Zusage.

Diesmal war es ihr Triumph eine Lösung aus einem unlösbaren Dilemma gefunden zu haben.

Natürlich waren Kurt und ich mit dieser sensationellen Mitteilung höchst glücklich, die für uns ein Geschenk des Himmels bedeutete.

Unverzüglich leitete Kurt alle notwendigen Maßnahmen für die ungewöhnliche Transaktion in die Wege.

Es dauerte keine 4 Wochen – Mitte August bereits, konnte der Umzug nach nebenan erfolgen.

Und ich, bisher nicht so sehr an Hausputz interessiert, schrubbte und wienerte mein zukünftiges Heim mit nie gekannter Energie.

Die dunkle, nur im oberen Bereich durch die verglaste Eingangstür dürftig beleuchtete Küche, störte mich nicht, denn für die leiblichen Bedürfnisse blieb weiterhin Mutters Refugium vis a vis zuständig. Schließlich konnte ein 4-Personenhaushalt rentabler bewirtschaftet werden, als zwei Getrennte. Und etwas schmackhaftes und nahrhaftes auf den Tisch zu bringen, zählte in diesen arg beschränkten Zeiten zu einer genialen Tugend, die nur durch jahrelange Erfahrung gewonnnen werden konnte.

Des Nachbarn Geheimkammer für Feindkontakte, wurde nun für den neuen Erdenbürger, dessen Kommen sich immer intensiver ankündigte, parat gehalten. Sie sollte mit meinen

rosarotem Mobiliar ausgestattet, klein aber fein, dem Sprössling ein würdiges Ambiente bieten.

Blieb noch das Wohnzimmer, für das es 2 Couchen, einen Schrank, einen Tisch mit 4 Stühlen im „Schleichhandel“ zu organisieren galt.

Bereits Ende August zeigte sich das neue Heim aufs beste herausgeputzt, zur Inbetriebnahme fertig.

Bei all´ der Betriebsamkeit hatten wir nur nebenbei registriert, dass inzwischen die besetzte französische Hauptstadt Paris von „feindlichen Truppen“ zurückerobert worden war und somit der weitere Vormarsch auf das Dritte Reich drohend bevorstand. Die offiziellen Meldungen darüber wurden mit der Aussicht auf einen „Dennoch – Endsieg“ verbrämt.

In dem auf Ostmark umgetauften Österreich, nahm man, der Mentalität entsprechend, die fatale Situation zwar als „hoffnungslos“, aber nicht „ernst“ hin, man stand ihr ohnedies machtlos gegenüber. Äußerst düster würde die Zukunft werden, also begnügte man sich mit der Gegenwart und genoss sie in einer Art Galgenhumor.

Natürlich war für Zivilpersonen jegliche Reisetätigkeit untersagt worden, alle Räder mussten für den Sieg rollen…

Doch überall gab es Um- und Auswege…

So gelang es Kurt, der aus Berufsgründen von dem Verbot nicht betroffen war, für sich und auch mich eine Genehmigung zu einer privaten Bahnfahrt zu erlangen. Mit Sonderausweis traten wir einen 14-tägigen Urlaub in den sonnigen Süden der Alpen, nach Kärnten an.

Wenn amtlich beglaubigt, kümmerte sich keiner mehr darum, ob anstelle eines Sonderbevollmächtigten eine hoch schwangere Frau, sich in die Reihen der Dienstreisenden geschlichen hatte.

Unser Ziel war diesmal ein kleiner, in bewaldete Berge eingebetteter Ort, den liebevoll ein fast kreisrunder See begrenzte.

Es fanden sich kaum Gäste in dem Gasthof, den wir für 2 unbeschwerte Wochen ausgewählt hatten und hier den Übergang vom Sommer in den Herbst erleben wollten.

Es wurden Tage voller Heiterkeit…

Das Dorf, das sich „Feld“ nannte, sowie seine Häuser mit der Kirche als Mittelpunkt, wurde als lustig vibrierendes Spiegelbild im klaren Wasser abgelichtet und strahlte Weltvergessenheit aus, gaukelte Frieden vor.

Unendlich weit, fast schon wie auf einem anderen Stern erschienen die Kriegsspiele eines verrückten Imperators: unbegreiflich und irrelevant…

Mit einem kleinen Boot ruderte Kurt uns fast täglich hinaus auf die glitzernde Wasseroberfläche, wo nur das Plätschern der Ruder die Lautlosigkeit unterbrach, ab und zu auch ein ächzendes Stöhnen der hölzernen Planken.

Mitten im See, wenn wir uns ohne Bewegung treiben ließen und die Wellen uns wie in einer Wiege sanft schaukelten, tauchten alle Ängste und Sorgen hinab in die unbekannte Tiefe, versanken, lösten sich auf zu einem unbedeutenden Nichts.

Manchmal geisterte in den Morgenstunden ein feiner Nebelschleier über das Wasser, schwebte als geheimnisvolles Gespenst über uns hinweg, zog hinauf zu den Wäldern und benetzte Bäume und Sträucher mit winzigen Tröpfchen. Aber bald verschluckte die Sonne den mystischen Spuk, umhüllte das Land von neuem mit ihrem wärmenden Strahl.

Bei unseren Spaziergängen in die hügeligen Wälder der Umgebung offenbarte sich uns eine üppige Vegetation, die überall neben schmalen Pfaden aus dem Boden wucherte. Farne mit gefiederten Blattwedeln sprossen rechts und links aus der Erde.

Wie ein grüner Teppich belagerten Pflanzen, deren Namen wir nicht kannten, das Terrain neben uns und eine unbekannte Welt entfaltete sich zu unseren Füßen… ein zauberhaftes Sammelsurium voll Schönheit und Harmonie.

Aber auch diese Tage, die uns wie ein flüchtiger, einem Atemzug gleichenden Blick ins Paradies erschienen, gingen zu Ende und unter dem ratternden Gekreische der Räder, die eigentlich nur für den Krieg rollen durften, kehrten wir zurück in die Stadt und ihren Alltag.

Immer häufiger störten jetzt Luftalarme auch Wien, noch waren keine allzu gravierenden Schäden zu beklagen und so hoffte man weiter auf einigermaßen Schonung, da man doch „okkupiert“ worden war.

Fast genau zum errechneten Zeitpunkt meldete der ersehnte Sprössling mit ziemlicher Vehemenz seinen Wunsch an, nunmehr die Bühne dieser Erdenwelt zu betreten.

Am Abend eines frostigen Oktobertages, kurz vor dem Wechsel zum November, kündigte sich das Ereignis schmerzlich fühlbar bei mir an.

Zu Dritt… Kurt, Mutter und ich… , stapften wir zu Fuß Richtung Krankenhaus in Döbling.

Dort war man nicht sonderlich erfreut, dass zu fast mitternächtlicher Stunde noch eine Patientin eintrudelte… aber so haben es halt Babys an sich… , sie kommen, wann sie wollen und man muss froh sein, dass sie überhaupt kommen…

Trotzdem dauerte es bis zum folgenden Sonntagmorgen… .ehe sich das Mädchen Karin mit mächtigem Geschrei dem Abenteuer des Lebens stellte.

Recht ramponiert empfing ich das kleine Wesen in meinen Armen und suchte, ehe man es mir wieder wegnahm, ein Erkennungszeichen, damit ja keine Verwechslung in dem großen Klinikum möglich sei. Und ich entdeckte es… auf einem der winzigen, kaum fingerlangen Händchen befand sich ein noch winzigerer, kaum sichtbarer Kratzer!

Beruhigt gab ich mich dann einem erholsamen Schlaf hin, aus dem ich jedoch bald abrupt und von dem am großen Ereignis immerhin ebenfalls beteiligten Kurt voll Euphorie, gerissen wurde.

Noch ehe wir uns des gemeinsamen Glückes richtig erfreuen konnten, holten uns die gefürchteten, heulenden Töne der schon fast zum Alltag gehörenden Sirenen, in die brutale Wirklichkeit zurück.

Um von den tatsächlichen Geschehnissen an den Fronten abzulenken, wurde die Bevölkerung in dieser Zeit mit kulturellen Leckerbissen in Kinos und Theatern gefüttert, damit sie den Glauben an den Sieg nicht verliere. Auch aus dem Radio erklang täglich die einschmeichelnde Melodie von Lili Marleen, der tapferen Soldatenbraut, die durch die herbe

Stimme Lale Andersens, zu Tränen rühren vermochte und das grausame Waffenspiel überall draußen, zu einer herzerweichenden Liebesromanze umfunktionierte.

Doch wenn, wie auch heute, die Motorengeräusche von mit Bomben beladener Flugzeuge aus einem Himmel, in dem doch ein guter Gott walten soll, dröhnten, dann zerstob der schöne Schein und zurück blieb die nackte Angst ums Überleben.

Kurt, der die ganze Nacht vor dem erst vor kurzem installierten Telefon in fiebernder Unruhe verbracht hatte, half sofort nach dem Alarm den Krankenschwestern, die Säuglinge in die dafür vorgesehenen Kellerräume zu befördern.

Ich wurde im Bett in die unterirdischen Gefilde verfrachtet, bis nach einigem Horchen und Bangen, die Entwarnung das Verschwinden der Störenfriede über unseren Köpfen meldete und alle unbeschadet in die oberirdischen Lebensbereiche zurückkehren konnten.

Als ich nach der notwendigen Abstinenz, in der Karin nur mit Tee versorgt wurde, meinen Säugling endlich jeden Abend ans Herz drücken und stillen durfte, stellte ich fest, dass ein Namensschildchen am Rücken der Kleinen klebte, womit auch von Amts wegen einer Verwechslung vorgebeugt worden war.

Wieder schoben die folgenden Wochen voll Glück und Freude die äußeren Geschehnisse ins Abseits. So drang die Nachricht des November 1944, dass deutsche Truppen eine feste Front entlang Oberrhein, Westwall und Niederrhein gebildet hätten –offenbar ein verzweifelter, hoffnungslos irrationaler Versuch –nur flüchtig in unser Bewusstsein.

Das Jahr ging zu Ende und das Weihnachtsbäumchen das diesmal im neuen Quartier sein Kerzenlicht aufflackern ließ, wurde Karin – eingebettet im schützenden Wickelkissen – als Symbol des wichtigsten Festes der Christenheit vorgestellt.

Sie ahnte natürlich noch nichts von Sitten, Gebräuchen, Traditionen im Kalender der Religionen.

Es war ein warmes Licht, das da durch die Dunkelheit des Raumes irrte und irgendetwas Verborgenes zu suchen schien, etwas Geheimnisvolles erleuchten wollte. Zitternd erhob es sich aus dem Wachs als tröstender Bote in der Finsternis.

Das Kriegsgeschehen tobte indessen an allen Fronten mit vehementer Heftigkeit. Kanonenlärm ließ die Erde erbeben und Bombengeschwader mit tödlicher Fracht, donnerten in pausenloser Folge über die deutschen Städte.

Und doch ging das Leben in ihnen irgendwie weiter… .

Meine fast panische Angst galt in diesen kalten Wintermonaten der ständigen Gefahr von Erkältungen, die Karin durch die langen Stunden in dem dunklen Kellerraum mit der Hausgemeinschaft, ausgesetzt war.

Nur jetzt keinen Schnupfen, Husten oder noch Schlimmeres kriegen!

Karin ließ Gott sei Dank alle Transporte von oben nach unten problemlos über sich ergehen und verschlief die Zeit vom ersten Heulton bis zur sehnlich erwarteten Entwarnung ohne Protest. Als wollte sie sagen: macht Euch doch nicht verrückt!

Die Furcht, es könnte trotz aller Vorsicht doch zu einer Infektion kommen, trieb mich zu fast grotesken Maßnahmen. Kaum tat einer aus der Familie einen Huster, einen verdächtigen Nießer oder gar kraftvollen Schneutzer, durfte er sich dem Kind nur mit Mundschutz nähern – was selbstverständlich auch für mich selbst galt. Und wurde das Baby des abends in der Küche gebadet – was täglich von mir gehandhabt wurde – durfte niemand die Türe öffnen. Schließlich konnte jeder spontane Luftzug irgendwelche heimtückischen Keime hereinwehen.

Während aus dem Radio immer wieder das „Durchhalten“ beschwört wurde, flüchteten bereits die Menschen aus den östlichen Gebieten vor der Roten Armee. Ganze Trecks zogen mit ihrer nötigsten Habe gegen Westen… .Wie viele von ihnen mögen in den eisigen Nächten dabei erfroren und umgekommen sein… ?

Dagegen spielten in den Städten die Theater heitere Komödien, boten unbeschwerte Unterhaltung – Ablenkung von der Katastrophe um jeden Preis!

Kurt wurde in diesen Wochen oft infolge schwieriger Beschaffungsnöte auf Kurzreisen beordert, denn überall waren Engpässe entstanden, Ersatzteile für die zur Kriegsführung benötigten Waffenarsenale, waren kaum noch aufzutreiben.

In dieser Situation war sein Organisationstalent sehr gefragt. Zwar eine Herausforderung für ihn, wobei der Reiz der Aufgabe – nicht sein Zweck – einfach in deren Bewältigung lag.

Was er bei solchen Kurztouren zu den Industriezentren des Reiches sah und erlebte, versetzte allerdings seiner Zuversicht und seinem Glauben ans „Überleben“ einen argen Kratzer.

Wo einst Häuser standen, ragten jetzt kahle Gerippe in den Himmel, auf die immer neue tödliche Geschosse niederprasselten. Nicht nur Wohngebäude, auch die erhabenen Bauwerke, die Vorgängergenerationen erdacht und erschaffen hatten, lagen nun in Asche und Rauch und straften menschliche Vernunft Lügen.

Menschen gegen Menschen… der einzige Feind des Menschen ist leider der Mensch.

Ein ungewöhnlich milder März 1945 ließ nach dem frostigen Winter die schmutzigen, verharschten Schneefelder an den Rändern der Großstadtstraßen zögernd schmelzen.

Für die Menschen wurde indes jede Hoffnung auf ein erträgliches Erwachen aus dem Kriegstrauma schon im Keim erstickt.

Keine Chance, im Gegenteil, der Aufruf an alle Männer von 16 bis 60 zum „Volkssturm“ einzurücken, um in dieser Organisation bis zum letzten Atemzug – nach dem Slogan Sieg oder Tod – zu kämpfen, leitete den drohenden Untergang ein.

Fliegeralarm zwang auch die Bevölkerung von Wien in die „Schutzräume“. Ob diese Katakomben wirklich schützten, darüber stritten sich bisweilen Kurt und Mutter.

Während er auf dem Abstieg bestand, verweigerte sie sich schon mal – und blieb einfach in ihren 4 Wänden unter dem Dachboden.

Eines Sonntags in diesem Vorfrühlingsmonat, verhieß die Sonne ein besonders schönes Wetter, das zum Aufatmen nach der langen Wintertrübnis verleitete.

Mutter bereitete gerade das Mittagessen zu. Am weit geöffneten Küchenfenster vereinte sich der anregende milde Wind von draußen, mit den Düften, die aus den Kochtöpfen strömten, zu einer Appetit anregenden Melange.

Da, verdammt noch mal… .heulte wieder die verhasste Sirene.

Mutter überlegte… sollte sie oben ausharren, um die Mahlzeit zu vollenden, oder… ?

Aus irgendeinem Grund entschied sie sich diesmal für „unten“, drehte den Herd aus und spazierte wie die anderen ins unterirdische Verlies.

Im schummrigen Licht kauerten die 21 Familien des Mietblocks dicht nebeneinander – allerdings handelte es sich dabei fast ausschließlich um Frauen und Kinder.

Ich schob den Kinderwagen eng an mich heran und war froh, dass Karin unter dem aufgeklappten Dach ihren Mittagsschlaf hielt.

Ein kleiner, etwas älterer Junge weinte und hustete dagegen jämmerlich am Arm der Mutter, die ihn vergeblich zu beruhigen suchte.

Schon nach wenigen Minuten, nachdem sich alle in dem viel zu kleinen Raum installiert hatten, ward aus der Ferne, anschwellender Lärm hörbar… wurde stärker… immer stärker…

Dann, in Sekundenschnelle, donnerte ein Geschwader von Flugzeugen direkt auf uns zu.

Fast im gleichen Moment erschütterte ein fürchterlicher Krach das ganze Haus. Die Kellerwände erzitterten, von der Decke rieselte Staub auf uns hier Versammelte, die wir uns nicht zu bewegen wagten und geduckt, ohne Worte in atemloser Angst, den Horror zu überstehen hofften.

Instinktiv hatte ich mich schützend über den Kinderwagen gebeugt und uns allen war klar, diesmal hatte eine Bombe unsere Behausung getroffen.

Würde das Gewölbe halten?

Waren wir verschüttet?

Immerhin wir lebten und niemand schien verletzt.

Sekunden oder Minuten herrschte regungsloses Schweigen.

Dann… ein Aufatmen, der Ohren betäubende Lärm wurde dumpfer, klang nach abziehenden Maschinen… .

Die Decke hatte standgehalten, aber was war mit den Wohnungen oberhalb?

Nach weiteren bangen Minuten folgte die Entwarnung…

Keiner wusste nach diesem gespenstischem Spuk was wirklich passiert war, wie schwer das Geschoß das Gebäude getroffen hatte.

Kurt wagte sich zusammen mit dem etwas widerwilligen, böhmischen Hausmeister, der sein Domizil im Parterre hatte, hinauf ins Treppenhaus.

Vorsichtig, zögernd – es könnte jeden Augenblick etwas einstürzen – stiegen sie Etage um Etage aufwärts. Unsere beiden Wohnungen lagen immerhin auf höchstem und daher für Luftangriffe, gefährlichstem Niveau.

Doch alles schien in Ordnung zu sein.

Kein Schaden… ?

Nicht ganz, denn da klaffte ein riesiges Loch genau oberhalb unseres Stockwerks, am Aufgang zum Hängeboden der Mieter. Hier hatte die Bombe das Dach durchgeschlagen und die Stiegen, die hinauf führten, zertrümmert.

Gott sei Dank, nur ein minimales Malheur und alle Parteien konnten in ihre Wohnungen zurückkehren.

Wir waren diesmal glimpflich davongekommen…

In den folgenden Tagen und Wochen fielen viele ehrwürdige Städte dem Terror aus der Luft zum Opfer. Auch Wien erlitt an seinen schönsten Gebäuden, wie dem erhabenen Stephansdom und der berühmten Oper schwere Blessuren.

Unaufhaltsam rückte Russlands Rote Armee nach Westen vor, trampelte alles nieder, was sich ihr entgegen stellte und trieb die Trecks tausender Flüchtender aus den Ostgebieten, vor sich her. Keiner fragte, ob denn diese armen Geschöpfe, von denen viele den qualvollen Trip nicht überstehen würden, wirklich mit Ihrem Führer, der sich indessen in seinem Bunker in Berlin verschanzt hatte, untergehen wollten.

Bald duftete die Natur wieder nach Frühling, an den Bäumen sprossen zart und jungfräulich die Knospen.

Der April gab sich diesmal ebenfalls sanft und mild, als wollte er Trost spenden all` den Leidenden und Verzweifelten und all´ dem, was Menschen so sinnlos einander antun.

In Budapest, der schönen Schwesterstadt an der gar nicht so blauen Donau, wurde bereits erbittert gekämpft.

„Als nächstes ist Wien dran“, prophezeite Kurt, als die Nachricht von der „heldenhaften Verteidigung“ dieser Metropole über den Rundfunk tönte.

„Das halte ich nicht aus, nein…“ jammerte Mutter bei dem Gedanken, dass bald auch in unserer Stadt geschossen und getötet werden würde. „das darf nicht sein, sie werden Wien verschonen!“

„Sie werden es nicht und wir werden es aushalten müssen…“ Kurt machte eine Pause…“und wir werden dabei überleben“, fügte er überzeugt hinzu.

Wenige Tage später wäre allerdings der so positiv eingestimmte Kurt, kurz vor dem endgültigen Kollaps selbst noch ein Opfer der Nazis geworden.

Eine unvorsichtige Bemerkung – Mundhalten um der Klugheit willen, gehörte halt nun mal nicht zu seinen Stärken – im Beisein des allgewaltigen Einkaufchefs, der seine beruflichen Fähigkeiten durchaus schätzte – war Ursache, um ihn gnadenlos der Gestapo ausliefern zu wollen.

„Soweit sind wir mit unserer Politik gekommen, dass die Russen vor Wien stehen“, hatte er seinem Ärger über die hoffnungslose Lage, Luft gemacht.

Eiskalt, ja, hasserfüllt blitzten ihm in diesen Moment die Augen des Mannes an, für den er stets pflichtbewusst gearbeitet hatte und der nun kaltblütig zum Telefon griff, um den Verräter, den Kollaborateur anzuzeigen.

Kritik an der Regierung, das war Landesverrat!

Kollegen, die Zeugen/p der staatsfeindlichen Äußerung geworden waren, beschwörten den Chef doch mit Rücksicht auf die Familie, das kleine Kind, Abstand von einer Verhaftung zu nehmen.

Doch was zählte in diesen Zeiten, wo sowieso der Tod überall umging, eine Familie…

Zum Glück gelang es den eindringlichen Bitten seiner Kollegen in letzter Minute, den Vorgesetzten zum Zurücklegen des Hörers in die Gabel, zu bewegen.

Wieder einmal davongekommen…

Ostern stand vor der Tür und viele der Fremdarbeiter – wie man die Zwangsverpflichtete nannte – traten ihren, ihnen zustehenden Heimaturlaub an.

Für Kurt und jeden Menschen mit klarem Verstand war klar, dass es sich nur noch um wenige Wochen oder Tage handeln konnte, bis der totale Zusammenbruch erfolgte.

Verstohlen und höchst vorsichtig bedeutete er den Urlaubsanwärtern, nach den Feiertagen nicht nach Deutschland zurück zu kehren … Ob sie es machen würden, war ungewiss. Die Knute der Partei schlug unbarmherzig zu und niemand konnte vorhersagen, zu welchem Zeitpunkt das Ende stattfand.

Kaum war das Osterfest vorbei, da begann auch schon der Sturm auf Wien, auf die Stadt die soviel Höhen und Tiefen, soviel Freude und Glück, aber auch Not und Leid in ihrer langen Geschichte als kaiserliches Weltreich und auch als Mittler zwischen Ost und West erlebt und erlitten hatte.

Eine Stadt voll Musik, voll Sehnsucht nach dem Paradies und dem Wissen, dass es dieses auf unserem Planeten nicht gibt.

Draußen in Gärten und Wiesen blühte verheißungsvoll der Frühling, während in den Außenbezirken die ersten Kolonnen der fremden Macht, auf die Metropole feuerten, die ohnehin schon aus vielen Wunden blutete: Franz Josefs Ringstraßenherrlichkeit lädiert … ,

das Burgtheater, die Oper, schwer verletzt… ., das Wahrzeichen „Steffel“ arg verstümmelt…

seine stolze „Pummerin“ zerborsten, stumm, trostlos, ohne Klang…

Das Gebäude der siebenjährigen Nazi-Herrschaft, dem als „Drittes Reich“ eine tausend Jahre währende Dauer, prophezeit worden war, begann ächzend und krachend von den Bomben und Granaten der Alliierten zertrümmert… einzustürzen… .

In diesen dramatischen Tagen spielte sich das Leben unserer Familie buchstäblich zwischen dem 4.Stockwerk, dem Erdgeschoss – wo ich tagsüber mit Karin, bei zwei älteren Damen Unterschlupf gefunden hatte – und dem Keller ab.

Als gedämpfte, aber schaurige Begleitmusik untermalten die Feuergarben von Angreifern und Verteidigern unsere mühsam aufrecht erhaltene Alltagstätigkeit.

Oft fragte ich mich vor dem Gitterbettchen von Karin bangend und zweifelnd…“werden wir wirklich überleben, wie Kurt überzeugt war… werden wir die Katastrophe überstehen und unser Kind in die Zukunft begleiten können?“

Gab es überhaupt eine Zukunft?

Wer wusste es, wer wusste es…

Es kam ein Tag in der zweiten Hälfte April – das genaue Kalenderdatum war längst unwichtig, illusorisch geworden, da stürmte Mutter, die sich immer mal wieder hinaus auf die Strasse stahl, mit den aufgeregten Worten…“sie sind schon da, sie sind schon da“… ins Haus zurück.

Also waren die Russen nun mit ihren Panzern auch in die inneren Bezirke eingedrungen und blitzschnell wie einst die roten Hakenkreuzfahnen, wehten nun im Frühlingswind weiße Leintücher aus den Fenstern der Häuser.

Und wie damals den braunen Brigaden, jubelte man jetzt den roten Truppen, als Befreier zu.

Es war die Elite, die Offiziere, die als erste durch den Stadtkern rollten und der Bevölkerung zwar ein sieghaftes, aber freundliches Gesicht zuwandten.

Kurt, zutiefst von der zwar erwarteten, aber erschütternden, endgültigen Niederlage der Heimat geschockt, herrschte Mutter an: „Kein Grund zur Begeisterung, nur eine Schmach, eine Schande, dass es soweit kommen musste, dass ein Volk so ins Verderben hinein manövriert worden ist, dass es nun elendiglich niedergezwungen werden musste… Eine mehr oder weniger ehrenvolle Kapitulation ja… aber dieses von einem Wahnsinnigen irre geführte, im Stich gelassene Deutschland, nun hilflos dem Chaos ausgeliefert… .nein das ist kein Grund zur Freude!“

„Es ist ja nur, weil endlich der Krieg zu Ende ist“, verteidigte Mutter ihre Euphorie. „Begreift ihr denn nicht… der Krieg ist endlich zu Ende!“

Wir begriffen erst einmal gar nichst… nur, dass eine fremde Macht jetzt statt der Nazis auf dem Boden unserer Stadt das Kommando führen würde und welche Konsequenzen, welche Gefahren das mit sich bringen könnte, davon hatte niemand die leiseste Ahnung.

Von einem auf den anderen Tag hatte sich die Welt radikal verändert.

Hatte ich gestern noch meine Ration Milch erhalten, gab es heute erst einmal gar nichts.

Keinen Strom, kein Wasser floss aus den Hähnen, kein Gas, um warmes Essen zu bereiten… totale Anarchie hatte die diktatorische Ordnung der Nazis abgelöst.

Es herrschte absolute Stunde Null… und nach der Schmach des ersten Weltkrieges, hatte nun ein noch viel verheerender Zusammenbruch die Nachkommen des einstigen Kaiserreiches in die Knie gezwungen und jeder einzelne war genötigt, diesen Fall ins Uferlose irgendwie zu überstehen.

Da nunmehr auch das Erdgeschoss nicht mehr sicher genug erschien, durfte vor allem ich nicht in einer Wohnung bleiben… In Windeseile hatte sich die Nachricht von Übergriffen in den Außenbezirken, als Warnung ins Zentrum verbreitet. Eine der schlimmsten Folgen des Einmarsches der Roten Armee, waren Vergewaltigungen von Frauen, sie mussten wie eh und je die Zeche für mörderische Kriege zahlen.

Als Konsequenz dieser schändlichen Entwicklung, zog ich nunmehr ins winzige Geviert unseres abgeschlossenen Kohlenreviers, das jedem Mieter als private Mini-Kammer in den unterirdischen Gängen, zustand.

Mehr sitzend als liegend, verbrachte ich die nächsten Nächte auf einem ausgedienten Sofa.

Und auch später, als die schlimmsten Ausschreitungen abgeklungen waren, drangen immer wieder Hilferufe von als Freiwild und Beute einer siegreichen Armee missbrauchten Frauen durch die lauen Nächte.

Kurt, bis gestern noch beruflich ausgelastet, befand sich im Heute, ebenfalls in einer anderen Welt, die ihre Ziele und Forderungen noch nicht preisgegeben hatte.

Der große Krieg war zumindest in Österreich zu Ende, aber der Zwang und Kampf sich in einem zerstörten Milieu ohne Konzept zu behaupten, der begann erst.

Kurt, als einziger, tatkräftiger Mann im Haus Nr. 15 fühlte sich vor allem für die Sicherheit der gefährdeten, weiblichen Mieter verpflichtet und versuchte den Hausmeister zu einer hölzernen Barrikade am Eingangstor zu überreden.

Der war zwar völlig desinteressiert… seiner alten böhmischen Mutter und ihm konnte nicht viel passieren und nach dem ganzen Trara wollte er seine Ruhe haben.

Doch Kurt ließ nicht locker, der Hauseingang musste im Interesse aller Bewohner mit Brettern vor eindringenden Plünderern verrammelt werden.

Mutter plagte vor allem die Sorge um Wasserbeschaffung. Da es im Haus keines gab, blieb nur der Weg zum Hydranten, der sich wenige Meter entfernt an der Straßenecke befand.

Mit 2 Eimern ausgerüstet, machte sie sich auf den Weg, um das lebensnotwendige Nass zu beschaffen.

Kurz vor dem Wasserspender lag ein toter Mensch, irgendein Unbekannter, wahrscheinlich von einer Kugel von irgendwoher, getroffen.

Nur schnell vorbei, hieß es jetzt, bevor einem selbst eine verirrtes Geschoss durchbohrte, Es gab so viele in diesem letzten Gefecht Dahingemetzelte, da blieb keine Zeit sich um einen von ihnen zu kümmern, zumal er ohnedies nicht mehr gerettet werden konnte.

In höchster Eile füllte Mutter ihre Kübel und schleppte aufatmend den schwabbelnden Inhalt nach Hause. Nie war Wasser so kostbar.

Die Nahrung reichte zum Glück für die nächsten Tage und Karin bezog sie noch direkt von mir.

Als nächste Vorsichtsmaßnahme wurde beschlossen, das Klavier vom eigenen Wohnzimmer wieder zurück in mein Jugendquartier zu übersiedeln.

Vater galt immerhin als von den Nazis Geschädigter, während Kurt und seine Familie ebenfalls als Freiwild behandelt werden könnten. Auch ich sollte mich nach der unfreiwilligen Kellerpartie samt Karin dem Schutz der eingesessenen „neuen“ Österreicher anvertrauen. Kurt traute sich zu, die erst vor einigen Monaten eingeweihte, eigene Wohnung im Notfall allein zu verteidigen. Mit Rücksicht auf den Schwiegervater und hilfreicher Initiative würde man den „Reing´schmeckten“ als männlichen Beschützer des Hauses, kaum provozieren.

Das Blatt hatte sich schlagartig gewendet.

Die bejubelten Nachbarn waren nun für die heimische Bevölkerung zur einzig schuldigen Ursache des Kriegs- und Nazidramas geworden – vielleicht auch um das eigene Mitwirken daran zu vertuschen.

Nach ein paar weiteren Tagen – zwar peitschten immer noch da und dort Schüsse durch die Straßen, tauchte das Gerücht auf, am nahen Franz Josef-Bahnhof würden von den Russen Erbsen an die Einwohner verteilt.

Sofort machten sich Kurt und Vater auf den Weg.

Tatsächlich ergatterten sie je einen Beutel der nahrhaften Hülsenfrüchte und traten stolz den Heimweg an. Da ballerte unerwartet eine Gewehrsalve durch die Luft.

Kurt packte geistesgegenwärtig Vater an den Schultern und zerrte ihn in die nächste Hauseinfahrt.

Am nächsten Tag mussten wir enttäuscht feststellen, dass ihre Ausbeute samt und sonders verwurmt war.

Nach vollendeter Bretterbarriere im Haus Nr. 15 durfte ich endlich wieder nach oben und in das Bett in meinem ehemaligen Kabinett umziehen.

In anderen Teilen des deutschen Reiches tobte der Krieg immer noch weiter, von dessen Verlauf wir jedoch kaum etwas erfuhren.

Wie in uralten Zeiten drangen nur durch mündliche Überlieferung einige Informationen in unser aus den Fugen geratenes Dasein. Es schien so, als ob auch die roten Sieger nicht recht wüssten, was sie nun mit dem zerstörten Land und dessen Menschen anfangen sollten.

Irgendwann, der Kalender mit seiner Tages- und Wocheneinteilung war wie gesagt, bedeutungslos geworden – es müsste schätzungsweise Anfang Mai gewesen sein – ging das Gerücht um, Hitler hätte sich in seinem Bunker mit seiner Frau, die er vorher – am gleichen Tag – geheiratet hätte, das Leben genommen.

Mit Eva Braun, seiner langjährigen Geliebten!?

Die Leute trauten ihren Ohren nicht…

Hitler und eine Geliebte?

Niemand im ganzen Reich, außer vielleicht ein paar Augenzeugen, hatten auch nur die geringste Ahnung davon gehabt, nicht einmal vage Vermutungen waren bis zum Volk durchgedrungen.

So perfekt hatte die Nazi-Maschinerie funktioniert, war eine ganze Nation hintergangen, nach eigenen Wertmustern manipuliert worden!

Nein, man wollte es einfach nicht glauben!

Was mochte da noch alles ans Tageslicht kommen, von dem man nichts wusste?

Ebenso von Mund zu Mund weiter getragen, traf auch die Kunde ein, dass das Nazi-Regime kapituliert hätte. Endgültig und bedingungslos – am 8.5.1945 mit einer Hinterlassenschaft von totaler Verwüstung, totaler Anarchie, totalem Chaos.

Auf jeden Fall war damit auch im Reich der Krieg zu Ende. Der viel gepriesene, nur dem deutschen Volk verbundene „Führer“ hatte diesem nicht nur seine Geliebte verschwiegen, sondern sich auch noch durch Selbstmord der Verantwortung entzogen. Nach dem Motto: wenn die Deutschen nicht mit mir sterben wollen, sollen sie jetzt sehen, wie sie ohne mich durchkommen.

Ein paar eiserne Durchhalteprediger, wie der plärrende Propagandaminister Goebbels mit Frau, waren dem Vorbild gefolgt und hatten sich nicht nur selbst, sondern auch ihre 6 Kinder ins Jenseits befördert.

Ein sehr unwürdiger, sehr feiger Weg, sich nach den Millionen, die sie in den Tod geschickt hatten, nun dem irdischen Gericht zu verweigern.

Durch Kurts Initiative war der Eingang zu unserem Haus recht abweisend und sperrig geworden. Die täglichen Hilfeschreie von Frauen aus Häusern der Umgebung bewiesen, dass sich nachts auf Gassen und Straßen immer wieder fremde Lüstlinge herumtrieben.

Trotz der Vorsorge passierte es doch einmal, dass einige der „Befreier“ die Holzbarriere, nach Beute Ausschau haltend, durchbrachen und im Haus ihr Unwesen trieben.

Sie polterten an verschlossene Türen, niemand öffnete… schließlich erreichten sie auch die oberste Etage.

Kurt schaltete schnell.

Ehe sie vielleicht im Zorn die Nachbarwohnung stürmten, entschloss er sich, ihnen freiwillig zu öffnen.

Mutter, Vater, ich – glücklicherweise hatte Karin einen gesunden Schlaf – waren natürlich längst von dem Tumult erwacht und verhielten uns in atemloser Angst mäuschenstill.

Deutlich hörten wir, dass vis a vis etwas los war, vernahmen Stimmen, rührten uns nicht.

Quälend langsam verstrichen Sekunden, Minuten… bis endlich die Tür gegenüber ins Schloss fiel und knarrende Schritte abwärts, das Ende der Invasion andeuteten.

Gleich darauf erschien Kurt und verkündete seinerseits die Entwarnung.

Zwar war es bei dieser unangenehmen Begegnung seine Armbanduhr los geworden – derartige Objekte schienen für die ungebetenen Gäste höchst begehrenswerte Gegenstände gewesen zu sein – aber mit Zuhilfenahme all´ seiner, ihm innewohnenden Überzeugungskraft, hatte er es geschafft, nicht nur die eigene Familie, sondern auch die übrige Einwohnerschaft vor den unerwünschten Besuchern zu bewahren.

Er hatte einfach behauptet, dieses Haus sei so gut wie leer, da alle Mieter, insbesondere die Frauen und Kinder vor den Kämpfen auf Lands geflüchtet wären.

Wann und wie sich die Zukunft des vom deutschen Reich „okkupierten“ Anhängsel „Ostmark“ gestalten würde, stand in den Sternen.

Inoffiziell hieß es für die Bewohner bereits wieder Österreich.

Diverse politische Richtungen und Gruppen formierten sich und spekulierten auf die Macht im Land. Auch an Vater, als von den Nazis kalt gestellter Mitbürger, ging die Aufforderung an der Bildung des neuen Staates mitzuwirken… Ohne Hoffnung auf eine brauchbare Perspektive folgte er dem Ruf, lediglich um zu erkunden, ob Konzepte dafür vorhanden wären. Nur einen Tag lang…

Deprimiert winkte er ab, als Mutter ihn darnach befragte: „Jetzt versuchen die Kommunisten sich ans Ruder zu putschen! Ein Pack, das genauso wenig taugt, wie die Nazis.

Für ihn war damit endgültig klar: Nie mehr würde er seine Polizeiuniform tragen. Ebenso sicher war er jedoch, dass dieser Staat eines Tages aus Hitlers Asche auferstehen würde – ohne Kommunisten.

Drei Wochen nach den Kämpfen wurde mir gestattet, erstmals das Haus zu verlassen.

Endlich frische Luft, freute ich mich und spazierte mit Mutter in Richtung von Onkels Schrebergärtlein.

Niemals zuvor hatte ich das köstliche, milde Maiklima mit solch´ bewusster Intensität eingeatmet, wie nach den Wochen des Eingesperrtseins in Betonmauern.

Auch Karin strampelte fröhlich im Kinderwagen, dem sie nun bald entwachsen sein würde und die Planungen für ein luftigeres Gefährt hatten bereits begonnen. Neugierig begann sie sich derweil in dem eng gewordenen Bett aufzurichten, um endlich die Welt ringsum ins Visier zu nehmen.

Die Bäume, die die Straßen des Villenviertels „Cottage“ säumten, hatten sich mit ihrem duftigsten, hell leuchtenden Grün geschmückt.

Welch´ eine Wonne, welch´ ein Wunder präsentierte uns doch wieder die sich zu voller Pracht entfaltende Natur – allen menschlichen Unsinnigkeiten zum Trotz…

Plötzlich näherten sich Schritte und ein auf uns zukommender, russischer Soldat war zu erkennen.

Ich erschrak – einer von den Besatzern, bei denen niemand wusste, was sie gerade im Sinn hatten. Ich hoffte inständig, er würde uns ungeschoren unseres Weges ziehen lassen.

Aber nein… er nahm spontan das Lenkrad von Karins Wagen in seine Hände und schob ihn die leicht ansteigende Straße empor.

Ich wagte keinen Einspruch, auch Mutter konnte zunächst nichts anderes tun, als mit mir neben dem Fremden einherzugehen. Noch zeigte er ja keinerlei schlechte Absichten, lächelte im Gegenteil dem kleinen Mädchen im Gefährt, freundlich zu.

Nach längerem, für uns beklemmenden Schweigen, versuchte er in für uns unverständlicher Sprache und durch Gesten und Handzeichen zu erklären, dass er auch 1, 2, nein 3 Kinder und eine Frau zu Hause hätte. Die Größe des Nachwuchses verdeutlichte er uns präzise abgestuft, von unten nach oben.

Also ein Familienvater, der wie die Deutschen in einem weit entfernten Land, in den Krieg gezwungen wurde.

Als wir ostentativ vor Onkels Gartentor anhielten, gab der Soldat den Wagen samt kostbaren Inhalt mit einem leutseligen Gruß und wie es schien, etwas wehmütig, an mich zurück.

„Na also, auch unter den Russen gibt’s anständige Leut´“ stellte Mutter, die sowieso zu gläubigem Optimismus hinsichtlich der Menschheit neigte, befriedigt fest.

„Gott sei Dank“, atmete ich erleichtert auf und umklammerte mit festem Griff das Steuer der Mini-Kutsche.

Für Kurt, dessen Aktivitäten in den letzten Wochen sich ausschließlich aufs nackte Überleben konzentrierten, schlichen sich nun die ersten quälenden Gedanken ein, an das, was nach dem Kollaps werden sollte oder könnte.

Das deutsche Reich gab es nicht mehr, die angestrebte und vielleicht bald entstehende Republik Österreich war mit unangenehmen Kinderkrankheiten infiziert und würde ihn als einen von „Drüben“ kaum akzeptieren.

Eine Rückkehr ins zerbombte Berlin war aus verkehrstechnischen Gründen unmöglich und wäre auch unter den derzeitigen Zuständen weder mir noch dem Kind zumutbar gewesen.

Von seinen Eltern, die im Zuge der Flüchtlingswelle, Schlesien verlassen mussten, fehlte jede Spur.

Wo waren sie?

Hatten sie überlebt?

Noch zählte nichts anderes, als selbst über die Runden zu kommen. Unsere Familie hatte immerhin ein Dach über dem Kopf – ein Volltreffer des Glücks in dieser Zeit.

Alles Streben galt momentan in erster Linie der Nahrungsbeschaffung, die von Tag zu Tag prekärer wurde.

Die zögerlich einsetzenden Zuteilungen waren so lächerlich mickrig, dass das daraus zu ziehende Motto nur lauten konnte: Hilf´ dir irgendwie selbst!

Aber wie und wo?

In der Stadt etwas Essbares aufzutreiben war illusorisch, alle nagten hier am Hungertuch. Blieb nur das Umland…

Doch wie dahin kommen? Es fuhren weder Busse noch Züge. Das gesamte Verkehrsnetz war lahm gelegt. Und die 30 km zum heimatlichen Dorf und wieder zurück zu Fuß, das traute sich Mutter, da größere Wanderungen ohnehin nie zu ihren Ambitionen gehörten, nicht zu.

Gott sei Dank funktionierte das mündliche Nachrichtensystem präzise und blitzschnell und das verkündete eines Tages die frohe Botschaft einer Nahrungsquelle – allerdings in flüssiger Form!

Nur 20 Minuten entfernt, würde im Nobelbezirk Döbling Wein aus prall gefüllten Fässern sprudeln und deren Inhalt ergösse sich in Strömen die Straße entlang, hieß es… .

Die riesige Weinkellerei sei von den Russen entdeckt und erbrochen worden!

Dass dort enorme Vorräte lagerten, auch davon hatte die Bevölkerung keinerlei Kenntnis.

Sofort machte sich Mutter mit einer Nachbarin, die ihr die Kunde übermittelt hatte, auf den Weg, um zu sehen, was dort los sei.

Noch ehe die beiden Frauen das große Gebäude erreicht hatten, stieg ihnen der aromatische Geruch der verführerischen Flüssigkeit in die Nase, die befreit glucksend, im Rinnstein der Straße abwärts plätscherte.

An diesem Abend brachten Mutter und deren Begleiterin nur ein paar Flaschen aus den schier unzählbaren Regalen, in denen die edelsten Tropfen ruhten, nach Hause. Gerade so viele, wie jede zu tragen vermochte.

Schätze, die die fremden Besatzer oder Befreier, wie man sie je nach Geschmack nennen will, erspäht und in Besitz genommen hatten.

Angesichts der unerschöpflichen, unfassbaren Kellervorräte, begegneten die Soldaten den paar hungrigen und durstigen Einwohnern, die sich hier eingefunden hatten, freundlich und fragten sie bei jeder Flasche um Rat.

Ist diese hier „dobre“, hielt einer von ihnen Mutter das Etikett einer verstaubten Boutille unter die Nase. Offenbar wollte man wissen, was die erlesene Beute tatsächlich wert war und nur das Beste davon mitnehmen. Und die Auswahl war enorm!

Mutter, die zwar so wenig Ahnung von der Güte eines Weines wie ein Papagei von den Koleraturpartien einer Opernarie hatte, war sich voll des zu erwartenden Beratungslohnes bewusst und bewertete überzeugend die Qualität der vorgezeigten Flaschen.

Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, schüttelte sie auch ab und zu den Kopf, während sie beliebig andere mit einem „dobre“ lobte.

Und die Soldaten, denen vermutlich noch nie ein solches Schlaraffenland an berauschender Flüssigkeit in die Hände gefallen war, spendeten wohlwollend als Dankeschön den „Mammis“ für die Beratung, eine entsprechende Ration aus dem unerschöpflichen Reservoir.

Mir ihrer Errungenschaft zu Hause angekommen, erzählte Mutter von den unglaublichen Begebenheiten, von den zahllosen angestochenen Fässern, aus denen sich nun das sorgsam gehegte Nass einen Weg hinaus in die Straße der Freiheit bahnte und forderte damit den Zorn und die Wut von Kurt heraus.

„So haben sie uns betrogen…“ empörte er sich, „während wir nur bei besonderen Gelegenheiten Wein konsumieren durften, lagern Millionen von Litern und Abertausende Flaschen in den Kellereien“, brauste er entrüstet auf und hätte am liebsten als Draufgabe gleich eine von Mutters geschenkter Gabe, zertrümmert.

„… .und rinnen jetzt tagelang die Straße hinunter“, stachelte sie seinen Ärger noch auf. „Aber Morgen Nachmittag, da nehme ich Karins Badewanne und lass´ so viel Wein wie möglich von den aufgebrochenen Fässern, in sie hineinlaufen. Zu zweit können wir sie tragen…

„Das wirst Du schön bleiben lassen,“ fuhr Kurt sie an. „Bist Du verrückt. Ihr seid Frauen und daher besonders gefährdet. „Wenn, dann komme ich mit!“ Bei aller Wut, die Aussicht auf die flüssigen Genüsse dämpften seine Erregung ein wenig.

„Kommt nicht in Frage“, widersprach jetzt Mutter. Wir Frauen tarnen uns mit Kopftüchern als alte Jungfern, für uns interessieren die sich nicht… Und es ist Mai, da bleibt´s lange hell. Auch sind sie um diese Zeit noch nicht besoffen! Du als Mann, noch dazu als Ausländer, bist da viel mehr in Gefahr. Gegenüber alten Frauen sind sie kulant.“

Das glaubst Du.., aber es sind auch schon über 70-jährige vergewaltigt worden…

„Ich habe keine Angst, der Krieg ist endlich zu Ende… !“

„Aber nicht seine Auswirkungen,“ warnte Kurt nochmals, allerdings vergeblich.

Am nächsten späten Nachmittag marschierte Mutter mit Nachbarin und Karins nierenförmigen Waschgefäß, Richtung Döbling, wo schon von weitem sichtbar, sich der Strom rötlicher Flüssigkeit unaufhaltsam abwärts bewegte.

Wie sie im Labyrinth der Kellerei feststellen konnten, waren neue Fässer wahllos angestochen worden, die weiteren Mengen Wein, freien Lauf gewährten.

So schnell wie möglich hielt Mutter ihre Wanne unter eines der Löcher – die Begleiterin begnügte sich mit einem Eimer – und mit schwabbelnder Ausbeute kehrte sie wohlbehalten nach Hause zurück.

Eine köstliche Labe ernährte die nächsten Tage und Wochen unsere Familie, die außerdem die Stimmung verbesserte und half die missliche Situation zu überwinden.

Nach einiger Zeit wurde der Trip ins bäuerliche Hinterland für Mutter trotzdem unaufschiebbar.

Die Gerüchteküche hatte eine weitere Meldung unters Volk gebracht.

Russische Lastwagen würden regelmäßig von der Stadt ins Umland fahren und dabei auch Zivilisten mitnehmen.

Eine Gelegenheit, die unbedingt genutzt werden musste.

Kurt, der jetzt keinerlei Staatsbürgerschaft besaß und als „feindlicher“ Ausländer galt, bestand darauf, sie zu begleiten.

Die beiden hatten in ihrem Engagement und Ehrgeiz zwar immer wieder einmal Querelen miteinander auszufechten, was besonders meine Nerven strapazierte, aber wenn es darauf ankam, etwas zu wagen, hielten sie in einer Art uneingestandener Hassliebe, ehern zusammen.

Mutter packte Bettwäsche und sonstiges, nicht unbedingt benötigte Utensil in eine Tasche und gemeinsam pilgerten sie zu der Stelle, an der die russischen Lastwagen aufs Land hinaus ausschwärmen sollten.

Sie hatten Glück, es dauerte nicht lange und schon war einer davon in Sicht.

Die Fahrer hielten ihre Lkws nicht an, verlangsamten aber das Tempo derart, dass Bürger, die mitfahren wollten, aufsitzen konnten.

Kurt hievte zuerst Mutter, dann sich selbst neben einige andere „Hamsterer“ auf die geräumige Ladefläche hinauf.

Mutter kannte die Gegend und bedeutete am richtigen Wegesrand ihren Wusch zum Aussteigen, wobei man auf die gleiche Weise absprang.

Zu Fuß drangen die Beiden weiter ins Dorf vor.

Der Bauernhof, den Mutters Patentante bewirtschaftete, wirkte wie immer ziemlich verschlampt. Mit kaum verhohlener Genugtung über die veränderten Verhältnisse empfing man die Stadtleute. Endlich konnten die Bauern über sie triumphieren… man wusste natürlich, dass die jetzt arg hungerten und forderte für die hauseigenen Produkte entsprechend gepfefferte Gegenwerte. Damit hatten sie jetzt das Sagen und nutzten die Gunst der Stunde.

Davor schützte auch keine Patenschaft!

Mutter, gewiss nicht unbegabt bei Tauschgeschäften, konnte für ihre gute Leinenware nicht mehr als einen großen Eimer Schweinefett herausholen, der irgendwo heimlich vor den Behörden vergraben gewesen und daher bereits ranzig war. Immerhin enthielt er genug Schmirgel für den täglichen Fettbedarf.

Kurt, der Zu´graste, hatte bei dem Handel, sehr zu seinem Ärger, überhaupt nichts zu melden.

Gleichwohl waren damit die Mahlzeiten für ein paar Wochen gesichert und man machte sich auf der hölzernen Plattform eines der russischen Lkws mehr oder weniger zufrieden, wieder auf den Rückweg.

Nach fast 8 Monaten floss meine Milchquelle zunehmend spärlicher und war für den Bedarf von Karin unzureichend.

Zudem schien diese ihrerseits, von dem täglichen Einerlei die Nase voll zu haben und verweigerte trotz raffinierter Tricks immer häufiger mein Trinkgefäß.

Ein Ersatz musste gefunden werden…

Dank dem unwiderstehlichen Drang zur Vermehrung hatte Mutters Vater, ihr nicht nur 12 echte Geschwister beschert, sondern er hinterließ auch noch 3 Kinder seiner ersten, verstorbenen Frau und bereicherte damit die Familie durch Stiefgeschwister.

Eine davon betrieb nur eine halbe Wegstunde entfernt, einen der typischen „Tante Emma“ -Lebensmittelladen.

Das Geheimnis der Effektivität dieses Geschäftes lag nicht im Laden selbst. Ihr längst ins Jenseits abgewanderter Ehegemahl hatte ihr auch ein ansehnliches zweistöckiges Haus mit einem großen Hof vermacht. Nicht ganz unüblich in der Weltstadt Wien, trennte dieses „Atrium“ manch´ ehrwürdig biederes Haus von der Außenwelt ab.

Und gar nicht weit vom, mit Prachtbauten gespickten Zentrum der Metropole weg, tummelten sich in diesen mit Kopfstein gepflasterten Geheimterritorien da und dort, Lebewesen wie Schweine und Ziegen,

Im Gegensatz zum nostalgischen Pawlatschen-Milieu, handelte es sich bei diesen Hinterhöfen oft um privilligierten Privatbesitz, der von der Obrigkeit registriert, aber anerkannt wurde.

Ein Miniatur-Landgut – abgetrennt vom Betrieb der Straßen, eine wohlhabende Elite-Gesellschaft inmitten der Stadt, in dessen versteckten Refugien immer noch ein praktischer, archäischer Alltag ablief.

Schon in den eben erst zu Ende gegangenen Nazi-Zeiten, hatte Mutter an den Arbeiten, aber auch den Erträgen dieses Reservoirs teilgehabt. Gegen Abgabe der entsprechenden Lebensmittelmarken erhielt sie nach gestrengem Regelement von dem jährlich von der Stiefschwester geschlachtetem Schwein einen Anteil. Diese Teilverpflegung lag mangels anderen Platzes als „geselchter“ Leckerbissen unter den elterlichen Betten, bis er schon bald nach Kriegsende, verbraucht war.

Neue Ferkel gab es bei der Stiefschwester nicht mehr, aber ein paar Ziegen fristeten im Hof immer noch ihr Dasein.

Da Mutter und später auch Kurt stets tatkräftig für Grünfutter aus der Umgebung für diese wahren Vielfraße gesorgt hatten, erwarteten sie in diesen Notzeiten auch eine Beteiligung am,

vom Euter der Tiere gespendeten, weißen Saft.

Aber Schwesterchen hatte ebenfalls den Trend der Zeit erkannt. Wie die Bauern am Land, hatte sie sofort begriffen, dass es jetzt galt, die wahren Werte des Lebens – Essen und Trinken – als größten Schatz zu hüten und nichts davon abzutreten. Also hockte sie wie eine gluckende Henne auf allen Agrar-Präziosen.

Mit einem Gewicht von über 100 Kilo wohlgenährt, sonnte sie sich genüsslich in ihrem Reichtum, gönnte niemand davon und hoffte ihn noch vergrößern zu können.

Großzügig spendierte sie der lieben Schwester für Karin ab und zu eine kleine Dosenmilch aus dem Laden.

Mutter, empört über den fettleibigen Geizhals, sann auf einen Weg, diesen zu überlisten.

Das Melken der Ziegen gehörte immer wieder zu ihren Hilfsdiensten, nun benützte sie es zur dringend nötigen Selbsthilfe.

Sie fertigte einen Schlauch aus Taft – als Futteral an der Unterseite verschlossen – in den genau ein kleines Fläschchen hinein passte und nähte ihn an die Innenseite ihres Rockes.

Als gerechte Strafe für habgierige Knauserei zapfte sie nun die prallen Euter der braven Tiere an und füllte klammheimlich jeden Tag zuerst ihren versteckten Behälter mit dem nahrhaften Produkt.

Den immer noch ausgiebigen Rest lieferte sie freundlich bei der ahnungslos und träge hinter der Ladentheke wartenden Stiefschwester ab.

Solcherart blieb der Schein des guten Einvernehmens gewahrt und jeder fühlte sich auf seine Art zufrieden und froh.

Auch Karin schmeckte dieser, auf hintergründige Art und Weise besorgte Ersatz, offenbar ausgezeichnet.

Doch für ein heran wachsendes Menschenkind genügte diese Kost nicht mehr.

Vitamine mussten her… Gemüse, Karotten, Spinat!

Diesbezüglich war Kurt auf Spuren gestoßen, die zu einem Mann führten, der dies alles in einem kleinen Garten außerhalb des Stadtgebietes züchtete und das, in dieser vorsommerlichen Zeit, prächtig wuchs.

Allerdings war sein pflanzliches Eldorado nur durch einen stundenlangen Fußmarsch zu erreichen, denn keine Straßenbahn und auch kein Russenauto frequentierte die Gegend.

Jede Woche einmal machte sich Kurt auf den Weg und marschierte zu dem menschenfreundlichen Zeitgenossen, der bereit war, etwas von den Vitaminspendern abzugeben und transportierte es per Rucksack nach Hause.

Oft artete dieser Trip allerdings zu einem Abenteuer aus, denn immer wieder patrouillierte russisches Militär und überprüfte Passanten auf der Straße. Kurt besaß keinerlei Ausweis. Er galt als staatenlos. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als solchen Kontrollen rechtzeitig und geschickt auszuweichen.

Wachsam wie ein Spürhund musste er die Gefahr entdecken und ihr unbemerkt entrinnen, bevor sie ihn erwischte. Rechtzeitige Flucht als Überlebenstraining!

Die Strapazen des Friedens hatten die Todesängste des Krieges abgelöst. Und noch zeigte sich kein Licht für ein verführtes, verratenes Volk, das schuldig oder nicht, dem Untergang von den Nazis preisgegeben, versuchen musste, aus Trümmern und Staub empor zu krabbeln.

Unter den allzu dürftig zugeteilten Rationen litten besonders die Männer.

Der Hunger zwang oft zu skurrilen Maßnahmen, wie die Aufbewahrung von Brot durch jeden Einzelnen, um niemand in Versuchung zu einem „mehr“ zu verleiten.

Da stellte das ranzige Fett der Patentante – der „Godel“ – zur Verarbeitung von Germknödel oder ähnlichem, direkt ein Geschenk dar.

Die Nachricht, dass unser inzwischen offiziell als Österreich proklamiertes Land unter den Alliierten in 4 Zonen geteilt und verwaltet werden sollte, weckte bei der Bevölkerung die Hoffnung auf bessere Lebensumstände.

Damit würden weitere fremde Soldaten stationiert werden: Amerikaner, Engländer, Franzosen…

Auch die Stadt Wien sollte in Distrikte eingeteilt werden und unser Haus Schubertgasse 15, würde dem amerikanischen Sektor angehören.

Außer an Nahrung wurde auch der Bedarf an Dingen des Alltags immer größer, denn nichts, rein gar nichts gab es zu kaufen.

Da entdeckten findige Ladeninhaber einen Ausweg, indem sie ihre Schaufenster, die mangels Ware in gähnender Leere keine Kunden verlocken konnten, für eine hilfreiche Tauschaktion zur Verfügung stellten.

Eine Aktion, die an Olims Zeiten erinnerte.

Sehr schnell stapelten sich nun in den Auslagen bisher oft ungenützte und achtlos in Schränken herum gammelnde Gegenstände, an denen vielleicht dieser oder jener Gefallen finden konnte.

Praktisches, aber auch oft Kurioses wechselte auf diesem Weg oft seinen Besitzer.

Alles bisher als wertlos Eingestuftes, gewann plötzlich Bedeutung für anderweitige Verwendung.

Auch ich holte meine schicken, hochhackigen Pumps aus braunem Velourleder, mit denen ich desöfteren schwerelos über Tanzflächen geglitten war, aus der Versenkung und hoffte, sie gegen ein Paar praktischer Straßentreter umtauschen zu können.

Von Kurts Eltern war endlich ein Lebenszeichen eingetroffen!

Sie hatten mit einem Flüchtlingstreck vom jetzt polnischen Schlesien zu Fuß, zwar erschöpft und ohne Habe, ihre Heimatstadt Berlin erreicht und in einem, der dem Westen zugeordneten Bezirke, eine Wohnung gefunden.

Ein Grund zum Aufatmen, denn sie hatten überlebt und nur darum ging es in diesem Jahr 1945 für jeden einzelnen.

Für Mutter trafen die ersten Nachrichten aus dem weit entfernten Amerika ein.

Die gnä´ Frau und ihre Familie, einschließlich Großmama hatten sich in der Neuen Welt etabliert… etablieren müssen…

Genau wie jetzt das alte, tief verletzte und zerfetzte Europa, sich wie Phönix aus der Asche wieder zu erheben, versuchen musste.

Mit offenen Armen wurden in der bisher nur von Russen verwalteten Donaumetropole, besonders die Amerikaner empfangen. Von diesen ehemaligen Feinden erhoffte man sich eine Verbesserung in allen Bereichen.

Dass der asiatische Kontinent durch die inzwischen neu erfundene Todeswaffe „Atombombe“ im Kriegsschauplatz Japan den ersten Einsatz erfuhr, jagte manchen Bürger kalte Schauer über den Rücken.

Wieder mussten Abertausende zivile Opfer für die Verbrechen ihrer Obrigkeit büßen. Auch in diesem Teil der Erde hatten sich Gläubige, wie die „Kamakaze-Kämpfer“ freiwillig für die Ideen der Vorgesetzten geopfert, hatten sich wissend um den sicheren Tod, auf die vor der Insel gelagerten US-Flugzeugträger gestürzt, ohne diese vernichten zu können. Sinnloses Sterben… auch dort. Aus ihren Gebeinen wurden Andenken für die amerikanischen Militärs gefertigt… .!

Die Grausamkeit des Krieges kennt keine Moral.

Als in Nürnberg im November die Prozesse gegen die Zentralfiguren des Nazi-Regimes begannen, lösten die dabei von den Siegermächten verbreiteten angeblichen Wahrheiten bei der Bevölkerung blankes Entsetzen aus.

Nur ein geringer Teil der Steigbügelhalter Hitlers konnte gefasst und vor Gericht gestellt werden, in dem ein ganzes Volk mitangeklagt schien.

Viele der Mittäter hatten längst, schlau und clever wie sie waren, ihre braune Weste gewendet und mit dem Weiß der Unschuld gebleicht oder waren nach irgendwohin entwischt.

Vernichtungsmaschinerien hätten in den Konzentrationslagern millionenfach Juden und andere unerwünschte Personen kaltblütig ins Jenseits befördert, hieß es da… Massenhaft Leichenfunde würden es beweisen… Umgebracht in Gaskammern…

Das was man bei diesen Prozessen zu hören bekam, das durfte, konnte einfach nicht wahr sein… Man wehrte sich etwas als „wahr“ zu akzeptieren, was unvorstellbar schien – die systematische Tötung von Menschen…

Massenmord nicht nur an der Front, sondern mitten in der Heimat, unter den Augen der Bevölkerung. Denn es musste Mitwisser gegeben haben und niemand wollte akzeptieren, dass der Völkermord dank eines dichtmaschigen Geheimnetzes dem Großteil der Bevölkerung verborgen geblieben war. Hermetisch von der übrigen Welt abgeschottet waren, Nachrichten über derartige Gräueltaten höchstens als vage Gerüchte unter das vom Krieg gepeinigte Volk gesickert. Trotzdem hatte es nun die Zeche für undenkbare Verbrechen mit zu tragen.

Dass Antisemitismus in Deutschland und auch Österreich bereits vor Hitler unterschwellig vertreten war, konnte nicht geleugnet werden. Es gab zum Beispiel seit 1894 die Partei der „Alldeutschen“, die den aggressiven Nationalismus predigte. Und sogar der österreichischen Kaiserin Maria Theresia wurde nachgesagt, sie sei auf Juden nicht gut zu sprechen gewesen.

Doch der Plan, Menschen wegen ihrer Rassenzugehörigkeit zu töten, konnte nur in satanischen Gehirnen entstehen.

„War Hitler als Hauptschuldiger an dem ganzen Unglück auch der Alleinschuldige?“ überlegte ich eines Vormittags, als wir mit Karin einen Spaziergang zum Türkenschanzpark unternahmen.

„Wie werden ihn die, die nach uns kommen und diese Zeit nicht erlebt haben, einstufen?

Als fanatischen Narren,, als Germaniens Erneuerer, der von bösen Feinden besiegt wurde, als despotischen, größenwahnsinnigen Träumer oder gar Teufel?“ überlegte ich.

„Jeder Belzebub braucht eine Gefolgschaft!“ spann Kurt den Gesprächsfaden weiter, „immerhin hatte er am Anfang die Rolle des Erzengels glaubhaft gespielt. Da fiel es nicht schwer eine Anhängerschaft um sich zu versammeln. Dann haben viele am Drehbuch zur Tragödie mit geschrieben!“

„Dass sein Experiment in einer solchen enden würde, war den meisten nicht klar“, versuchte ich das Unfassbare dieser Entwicklung zu verstehen.

„Überall gab es Kreise, die den Juden mit Skepsis begegneten. „Der Schwiegersohn von Richard Wagner, wo Hitler später aus und ein ging, war der Engländer Chamberlain – ein angesehener Kulturphilosoph und Schriftsteller und… unleugbar, ein Antisemit!“

„Stimmt“, unterbrach ich Kurt und erinnerte mich an ein Buch von ihm, das ich vor Jahren gelesen hatte. In seinem Werk „Mensch und Gott“ kam seine Abneigung gegen das Alte Testament und das Judentum deutlich zum Ausdruck! Und Richard Wagner selbst“, erschrak ich…

„Niemand wird den berühmten Meister, der so viele Juden als Verehrer seiner heroischen Opern hatte, ernstlich als Antisemit verdächtigen. Und selbst, wenn er in diese Richtung tendiert hätte… Hitlers Lösung des Problems, die wir entsetzt zur Kenntnis nehmen müssen,

wäre ihm als verdammte Absurdität erschienen.“

Am Weihnachtsabend des Katastrophenjahres 1945, in dem so manches Leben von Kindern und alten Leuten durch Hunger ausgelöscht worden war, erklangen nach Jahren endlich Glocken des Friedens, aber ihr Ton litt an chronischer Heiserkeit und auch die „Pummerin“, Wiens stolzestes Geläute, hatte ihren ehrwürdigen Klang den letzten Phasen eines unehrwürdigen Krieges opfern müssen. Sie schwieg…

Wo blieben also die Glocken, die eine neue, bessere Zukunft einläuteten?

Sie waren noch nicht gegossen…

Noch längst war die Vergangenheit nicht bewältigt, der unerbittliche Kampf gegen den Hunger tobte weiter.

Auch das Jahr 1946 brachte für Kurt und mich nur ratlose Ungewissheit.

Die ersten Repatriierungszüge ins zerschossene deutsche Reich wurden jetzt zwar organisiert, würden aber für uns eine Fahrt in ein unkalkulierbares Abenteuer bedeuten.

So stand also unser Entschluss fest: Wir bleiben in Österreich!

Außerdem käme Kurt für einen attraktiven beruflichen Anfang in seiner Heimat bereits zu spät… alles was an deutscher Präsenz in Österreich agierte, hatte sich längst auf irgendwelchen Wegen nach Deutschland abgesetzt und auf einträgliche Pöstchenjagd begeben.

So war Kurt auch zu Ohren gekommen, dass sein ehemaliger Chef, der ihn kurz vor Ende des Krieges wegen einer lapidaren Bemerkung der Gestapo ausliefern wollte, nunmehr in dem gerade zögernd beginnenden Aufbau der Wirtschaft ein viel versprechendes, leitendes Amt als „Unbescholtener“ ergattert hatte.

Trotz aller Unbill wollten wir also in Wien bleiben und so schnell wie möglich die österreichische Staatsbürgerschaft anstreben. Zu diesem Zweck musste sich Kurt bei Mutters Bruder in Niederösterreich als Landarbeiter anmelden und hoffte als solcher, das begehrte Dekret bald zu bekommen.

Eine andere Möglichkeit bestand dafür nicht und erst nach Erlangung desselben, konnte er sich um eine angemessene Tätigkeit bemühen.

Was das für ein langwieriger, komplizierter Weg werden sollte, das ahnte er vorläufig noch nicht.

Das Gesetz billigte den Staatenlosen – ein neues Deutschland hatte sich noch nicht etabliert – lediglich eine Tätigkeit als Arbeiter zu.

Da Geld langsam wieder an Wert zu gewinnen schien, war eine Beschäftigung, gleich welcher Art inzwischen von Nöten. Irgendwie versuchte Kurt auf alle nur möglichen Arten einen Beitrag in die Familienkasse einzubringen, aber eine echte Chance, im neu proklamierten Staat Fuß zu fassen, hatte er vorläufig nicht.

So präsentierte sich auch das Familienidyll leicht angekratzt, was aber von allen Beteiligten unter dem Mäntelchen der Solidarität, sorgsam versteckt wurde.

Kurt, dessen Tatendrang sich nirgendwo austoben konnte – passiv verharren zu müssen, gehörte nun mal nicht zu seinen Stärken – begann an sich selbst zu zweifeln.

Er, der bisher alles, was auf ihn zukam, für machbar hielt, musste erfahren, dass es momentan für ihn nichts zu „machen“ gab. Er war unzufrieden, oft deprimiert, trotzdem aber bereit, nicht aufzugeben und ersehnte die Stunde, in der er als „Österreicher“ einen Neubeginn starten konnte.

Dass er bis dahin sich und auch mir jedes kleinste Vergnügen und wäre es nur ein Drink in einem der wieder eröffneten Cafes in der Innenstadt versagte, war für ihn Selbstverständlichkeit und für mich Missvergnügen.

Daher spielte sich unser Dasein in der Hauptsache im engen Bereich der beiden gegenüberliegenden Wohnungen ab – Tag für Tag… Monat für Monat… .

Doch da war ja gottlob Karin, die für entsprechende Abwechslung sorgte und mit ihrem beginnenden Geplapper und neuen Wortverbindungen die miesen Umstände ins Abseits drängte.

Mutter, für die der so gut situierte, viel versprechende Schwiegersohn, nun einen Teil seiner Attraktivität eingebüßt hatte, ließ sich zwar ihre Enttäuschung darüber nicht anmerken, wartete aber doch recht ungeduldig darauf, dass sich der Mann, dem sie ihre Tochter anvertraut hatte, wieder in einen erfolgreichen Manager verwandelte.

Lediglich Vater sah mit gelassener Ruhe den kommenden Dingen entgegen.

Im Haus gegenüber befand sich doch ein alter Bekannter, der so konservativ wie er, von den Nazis kalt gestellt, nun zum Chef einer Filmverleih-Gesellschaft für abgetackelte Nazi-Produktionen emporgestiegen und somit ein wichtiges Mitglied der neuen Ära geworden war. Er hatte versprochen, die Sache mit der Staatsbürgerschaft in seine unbeschmutzten Hände zu nehmen. Und wenn erst Kurts Verwandlung vom Deutschen zum Österreicher vollzogen sein würde, fand sich alles andere von selbst.

Gute Beziehungen waren stets von großem Wert, ohne sie lief nun einmal nichts. So war es immer und so würde es auch bleiben… .

Zuweilen entlud sich die verhaltene Unzufriedenheit bei Mutter und Konrad in einer ungebremsten Streiterei über belanglose Nichtigkeiten – für mich jedes Mal ein gefürchteter Affront, den ich als äußerst unangenehm empfand.

Seufzend flüchtete ich mich in solchen Fällen in mein eigenes Ich, versuchte es gegen die rüde Außenwelt abzukapseln. Ähnlich wie Vater, dem dies durch die Schwerhörigkeit, die er sich bei einem Dienstunfall zugezogen hatte, etwas leichter fiel.

Im Herbst des Jahres 1946 bot sich wenigstens für mich und Karin die Möglichkeit, wieder in den Heimatstaat eingebürgert zu werden.

Ein Gesetz besagte, dass im Land geborene Frauen samt Nachwuchs – das Einverständnis des Ehemannes vorausgesetzt – wieder den Schutz der neuen Republik erlangen könnten.

Natürlich war Kurt einverstanden. Immerhin ein erster Schritt vorwärts im engmaschigen Netz des bürokratischen Labyrinths.

Fast zur gleichen Zeit schimmerte auch für Kurt ein fahler Hoffnungsstreifen, am bisher so verfinsterten Horizont. Er fand ein Betätigungsfeld… bei den Amerikanern, die nun gemeinsam mit den drei anderen Kriegsgewinnern Stadt und Land kontrollierten.

Zwar kein wirklich erstrebenswerter Job, wieder nur Handlanger-Tätigkeit, die aber verhältnismäßig gutes Geld einbrachte.

Zudem erwiesen sich die ehemaligen Feinde vom anderen Ende der Welt als unkomplizierte Gesellen und schon nach ein paar Wochen entwickelte sich zu ihnen ein lockeres, kameradschaftliches Verhältnis.

Was die Regierungen zu Gegnern stempelte, das widerlegten oft die Menschen, wenn man sie nur ohne Hasspropaganda und Vorurteile miteinander umgehen ließ.

Üppig bepinselte der Oktober diesmal das Laub der Bäume in Wäldern und Parks aus seinem unerschöpflichen Farbtopf. Es glitzerte und vibrierte in allen Nuancen an den Ästen, während sich hauchzarte, weiße Fäden im Sonnenlicht flimmernd um das bunte Blattwerk spannten. Während die knorrigen Stämme verrunzelt und verkrustet im Erdreich ankerten, boten ihre Kronen einen schillernden Baldachin von konkurrierenden Farbvarianten, wobei jeder Wipfel seine individuellen Möglichkeiten zum Besten gab.

Sanft und mild animierte die Sonne des Tages zu einem Spaziergang hinaus ins Freie.

An einem solch´ viel versprechenden Nachmittag hatte ich mich mit Kurt zu einem Treff nach seiner Arbeit verabredet, um noch ein wenig den ausklingenden Tag zu genießen, ehe wir in das staubige Gassengewirr der Stadt zurückkehren wollten.

Im „Volksgarten“, dem großen und beliebten Park für Sonntagsbummler wartete ich auf einer Bank in der Nähe des Denkmals von Franz Grillparzer auf meinen Gemahl.

Sechs Szenen aus den Werken dieses berühmten Dramatikers befanden sich an den Wandflächen des Monuments und meine Gedanken glitten in meine Schulzeit zurück, in der ich auf einem Stehplatz des Burgtheaters, fast alle Aufführungen dieses Dichters erlebt hatte. Theaterstücke, die die Handschrift eines schwierigen, vielleicht schwermütigen Charakters trugen und voller Dramatik die Bühne beherrschten.

Dabei fiel mir eine seiner Formulierungen ein, mit der er vermutlich einen Prozess zu deuten versucht hatte: „Von Humanität durch Nationalität zur Brutalität…“

Was meinte Grillparzer damit?

Und hatte sich nicht 60 Jahre nach seinem Tod diese These durch Hitler, aufs Grausamste bewahrheitet…“

Ich musste fast eine Stunde ausharren, ehe ich Kurt kommen sah.

Sofort fiel mir sein merkwürdiges Aussehen auf.

Finster blickend, mit zusammen gezogenen Brauen eilte er auf mich zu.

„Jetzt ist alles aus…“ platzte es statt einer Begrüßung aus ihm heraus.

Ich erschrak. „Um Himmelswillen, was ist denn passiert?“

Ohne eine erklärende Antwort ließ er sich neben mich auf die Bank fallen, stützte die Arme auf die Knie, bettete den Kopf in beide Hände.

„Ich bin Morgen zu einem Verhör bei den Amerikanern bestellt… sie haben meine Parteinummer herausgefunden!“

Ich war schockiert. „Wieso Parteinummer? Du hattest doch überhaupt keinen Kontakt mehr zur Partei! Genau um der zu entkommen, bist Du nach Wien gegangen.“

„Natürlich“, pflichtete Kurt bei. „Seit ich von Berlin weg war, hatte ich nie wieder von dieser Organisation gehört. Wie meine Mutter sich dabei herausgeredet hat, weiß ich nicht! Aber…“, seufzte Kurt und legte eine Pause ein.

„Was aber…“, wollte ich wissen.

„Ich hatte auf dem Personalbogen der Flugmotorenwerke, wo man, wie überall in großen Betrieben ohne Parteimitgliedschaft keine vernünftige Stelle bekommen konnte…“. Er holte tief Atem, „in diesem Fragebogen hatte ich meine ehemalige Nummer angegeben.“

„Mein Gott“, ich war entsetzt. „Warum denn das?“

„Erstens wollte ich beruflich vorwärts kommen und nachdem ich einen leitenden Posten in Aussicht hatte, wäre ich sowieso zur Parteimitgliedschaft gedrängt worden. Mit der Angabe der Nummer kümmerte sich niemand mehr um diese Sache und ich hatte meine Ruhe – bis jetzt… !

„Unglaublich… Und ausgerechnet diese Personalakten, wo doch so ziemlich alles im Krieg in Trümmer geschossen worden war, die sind erhalten geblieben?!“ schüttelte ich den Kopf.

Kurt nickte. „Und werden mir jetzt zum Verhängnis!“

Ich winkte ab. „Unsinn, Du hast nichts verbrochen, hast niemand etwas zu leide getan…“

„Aber ich hatte als leitender Angestellter in einem Rüstungsbetrieb für den Krieg gearbeitet und das sogar mit Erfolg. Damit sind wir alle schuldig, werden dafür zur Rechenschaft gezogen.

In den Nürnberger Prozessen hatten sie erst einmal die obersten Bonzen – soweit die sich nicht aus dem Staub gemacht haben – verurteilt. Aber die Gerichtsbarkeit geht weiter – jetzt sind wir anderen dran!“

Ein längeres Schweigen folgte.

„Und wenn so nach und nach all´ das Brutale, das unter diesem Regime passierte, offenbar wird, sind wir dann nicht tatsächlich alle schuldig? Auch die, die wir Hitler nicht als Retter der Menschheit umjubelt hatten? Wer kann schon unterscheiden, welcher dafür war und welcher nicht?“

Ich blickte nachdenklich in das grün, gelb, braun gesprenkelte Blättergewirr über mir.

„Eine Art Kollektivschuld, also“, murmelte ich vor mich hin.

Am Weihnachtsabend des Katastrophenjahres 1945, in dem so manches Leben von Kindern oder alten Leuten durch Hunger ausgelöscht worden war, hatten wir ein kleines Bäumchen in unserem verschont gebliebenen Heim festlich geschmückt und geleiteten unser Töchterchen zu dem niederen Tischchen, auf das wir es platziert hatten.

Da stand das kaum 1 m kleine Persönchen nun in ihren von einem Hobby –Schuster gefertigten, ersten Schuhen ein wenig wackelig und verwirrt vor dem ungewohnten Lichtgeflimmer, das sie um gut einen weiteren Meter überragte und lallte etwas Unverständliches, das wir natürlich als Ausdruck des Entzückens deuteten.

Was in diesen Minuten wirklich im Köpfchen vorging, wird wohl ihr im Unterbewusstsein eingefangenes Geheimnis bleiben.

Eine Serviette verhüllte diskret den nüchternen Holzfuß der Fichte, um den neben der Krippe auch andere Tierchen versammelt waren.

Ein weißer Elefant mit blauen Ziernähten, eine Katze, die drohend den Schwanz in die Höhe reckte, noch ein paar Fabelwesen – ich hatte sie alle aus Stoffresten geschneidert – warteten als Spielgefährten unter dem flackernden Kerzenschein auf ihre Herrin…

An diesem Weihnachtsabend erklangen nach Jahren endlich Glocken des Friedens, aber ihr Ton litt an einer chronischen Heiserkeit und die im Stephansdom seit 1711 beheimatete „Pummerin“, Wiens stolzestes Geläute, hatte ihren ehrwürdigen Klang ebenfalls in den letzten Phasen eines unehrwürdigen Krieges opfern müssen. Sie schwieg…

Wo blieben also die Glocken, die eine neue, bessere Zukunft einläuteten?

Sie waren noch nicht gegossen…

Noch längst war die Vergangenheit nicht bewältigt, der unerbittliche Kampf gegen den Hunger tobte weiter…

W I E N 1944

Kalt und gleichgültig schlich sich das Jahr 1944 über die Schwelle des geschundenen Jahrhunderts, trug im Gepäck eine zermürbende Bedrohung, Ängste und Todesfurcht für die

Menschen und von der Regierung den Aufruf zu eisernem Durchhalten.

Für mich und Kurt allerdings hielt dieses neue Jahr eine unbeschreibliche Glücksbotschaft bereit.

In den gerade sich anbahnenden Vorfrühlingstagen wurde es klar: ich erwartete ein Baby!

Was bedeutete uns jetzt noch der sich immer mehr verschärfende und verhärtende Krieg. Es war unser Leben, das wir unabhängig von allen äußeren Umständen zu bewältigen hatten und

irgendwie auch über die gefahrvollen Endrunden dieses erbärmlichen Gemetzels der Völker,

hinweg zu retten gewillt waren. Jetzt erst recht, da es für uns einen neuen Sinn gewonnen hatte.

Auch Mutter nahm die Nachricht von einer weiteren Vergrößerung der Familie mit Freuden entgegen. Nur erinnerte sie ihr nüchterner Menschenverstand bei allem Frohlocken, an die handfeste Tatsache der unerträglichen Enge in unserer Behausung.

Etwas, woran wir bisher keinen Gedanken verschwendet hatten. Wir waren glücklich, wir würden ein Kind haben, alles andere degradierte zur Nebensache.

So blieb es auch Mutter überlassen, intensiv und immer wieder in diesen erwartungsfrohen Wochen, Kurt zu drängen, nach einer größeren Wohnung Ausschau zu halten.

Freilich ein Ansinnen, das einer unerfüllbaren Illusion gleichkam. Wenn es überhaupt eine Chance dafür gab, dann höchstens durch Kurts berufliche Beziehungen.

„Ja, natürlich“, versprach er auf Mutters brisante Hinweise, „ich werde mich nach allen Kräften dafür einsetzen!“ Viel Hoffnung auf Erfolg hatte allerdings auch er nicht.

Überzeugt, dass die frohe Nachwuchsbotschaft wie in Wien, auch in Berlin ein Jubelgeschrei auslösen würde, war die Enttäuschung besonders für Kurt groß, als statt dessen mahnende Worte per Brief, wie „kann man es in dieser Zeit verantworten, ein Kind in die Welt zu setzen!“ als ernüchternder Kommentar eintrafen.

Zugegeben, die Reichshauptstadt wurde täglich mit Bomben der Alliierten attackiert und ihre Menschen verbrachten mehr Zeit in den Luftschutzkellern als in ihren Wohnungen. Immer mehr von ihnen verloren von Heute auf Morgen, von einer Minute zur anderen, ihr Heim und ihre Habe und konnten nur beten, wenigstens am Leben zu bleiben.

Viele große Firmen wurden deshalb auch aus der Hauptstadt in andere Gegenden verlagert und auch das Werk, in dem Kurts Vater sein gesamtes Arbeitsleben zugebracht hatte, sollte nach Schlesien evakuiert werden.

Nie aus der Stadt Berlin heraus gekommen, stand ihnen nun ein Umzug in die Fremde bevor.

Mir brachte dagegen der zu erwartende neue Erdenbürger von Staatsseite einige Vorteile, in Form von Zusatzrationen wie Milch, etc. ein.

Nach den millionenfachen Verlusten an den Fronten, war Nachschub an menschlichem Material, höchst notwendig und erwünscht.

Schon stülpte der Mai der Natur sein Brautkleid über…

Aus den Kapseln praller Knospen an Bäumen und Sträuchern drängten fragile Gebilde neuen Lebens, dem Licht der Sonne entgegen, sprengten ihre Hülle und entfalteten ihre zart duftende Schönheit an noch kahlen Ästen, verströmten eine Symphonie an Farbe und Form auf dem herrlichen und doch so gewalttätigen europäischem Kontinent.

In diesen Wochen und Monaten, wo Maschinengewehre an den Kriegsfronten und Bombengeschwader aus der Luft die Existenz des Lebens auszulöschen versuchten, leuchteten für Kurt und mich die Sterne der Vorfreude vom Himmel und vertrieben alle Schattenbilder in die Finsternis des Nichts.

Die Vorbereitungen auf das große Ereignis liefen schon auf Hochtouren…

Welcher Name würde für das kleine Wesen angemessen sein?

Das ganze Kalendarium für gängige und auch ausgefallene Benennungen männlicher und weiblicher Spezies, wurde Abend für Abend durchgegangen, wieder verworfen.

Der Name, das Aushängeschild eines jeden Menschen sollte schließlich nicht nur passend sein, sondern seinem Tträger auch gefallen.

Außer den „namentlichen“ Überlegungen waren es vor allem die praktischen Bedürfnisse, die einem Baby zustehen und die es zu beschaffen galt.

In einem Punkt waren wir uns einig:

Der als Zuteilung erwerbbare Einheitskinderwagen kam für „unser Kind“ nicht in Frage. Etwas komfortableres, größeres musste her. Für dessen Beschaffung bot sich Mutter, als Spezialistin an.

Zwar war es noch immer wie zu Großmutters Zeiten üblich, die Kleinen in wärmende Wickelpolster zu verpacken, wofür auch das schmalbrüstige Vehikel auf Bezugschein reichen würde, aber Säuglinge wachsen schnell heran… und „Es“ sollte es bequem haben.

Für die Sonderpunkte auf der Kleiderkarte konnte ich mir auch eine kaschierende Hülle bei eintretendem Körperumfang, anfertigen lassen.

Indessen wütete der Krieg unvermindert weiter.

Im Juni landeten alliierte Truppen auf dem europäischen Kontinent. In der Normandie fand eines der mörderischsten und blutigsten Schlachten im Westen statt und Deutschland war nun außer von Ost und Süd, auch von daher eingekreist.

Die Nachrichten verbrämten das Disaster, rühmten die heldenhafte Verteidigungsbereitschaft und kündigten die bevorstehende Wunderwaffe, deren Einsatz bevorstehen würde, an.

Sieg um jeden Preis, lautete auch jetzt noch die Parole, andernfalls war Hitler entschlossen, den eigenen Untergang mit dem seines Volkes zu besiegeln.

Also Durchhalten, wie es einst die Engländer bei den tödlichen V 1 und V 2- Geschossen über London getan hatten! Nicht der Zermürbung durch die Bombardements erliegen!

Noch bevor der Juni in die heiße Sommerphase überwechselte, wurden neue drastische Maßnahmen erlassen, um auch in der Heimat noch irgendwie verfügbare Kräfte für den hoffnungslosen Krieg zu mobilisieren.

Währenddessen gelang Kurt ein weiterer Erfolg im privaten Bereich. Er setzte es durch, dass ich im Hinblick auf meinen Zustand aus dem Berufsleben vorzeitig ausscheiden und nunmehr intensiv mich auf das freudige Ereignis vorbereiten konnte.

Die Sommermonate Juli und August sorgten für turbulente Ereignisse sowohl extern wie intern.

Das Externe präsentierte sich als Hiobsbotschaft eines Attentats auf Hitler, das der „Volksempfänger“ am 20.7. voll Empörung verkündete und zugleich mit der Beruhigung, der Führer sei unverletzt, aufwartete.

Fassungslos saßen wir an diesem Abend in Mutters Küche beisammen und grübelten, warum diese, vielleicht einzige und letzte Rettung aus dem aussichtslos gewordenen Krieg, denn schief gegangen sei, während die Stimme aus dem Radio laufend beteuerte, dass Hitler wohlauf sei.

Nur langsam kristallisierten sich die tatsächlichen Geschehnisse aus den Nachrichten heraus.

Ein hoher Militär aus uraltem Adelsgeschlecht, der als solcher Zugang zum Führerhauptquartier „Wolfsschanze“ in Ostpreußen hatte und offenbar Kopf einer Widerstandsgruppe war – in unserem Polizeistaat fast ein Wunder, von dem niemand ahnte – hatte eine Bombe gezündet, die zwar explodiert war, aber aus irgendwelchen Gründen ihr „Ziel“ verfehlt hatte.

Und dann schließlich erfolgte die Meldung, der Täter – Stauffenberg – sei gefasst und sofort standrechtlich erschossen worden.

„Warum erst jetzt, dieser missglückte Versuch, wo sowieso schon alles verloren ist“, überlegte ich seufzend. „Warum hat man nicht rechtzeitig diesen „Führer“ beseitigt?“

„Hast Du jemals Menschen erlebt, die in der Phase der Hoffnung, des Glaubens und vor allem der überwältigenden Siege, abgesprungen sind?

Am Anfang hat Hitler tatsächlich Vertrauen erweckt. Der „Wolf“ im Schafspelz war damals nicht zu erkennen. Nicht nur die Militärs, die die Siege errangen, waren auf seiner Seite, sogar manches neutrale Ausland –wie z.B. Schweden – wollte es sich mit ihm nicht verscherzen und stand ihm mehr oder weniger wohlwollend gegenüber.“

„Und jetzt, was wird jetzt… ? „ überlegte ich laut.

„Jetzt…“ wiederholte Kurt, „jetzt geht es weiter bis zum bitteren Ende…“

„Und das wird sein… ?“

„Ich bin kein Hellseher,“ erwiderte Kurt ungeduldig. „Unter vorgehaltener Hand geht schon lange der Slogan “genieße den Krieg, denn der Frieden wird fürchterlich` um“.

„Schwacher Trost, katastrophale Aussichten…“ schüttelte es mich vor Entsetzen.

„Mach´ Dir keine Sorgen“, beschwichtigte mich Kurt sogleich. „Wir kommen durch, das verspreche ich Dir noch einmal…“

Kurze Zeit später erfolgte der „interne“ Beweis für Kurts Zuversicht in punkto „durchkommen“.

Er konnte uns eine Überraschung anbieten.

Mit Hilfe der Firma war es ihm gelungen, eine eigene Wohnung aufzutreiben.

Mutter strahlte und dankte voll Inbrunst dem lieben Herrgott für dieses abermalige Wunder.

Das 2-Zimmer-Domizil lag im Bezirk Josefstadt, ca. eine halbe Stunde zu Fuß entfernt, in einem Haus mit Hinterhof und Pawlatschen-Balkon und befand sich in ziemlich verwohntem Zustand. Doch die Firma war bereit, die altertümliche Wohneinheit für ihren erfolgreichen Angestellten renovieren zu lassen.

Während Mutter von der Aussicht, aus der häuslichen Enge befreit zu werden, schwärmte, wurde mein Gesicht von Tag zu Tag länger… .

In ein altes, einstöckiges Pawlatschenhaus mit Holzbalkon sollte ich ziehen?

Ich kannte die Situation einer derartigen Behausung von meiner Tante…

Zum Anschauen mag so ein Relikt anheimelnd wirken, aber darin wohnen??

Ich wusste, dass sich auf den Brettern vor den Wohnungstüren die gesamte Hausgemeinschaft zu Klatsch und Tratsch zusammenfand und deren besonderes Interesse sich speziell auf etwaige Neuzugänge konzentrierte. Haarscharf würden die unter die Lupe genommen werden.

Ich fürchtete die heimtückischen Spitzfindigkeiten der eventuellen Nachbarn auf dem gemeinsamen, umlaufenden Balkon, das unausweichliche Miteinander, das jedes Privatleben ausschloss.

Ich lehnte diese Art von Verbrüderung ab und legte stets größten Wert auf ein Dasein hinter verschlossenen Türen.

Dazu kam ein unbestimmtes Gefühl, eine instinktive Warnung hinsichtlich der Tatsache, dass Kurt als „Zu`graster, also Nicht-Österreicher besonderen Verdacht erwecken könnte. Da sich das Kriegsglück fundamental verschlechtert hatte, bestand die Gefahr, dass „Auswärtige“ mit zusätzlichem Misstrauen beäugt würden.

Je öfter ich also die Sachlage bedachte und meinem Unterbewusstsein Glauben schenkte, umso wankelmütiger wurde ich bezüglich der so dringend nötigen größeren Behausung… bis ich schließlich unter Tränen gestand, dass ich nicht in diese alte, neue Wohnung ziehen würde.

Mutter war, was selten passierte, ob dieser strikten Ablehnung echt ratlos. Als Hausfrau spürte sie den Platzmangel am meisten. Nun gäbe es die Möglichkeit, diesem zu entfliehen, da machte i c h einen Strich durch die Rechnung und weigerte mich, dieses Angebot wahrzunehmen.

Sie klagte Vater ihr Leid, aber der hatte nur ein Achselzucken für das Problem. „Na, wenn sie nicht wollen, dann bleiben sie halt hier! Wer weiß, wofür es gut ist!“ damit war die Sache für ihn erledigt.

Nicht so für Mutter. Sie erinnerte sich ihres Nachbarn, der sie immer wieder zu den verbotenen Nachrichtensendern der Feinde zu sich und einem Glas Wein hinüber gebeten hatte. Diesmal klopfte sie an seine Pforte, um ihre Sorge und Enttäuschung bei irgendjemand loszuwerden und fand ihn, wie fast immer, allein und Zeitung lesend im geräumigen Wohnzimmer.

In facettenreichen Worten und mit entsprechenden Gestikulationen schilderte sie ihm die Chance, die zu nutzen, sie ihre Tochter leider nicht zwingen könnte.

Der Nachbar hörte aufmerksam und geduldig zu, ging dann in die Küche und holte 2 Gläser, in die er wie so oft, den nun immer schwieriger zu beschaffenden Wein goss.

„Warten Sie einen Augenblick“, beruhigte er sie, „ich habe da vielleicht eine Idee…“

Überrascht und ein wenig hoffnungsvoll sah ihn Mutter an. Was meinte er damit?

Der Nachbar ließ sich Zeit mit einer Antwort, schien intensiv nachzudenken.

Die Fenster seines Wohnzimmers waren zur Gasse ausgerichtet und bereits verdunkelt, sodass kein Geräusch hier hinauf drang.

Der Raum wirkte hoch, wie üblich in den Häuserblocks der Jahrhundertwende und größer als der von Mutter. Dafür gab es in der langen, schmalen Küche keine natürliche Lichtquelle und auch das Kabinett war wesentlich kleiner und gewährte lediglich einen Blick in einen, von hässlichen Mauern eingefassten Lichtschacht. Diese Kammer diente dem Nachbarn zum Abhören der feindlichen Sender, an deren Nachrichten er heute allerdings nicht interessiert zu sein schien, was Mutter dankbar registrierte, war sie doch zutiefst mit eigenen Problemen belastet.

„… so eine Gelegenheit kommt doch nicht wieder“, erinnerte sie nach Minuten langem Schweigen, an den Grund ihres Besuches.

Der Nachbar zögerte noch einen Moment…

„Ich habe die Absicht, mich von meiner Frau zu trennen“, erklärte er dann in bedächtigem,

aber sehr bestimmten Ton. „Es hat keinen Sinn mehr…“

Mutter stockte der Atm. „Das tut mir aber leid“, murmelte sie erschrocken.

„Ja und da kommt mir Ihr Anliegen wie ein Wink des Schicksals“, entgegnete er ohne auf ihr Bedauern einzugehen. „Wissen Sie was… ? Ich tausche mit Ihnen“ erklärte er dann spontan.

Eine Pause entstand. Mutter konnte sich keinen rechten Reim auf diese Ankündigung machen.

„Ja, ich nehme für meine Frau die Wohnung in der Josefstadt und Sie können diese hier für Ihre Tochter und ihren Schwiegersohn haben… .“

Jetzt erst erfasste Mutter die Tragweite seiner Worte. „Wollen Sie das wirklich“ jubelte es in ihrem Innern… . „Ich verspreche Ihnen, Sie werden es nie bereuen. Die Wohnung im 8. Bezirk wird zu einem Schmuckkasterl hergerichtet, dafür sorgt mein Schwiegersohn. Der Tausch kostet sie keinen Pfennig…“ gab sie anstelle von Kurt, eine enthusiastische Zusage.

Diesmal war es ihr Triumph eine Lösung aus einem unlösbaren Dilemma gefunden zu haben.

Natürlich waren Kurt und ich mit dieser sensationellen Mitteilung höchst glücklich, die für uns ein Geschenk des Himmels bedeutete.

Unverzüglich leitete Kurt alle notwendigen Maßnahmen für die ungewöhnliche Transaktion in die Wege.

Es dauerte keine 4 Wochen – Mitte August bereits, konnte der Umzug nach nebenan erfolgen.

Und ich, bisher nicht so sehr an Hausputz interessiert, schrubbte und wienerte mein zukünftiges Heim mit nie gekannter Energie.

Die dunkle, nur im oberen Bereich durch die verglaste Eingangstür dürftig beleuchtete Küche, störte mich nicht, denn für die leiblichen Bedürfnisse blieb weiterhin Mutters Refugium vis a vis zuständig. Schließlich konnte ein 4-Personenhaushalt rentabler bewirtschaftet werden, als zwei Getrennte. Und etwas schmackhaftes und nahrhaftes auf den Tisch zu bringen, zählte in diesen arg beschränkten Zeiten zu einer genialen Tugend, die nur durch jahrelange Erfahrung gewonnnen werden konnte.

Des Nachbarn Geheimkammer für Feindkontakte, wurde nun für den neuen Erdenbürger, dessen Kommen sich immer intensiver ankündigte, parat gehalten. Sie sollte mit meinen

rosarotem Mobiliar ausgestattet, klein aber fein, dem Sprössling ein würdiges Ambiente bieten.

Blieb noch das Wohnzimmer, für das es 2 Couchen, einen Schrank, einen Tisch mit 4 Stühlen im „Schleichhandel“ zu organisieren galt.

Bereits Ende August zeigte sich das neue Heim aufs beste herausgeputzt, zur Inbetriebnahme fertig.

Bei all´ der Betriebsamkeit hatten wir nur nebenbei registriert, dass inzwischen die besetzte französische Hauptstadt Paris von „feindlichen Truppen“ zurückerobert worden war und somit der weitere Vormarsch auf das Dritte Reich drohend bevorstand. Die offiziellen Meldungen darüber wurden mit der Aussicht auf einen „Dennoch – Endsieg“ verbrämt.

In dem auf Ostmark umgetauften Österreich, nahm man, der Mentalität entsprechend, die fatale Situation zwar als „hoffnungslos“, aber nicht „ernst“ hin, man stand ihr ohnedies machtlos gegenüber. Äußerst düster würde die Zukunft werden, also begnügte man sich mit der Gegenwart und genoss sie in einer Art Galgenhumor.

Natürlich war für Zivilpersonen jegliche Reisetätigkeit untersagt worden, alle Räder mussten für den Sieg rollen…

Doch überall gab es Um- und Auswege…

So gelang es Kurt, der aus Berufsgründen von dem Verbot nicht betroffen war, für sich und auch mich eine Genehmigung zu einer privaten Bahnfahrt zu erlangen. Mit Sonderausweis traten wir einen 14-tägigen Urlaub in den sonnigen Süden der Alpen, nach Kärnten an.

Wenn amtlich beglaubigt, kümmerte sich keiner mehr darum, ob anstelle eines Sonderbevollmächtigten eine hoch schwangere Frau, sich in die Reihen der Dienstreisenden geschlichen hatte.

Unser Ziel war diesmal ein kleiner, in bewaldete Berge eingebetteter Ort, den liebevoll ein fast kreisrunder See begrenzte.

Es fanden sich kaum Gäste in dem Gasthof, den wir für 2 unbeschwerte Wochen ausgewählt hatten und hier den Übergang vom Sommer in den Herbst erleben wollten.

Es wurden Tage voller Heiterkeit…

Das Dorf, das sich „Feld“ nannte, sowie seine Häuser mit der Kirche als Mittelpunkt, wurde als lustig vibrierendes Spiegelbild im klaren Wasser abgelichtet und strahlte Weltvergessenheit aus, gaukelte Frieden vor.

Unendlich weit, fast schon wie auf einem anderen Stern erschienen die Kriegsspiele eines verrückten Imperators: unbegreiflich und irrelevant…

Mit einem kleinen Boot ruderte Kurt uns fast täglich hinaus auf die glitzernde Wasseroberfläche, wo nur das Plätschern der Ruder die Lautlosigkeit unterbrach, ab und zu auch ein ächzendes Stöhnen der hölzernen Planken.

Mitten im See, wenn wir uns ohne Bewegung treiben ließen und die Wellen uns wie in einer Wiege sanft schaukelten, tauchten alle Ängste und Sorgen hinab in die unbekannte Tiefe, versanken, lösten sich auf zu einem unbedeutenden Nichts.

Manchmal geisterte in den Morgenstunden ein feiner Nebelschleier über das Wasser, schwebte als geheimnisvolles Gespenst über uns hinweg, zog hinauf zu den Wäldern und benetzte Bäume und Sträucher mit winzigen Tröpfchen. Aber bald verschluckte die Sonne den mystischen Spuk, umhüllte das Land von neuem mit ihrem wärmenden Strahl.

Bei unseren Spaziergängen in die hügeligen Wälder der Umgebung offenbarte sich uns eine üppige Vegetation, die überall neben schmalen Pfaden aus dem Boden wucherte. Farne mit gefiederten Blattwedeln sprossen rechts und links aus der Erde.

Wie ein grüner Teppich belagerten Pflanzen, deren Namen wir nicht kannten, das Terrain neben uns und eine unbekannte Welt entfaltete sich zu unseren Füßen… ein zauberhaftes Sammelsurium voll Schönheit und Harmonie.

Aber auch diese Tage, die uns wie ein flüchtiger, einem Atemzug gleichenden Blick ins Paradies erschienen, gingen zu Ende und unter dem ratternden Gekreische der Räder, die eigentlich nur für den Krieg rollen durften, kehrten wir zurück in die Stadt und ihren Alltag.

Immer häufiger störten jetzt Luftalarme auch Wien, noch waren keine allzu gravierenden Schäden zu beklagen und so hoffte man weiter auf einigermaßen Schonung, da man doch „okkupiert“ worden war.

Fast genau zum errechneten Zeitpunkt meldete der ersehnte Sprössling mit ziemlicher Vehemenz seinen Wunsch an, nunmehr die Bühne dieser Erdenwelt zu betreten.

Am Abend eines frostigen Oktobertages, kurz vor dem Wechsel zum November, kündigte sich das Ereignis schmerzlich fühlbar bei mir an.

Zu Dritt… Kurt, Mutter und ich… , stapften wir zu Fuß Richtung Krankenhaus in Döbling.

Dort war man nicht sonderlich erfreut, dass zu fast mitternächtlicher Stunde noch eine Patientin eintrudelte… aber so haben es halt Babys an sich… , sie kommen, wann sie wollen und man muss froh sein, dass sie überhaupt kommen…

Trotzdem dauerte es bis zum folgenden Sonntagmorgen… .ehe sich das Mädchen Karin mit mächtigem Geschrei dem Abenteuer des Lebens stellte.

Recht ramponiert empfing ich das kleine Wesen in meinen Armen und suchte, ehe man es mir wieder wegnahm, ein Erkennungszeichen, damit ja keine Verwechslung in dem großen Klinikum möglich sei. Und ich entdeckte es… auf einem der winzigen, kaum fingerlangen Händchen befand sich ein noch winzigerer, kaum sichtbarer Kratzer!

Beruhigt gab ich mich dann einem erholsamen Schlaf hin, aus dem ich jedoch bald abrupt und von dem am großen Ereignis immerhin ebenfalls beteiligten Kurt voll Euphorie, gerissen wurde.

Noch ehe wir uns des gemeinsamen Glückes richtig erfreuen konnten, holten uns die gefürchteten, heulenden Töne der schon fast zum Alltag gehörenden Sirenen, in die brutale Wirklichkeit zurück.

Um von den tatsächlichen Geschehnissen an den Fronten abzulenken, wurde die Bevölkerung in dieser Zeit mit kulturellen Leckerbissen in Kinos und Theatern gefüttert, damit sie den Glauben an den Sieg nicht verliere. Auch aus dem Radio erklang täglich die einschmeichelnde Melodie von Lili Marleen, der tapferen Soldatenbraut, die durch die herbe

Stimme Lale Andersens, zu Tränen rühren vermochte und das grausame Waffenspiel überall draußen, zu einer herzerweichenden Liebesromanze umfunktionierte.

Doch wenn, wie auch heute, die Motorengeräusche von mit Bomben beladener Flugzeuge aus einem Himmel, in dem doch ein guter Gott walten soll, dröhnten, dann zerstob der schöne Schein und zurück blieb die nackte Angst ums Überleben.

Kurt, der die ganze Nacht vor dem erst vor kurzem installierten Telefon in fiebernder Unruhe verbracht hatte, half sofort nach dem Alarm den Krankenschwestern, die Säuglinge in die dafür vorgesehenen Kellerräume zu befördern.

Ich wurde im Bett in die unterirdischen Gefilde verfrachtet, bis nach einigem Horchen und Bangen, die Entwarnung das Verschwinden der Störenfriede über unseren Köpfen meldete und alle unbeschadet in die oberirdischen Lebensbereiche zurückkehren konnten.

Als ich nach der notwendigen Abstinenz, in der Karin nur mit Tee versorgt wurde, meinen Säugling endlich jeden Abend ans Herz drücken und stillen durfte, stellte ich fest, dass ein Namensschildchen am Rücken der Kleinen klebte, womit auch von Amts wegen einer Verwechslung vorgebeugt worden war.

Wieder schoben die folgenden Wochen voll Glück und Freude die äußeren Geschehnisse ins Abseits. So drang die Nachricht des November 1944, dass deutsche Truppen eine feste Front entlang Oberrhein, Westwall und Niederrhein gebildet hätten –offenbar ein verzweifelter, hoffnungslos irrationaler Versuch –nur flüchtig in unser Bewusstsein.

Das Jahr ging zu Ende und das Weihnachtsbäumchen das diesmal im neuen Quartier sein Kerzenlicht aufflackern ließ, wurde Karin – eingebettet im schützenden Wickelkissen – als Symbol des wichtigsten Festes der Christenheit vorgestellt.

Sie ahnte natürlich noch nichts von Sitten, Gebräuchen, Traditionen im Kalender der Religionen.

Es war ein warmes Licht, das da durch die Dunkelheit des Raumes irrte und irgendetwas Verborgenes zu suchen schien, etwas Geheimnisvolles erleuchten wollte. Zitternd erhob es sich aus dem Wachs als tröstender Bote in der Finsternis.

Das Kriegsgeschehen tobte indessen an allen Fronten mit vehementer Heftigkeit. Kanonenlärm ließ die Erde erbeben und Bombengeschwader mit tödlicher Fracht, donnerten in pausenloser Folge über die deutschen Städte.

Und doch ging das Leben in ihnen irgendwie weiter… .

Meine fast panische Angst galt in diesen kalten Wintermonaten der ständigen Gefahr von Erkältungen, die Karin durch die langen Stunden in dem dunklen Kellerraum mit der Hausgemeinschaft, ausgesetzt war.

Nur jetzt keinen Schnupfen, Husten oder noch Schlimmeres kriegen!

Karin ließ Gott sei Dank alle Transporte von oben nach unten problemlos über sich ergehen und verschlief die Zeit vom ersten Heulton bis zur sehnlich erwarteten Entwarnung ohne Protest. Als wollte sie sagen: macht Euch doch nicht verrückt!

Die Furcht, es könnte trotz aller Vorsicht doch zu einer Infektion kommen, trieb mich zu fast grotesken Maßnahmen. Kaum tat einer aus der Familie einen Huster, einen verdächtigen Nießer oder gar kraftvollen Schneutzer, durfte er sich dem Kind nur mit Mundschutz nähern – was selbstverständlich auch für mich selbst galt. Und wurde das Baby des abends in der Küche gebadet – was täglich von mir gehandhabt wurde – durfte niemand die Türe öffnen. Schließlich konnte jeder spontane Luftzug irgendwelche heimtückischen Keime hereinwehen.

Während aus dem Radio immer wieder das „Durchhalten“ beschwört wurde, flüchteten bereits die Menschen aus den östlichen Gebieten vor der Roten Armee. Ganze Trecks zogen mit ihrer nötigsten Habe gegen Westen… .Wie viele von ihnen mögen in den eisigen Nächten dabei erfroren und umgekommen sein… ?

Dagegen spielten in den Städten die Theater heitere Komödien, boten unbeschwerte Unterhaltung – Ablenkung von der Katastrophe um jeden Preis!

Kurt wurde in diesen Wochen oft infolge schwieriger Beschaffungsnöte auf Kurzreisen beordert, denn überall waren Engpässe entstanden, Ersatzteile für die zur Kriegsführung benötigten Waffenarsenale, waren kaum noch aufzutreiben.

In dieser Situation war sein Organisationstalent sehr gefragt. Zwar eine Herausforderung für ihn, wobei der Reiz der Aufgabe – nicht sein Zweck – einfach in deren Bewältigung lag.

Was er bei solchen Kurztouren zu den Industriezentren des Reiches sah und erlebte, versetzte allerdings seiner Zuversicht und seinem Glauben ans „Überleben“ einen argen Kratzer.

Wo einst Häuser standen, ragten jetzt kahle Gerippe in den Himmel, auf die immer neue tödliche Geschosse niederprasselten. Nicht nur Wohngebäude, auch die erhabenen Bauwerke, die Vorgängergenerationen erdacht und erschaffen hatten, lagen nun in Asche und Rauch und straften menschliche Vernunft Lügen.

Menschen gegen Menschen… der einzige Feind des Menschen ist leider der Mensch.

Ein ungewöhnlich milder März 1945 ließ nach dem frostigen Winter die schmutzigen, verharschten Schneefelder an den Rändern der Großstadtstraßen zögernd schmelzen.

Für die Menschen wurde indes jede Hoffnung auf ein erträgliches Erwachen aus dem Kriegstrauma schon im Keim erstickt.

Keine Chance, im Gegenteil, der Aufruf an alle Männer von 16 bis 60 zum „Volkssturm“ einzurücken, um in dieser Organisation bis zum letzten Atemzug – nach dem Slogan Sieg oder Tod – zu kämpfen, leitete den drohenden Untergang ein.

Fliegeralarm zwang auch die Bevölkerung von Wien in die „Schutzräume“. Ob diese Katakomben wirklich schützten, darüber stritten sich bisweilen Kurt und Mutter.

Während er auf dem Abstieg bestand, verweigerte sie sich schon mal – und blieb einfach in ihren 4 Wänden unter dem Dachboden.

Eines Sonntags in diesem Vorfrühlingsmonat, verhieß die Sonne ein besonders schönes Wetter, das zum Aufatmen nach der langen Wintertrübnis verleitete.

Mutter bereitete gerade das Mittagessen zu. Am weit geöffneten Küchenfenster vereinte sich der anregende milde Wind von draußen, mit den Düften, die aus den Kochtöpfen strömten, zu einer Appetit anregenden Melange.

Da, verdammt noch mal… .heulte wieder die verhasste Sirene.

Mutter überlegte… sollte sie oben ausharren, um die Mahlzeit zu vollenden, oder… ?

Aus irgendeinem Grund entschied sie sich diesmal für „unten“, drehte den Herd aus und spazierte wie die anderen ins unterirdische Verlies.

Im schummrigen Licht kauerten die 21 Familien des Mietblocks dicht nebeneinander – allerdings handelte es sich dabei fast ausschließlich um Frauen und Kinder.

Ich schob den Kinderwagen eng an mich heran und war froh, dass Karin unter dem aufgeklappten Dach ihren Mittagsschlaf hielt.

Ein kleiner, etwas älterer Junge weinte und hustete dagegen jämmerlich am Arm der Mutter, die ihn vergeblich zu beruhigen suchte.

Schon nach wenigen Minuten, nachdem sich alle in dem viel zu kleinen Raum installiert hatten, ward aus der Ferne, anschwellender Lärm hörbar… wurde stärker… immer stärker…

Dann, in Sekundenschnelle, donnerte ein Geschwader von Flugzeugen direkt auf uns zu.

Fast im gleichen Moment erschütterte ein fürchterlicher Krach das ganze Haus. Die Kellerwände erzitterten, von der Decke rieselte Staub auf uns hier Versammelte, die wir uns nicht zu bewegen wagten und geduckt, ohne Worte in atemloser Angst, den Horror zu überstehen hofften.

Instinktiv hatte ich mich schützend über den Kinderwagen gebeugt und uns allen war klar, diesmal hatte eine Bombe unsere Behausung getroffen.

Würde das Gewölbe halten?

Waren wir verschüttet?

Immerhin wir lebten und niemand schien verletzt.

Sekunden oder Minuten herrschte regungsloses Schweigen.

Dann… ein Aufatmen, der Ohren betäubende Lärm wurde dumpfer, klang nach abziehenden Maschinen.

Die Decke hatte standgehalten, aber was war mit den Wohnungen oberhalb?

Nach weiteren bangen Minuten folgte die Entwarnung…

Keiner wusste nach diesem gespenstischem Spuk was wirklich passiert war, wie schwer das Geschoß das Gebäude getroffen hatte.

Kurt wagte sich zusammen mit dem etwas widerwilligen, böhmischen Hausmeister, der sein Domizil im Parterre hatte, hinauf ins Treppenhaus.

Vorsichtig, zögernd – es könnte jeden Augenblick etwas einstürzen – stiegen sie Etage um Etage aufwärts. Unsere beiden Wohnungen lagen immerhin auf höchstem und daher für Luftangriffe, gefährlichstem Niveau.

Doch alles schien in Ordnung zu sein.

Kein Schaden… ?

Nicht ganz, denn da klaffte ein riesiges Loch genau oberhalb unseres Stockwerks, am Aufgang zum Hängeboden der Mieter. Hier hatte die Bombe das Dach durchgeschlagen und die Stiegen, die hinauf führten, zertrümmert.

Gott sei Dank, nur ein minimales Malheur und alle Parteien konnten in ihre Wohnungen zurückkehren.

Wir waren diesmal glimpflich davongekommen…

In den folgenden Tagen und Wochen fielen viele ehrwürdige Städte dem Terror aus der Luft zum Opfer. Auch Wien erlitt an seinen schönsten Gebäuden, wie dem erhabenen Stephansdom und der berühmten Oper schwere Blessuren.

Unaufhaltsam rückte Russlands Rote Armee nach Westen vor, trampelte alles nieder, was sich ihr entgegen stellte und trieb die Trecks tausender Flüchtender aus den Ostgebieten, vor sich her. Keiner fragte, ob denn diese armen Geschöpfe, von denen viele den qualvollen Trip nicht überstehen würden, wirklich mit Ihrem Führer, der sich indessen in seinem Bunker in Berlin verschanzt hatte, untergehen wollten.

Bald duftete die Natur wieder nach Frühling, an den Bäumen sprossen zart und jungfräulich die Knospen.

Der April gab sich diesmal ebenfalls sanft und mild, als wollte er Trost spenden all` den Leidenden und Verzweifelten und all´ dem, was Menschen so sinnlos einander antun.

In Budapest, der schönen Schwesterstadt an der gar nicht so blauen Donau, wurde bereits erbittert gekämpft.

„Als nächstes ist Wien dran“, prophezeite Kurt, als die Nachricht von der „heldenhaften Verteidigung“ dieser Metropole über den Rundfunk tönte.

„Das halte ich nicht aus, nein…“ jammerte Mutter bei dem Gedanken, dass bald auch in unserer Stadt geschossen und getötet werden würde. „das darf nicht sein, sie werden Wien verschonen!“

„Sie werden es nicht und wir werden es aushalten müssen…“ Kurt machte eine Pause…“und wir werden dabei überleben“, fügte er überzeugt hinzu.

Wenige Tage später wäre allerdings der so positiv eingestimmte Kurt, kurz vor dem endgültigen Kollaps selbst noch ein Opfer der Nazis geworden.

Eine unvorsichtige Bemerkung – Mundhalten um der Klugheit willen, gehörte halt nun mal nicht zu seinen Stärken – im Beisein des allgewaltigen Einkaufchefs, der seine beruflichen Fähigkeiten durchaus schätzte – war Ursache, um ihn gnadenlos der Gestapo ausliefern zu wollen.

„Soweit sind wir mit unserer Politik gekommen, dass die Russen vor Wien stehen“, hatte er seinem Ärger über die hoffnungslose Lage, Luft gemacht.

Eiskalt, ja, hasserfüllt blitzten ihm in diesen Moment die Augen des Mannes an, für den er stets pflichtbewusst gearbeitet hatte und der nun kaltblütig zum Telefon griff, um den Verräter, den Kollaborateur anzuzeigen.

Kritik an der Regierung, das war Landesverrat!

Kollegen, die Zeugen der staatsfeindlichen Äußerung geworden waren, beschwörten den Chef doch mit Rücksicht auf die Familie, das kleine Kind, Abstand von einer Verhaftung zu nehmen.

Doch was zählte in diesen Zeiten, wo sowieso der Tod überall umging, eine Familie…

Zum Glück gelang es den eindringlichen Bitten seiner Kollegen in letzter Minute, den Vorgesetzten zum Zurücklegen des Hörers in die Gabel, zu bewegen.

Wieder einmal davongekommen…

Ostern stand vor der Tür und viele der Fremdarbeiter – wie man die Zwangsverpflichtete nannte – traten ihren, ihnen zustehenden Heimaturlaub an.

Für Kurt und jeden Menschen mit klarem Verstand war klar, dass es sich nur noch um wenige Wochen oder Tage handeln konnte, bis der totale Zusammenbruch erfolgte.

Verstohlen und höchst vorsichtig bedeutete er den Urlaubsanwärtern, nach den Feiertagen nicht nach Deutschland zurück zu kehren … Ob sie es machen würden, war ungewiss. Die Knute der Partei schlug unbarmherzig zu und niemand konnte vorhersagen, zu welchem Zeitpunkt das Ende stattfand.

Kaum war das Osterfest vorbei, da begann auch schon der Sturm auf Wien, auf die Stadt die soviel Höhen und Tiefen, soviel Freude und Glück, aber auch Not und Leid in ihrer langen Geschichte als kaiserliches Weltreich und auch als Mittler zwischen Ost und West erlebt und erlitten hatte.

Eine Stadt voll Musik, voll Sehnsucht nach dem Paradies und dem Wissen, dass es dieses auf unserem Planeten nicht gibt.

Draußen in Gärten und Wiesen blühte verheißungsvoll der Frühling, während in den Außenbezirken die ersten Kolonnen der fremden Macht, auf die Metropole feuerten, die ohnehin schon aus vielen Wunden blutete: Franz Josefs Ringstraßenherrlichkeit lädiert … ,

das Burgtheater, die Oper, schwer verletzt… ., das Wahrzeichen „Steffel“ arg verstümmelt…

seine stolze „Pummerin“ zerborsten, stumm, trostlos, ohne Klang…

Das Gebäude der siebenjährigen Nazi-Herrschaft, dem als „Drittes Reich“ eine tausend Jahre währende Dauer, prophezeit worden war, begann ächzend und krachend von den Bomben und Granaten der Alliierten zertrümmert… einzustürzen… .

In diesen dramatischen Tagen spielte sich das Leben unserer Familie buchstäblich zwischen dem 4.Stockwerk, dem Erdgeschoss – wo ich tagsüber mit Karin, bei zwei älteren Damen Unterschlupf gefunden hatte – und dem Keller ab.

Als gedämpfte, aber schaurige Begleitmusik untermalten die Feuergarben von Angreifern und Verteidigern unsere mühsam aufrecht erhaltene Alltagstätigkeit.

Oft fragte ich mich vor dem Gitterbettchen von Karin bangend und zweifelnd…“werden wir wirklich überleben, wie Kurt überzeugt war… werden wir die Katastrophe überstehen und unser Kind in die Zukunft begleiten können?“

Gab es überhaupt eine Zukunft?

Wer wusste es, wer wusste es…

Es kam ein Tag in der zweiten Hälfte April – das genaue Kalenderdatum war längst unwichtig, illusorisch geworden, da stürmte Mutter, die sich immer mal wieder hinaus auf die Strasse stahl, mit den aufgeregten Worten…“sie sind schon da, sie sind schon da“… ins Haus zurück.

Also waren die Russen nun mit ihren Panzern auch in die inneren Bezirke eingedrungen und blitzschnell wie einst die roten Hakenkreuzfahnen, wehten nun im Frühlingswind weiße Leintücher aus den Fenstern der Häuser.

Und wie damals den braunen Brigaden, jubelte man jetzt den roten Truppen, als Befreier zu.

Es war die Elite, die Offiziere, die als erste durch den Stadtkern rollten und der Bevölkerung zwar ein sieghaftes, aber freundliches Gesicht zuwandten.

Kurt, zutiefst von der zwar erwarteten, aber erschütternden, endgültigen Niederlage der Heimat geschockt, herrschte Mutter an: „Kein Grund zur Begeisterung, nur eine Schmach, eine Schande, dass es soweit kommen musste, dass ein Volk so ins Verderben hinein manövriert worden ist, dass es nun elendiglich niedergezwungen werden musste… Eine mehr oder weniger ehrenvolle Kapitulation ja… aber dieses von einem Wahnsinnigen irre geführte, im Stich gelassene Deutschland, nun hilflos dem Chaos ausgeliefert… .nein das ist kein Grund zur Freude!“

„Es ist ja nur, weil endlich der Krieg zu Ende ist“, verteidigte Mutter ihre Euphorie. „Begreift ihr denn nicht… der Krieg ist endlich zu Ende!“

Wir begriffen erst einmal gar nichst… nur, dass eine fremde Macht jetzt statt der Nazis auf dem Boden unserer Stadt das Kommando führen würde und welche Konsequenzen, welche Gefahren das mit sich bringen könnte, davon hatte niemand die leiseste Ahnung.

Von einem auf den anderen Tag hatte sich die Welt radikal verändert.

Hatte ich gestern noch meine Ration Milch erhalten, gab es heute erst einmal gar nichts.

Keinen Strom, kein Wasser floss aus den Hähnen, kein Gas, um warmes Essen zu bereiten… totale Anarchie hatte die diktatorische Ordnung der Nazis abgelöst.

Es herrschte absolute Stunde Null… und nach der Schmach des ersten Weltkrieges, hatte nun ein noch viel verheerender Zusammenbruch die Nachkommen des einstigen Kaiserreiches in die Knie gezwungen und jeder einzelne war genötigt, diesen Fall ins Uferlose irgendwie zu überstehen.

Da nunmehr auch das Erdgeschoss nicht mehr sicher genug erschien, durfte vor allem ich nicht in einer Wohnung bleiben… In Windeseile hatte sich die Nachricht von Übergriffen in den Außenbezirken, als Warnung ins Zentrum verbreitet. Eine der schlimmsten Folgen des Einmarsches der Roten Armee, waren Vergewaltigungen von Frauen, sie mussten wie eh und je die Zeche für mörderische Kriege zahlen.

Als Konsequenz dieser schändlichen Entwicklung, zog ich nunmehr ins winzige Geviert unseres abgeschlossenen Kohlenreviers, das jedem Mieter als private Mini-Kammer in den unterirdischen Gängen, zustand.

Mehr sitzend als liegend, verbrachte ich die nächsten Nächte auf einem ausgedienten Sofa.

Und auch später, als die schlimmsten Ausschreitungen abgeklungen waren, drangen immer wieder Hilferufe von als Freiwild und Beute einer siegreichen Armee missbrauchten Frauen durch die lauen Nächte.

Kurt, bis gestern noch beruflich ausgelastet, befand sich im Heute, ebenfalls in einer anderen Welt, die ihre Ziele und Forderungen noch nicht preisgegeben hatte.

Der große Krieg war zumindest in Österreich zu Ende, aber der Zwang und Kampf sich in einem zerstörten Milieu ohne Konzept zu behaupten, der begann erst.

Kurt, als einziger, tatkräftiger Mann im Haus Nr. 15 fühlte sich vor allem für die Sicherheit der gefährdeten, weiblichen Mieter verpflichtet und versuchte den Hausmeister zu einer hölzernen Barrikade am Eingangstor zu überreden.

Der war zwar völlig desinteressiert… seiner alten böhmischen Mutter und ihm konnte nicht viel passieren und nach dem ganzen Trara wollte er seine Ruhe haben.

Doch Kurt ließ nicht locker, der Hauseingang musste im Interesse aller Bewohner mit Brettern vor eindringenden Plünderern verrammelt werden.

Mutter plagte vor allem die Sorge um Wasserbeschaffung. Da es im Haus keines gab, blieb nur der Weg zum Hydranten, der sich wenige Meter entfernt an der Straßenecke befand.

Mit 2 Eimern ausgerüstet, machte sie sich auf den Weg, um das lebensnotwendige Nass zu beschaffen.

Kurz vor dem Wasserspender lag ein toter Mensch, irgendein Unbekannter, wahrscheinlich von einer Kugel von irgendwoher, getroffen.

Nur schnell vorbei, hieß es jetzt, bevor einem selbst eine verirrtes Geschoss durchbohrte, Es gab so viele in diesem letzten Gefecht Dahingemetzelte, da blieb keine Zeit sich um einen von ihnen zu kümmern, zumal er ohnedies nicht mehr gerettet werden konnte.

In höchster Eile füllte Mutter ihre Kübel und schleppte aufatmend den schwabbelnden Inhalt nach Hause. Nie war Wasser so kostbar.

Die Nahrung reichte zum Glück für die nächsten Tage und Karin bezog sie noch direkt von mir.

Als nächste Vorsichtsmaßnahme wurde beschlossen, das Klavier vom eigenen Wohnzimmer wieder zurück in mein Jugendquartier zu übersiedeln.

Vater galt immerhin als von den Nazis Geschädigter, während Kurt und seine Familie ebenfalls als Freiwild behandelt werden könnten. Auch ich sollte mich nach der unfreiwilligen Kellerpartie samt Karin dem Schutz der eingesessenen „neuen“ Österreicher anvertrauen. Kurt traute sich zu, die erst vor einigen Monaten eingeweihte, eigene Wohnung im Notfall allein zu verteidigen. Mit Rücksicht auf den Schwiegervater und hilfreicher Initiative würde man den „Reing´schmeckten“ als männlichen Beschützer des Hauses, kaum provozieren.

Das Blatt hatte sich schlagartig gewendet.

Die bejubelten Nachbarn waren nun für die heimische Bevölkerung zur einzig schuldigen Ursache des Kriegs- und Nazidramas geworden – vielleicht auch um das eigene Mitwirken daran zu vertuschen.

Nach ein paar weiteren Tagen – zwar peitschten immer noch da und dort Schüsse durch die Straßen, tauchte das Gerücht auf, am nahen Franz Josef-Bahnhof würden von den Russen Erbsen an die Einwohner verteilt.

Sofort machten sich Kurt und Vater auf den Weg.

Tatsächlich ergatterten sie je einen Beutel der nahrhaften Hülsenfrüchte und traten stolz den Heimweg an. Da ballerte unerwartet eine Gewehrsalve durch die Luft.

Kurt packte geistesgegenwärtig Vater an den Schultern und zerrte ihn in die nächste Hauseinfahrt.

Am nächsten Tag mussten wir enttäuscht feststellen, dass ihre Ausbeute samt und sonders verwurmt war.

Nach vollendeter Bretterbarriere im Haus Nr. 15 durfte ich endlich wieder nach oben und in das Bett in meinem ehemaligen Kabinett umziehen.

In anderen Teilen des deutschen Reiches tobte der Krieg immer noch weiter, von dessen Verlauf wir jedoch kaum etwas erfuhren.

Wie in uralten Zeiten drangen nur durch mündliche Überlieferung einige Informationen in unser aus den Fugen geratenes Dasein. Es schien so, als ob auch die roten Sieger nicht recht wüssten, was sie nun mit dem zerstörten Land und dessen Menschen anfangen sollten.

Irgendwann, der Kalender mit seiner Tages- und Wocheneinteilung war wie gesagt, bedeutungslos geworden – es müsste schätzungsweise Anfang Mai gewesen sein – ging das Gerücht um, Hitler hätte sich in seinem Bunker mit seiner Frau, die er vorher – am gleichen Tag – geheiratet hätte, das Leben genommen.

Mit Eva Braun, seiner langjährigen Geliebten!?

Die Leute trauten ihren Ohren nicht…

Hitler und eine Geliebte?

Niemand im ganzen Reich, außer vielleicht ein paar Augenzeugen, hatten auch nur die geringste Ahnung davon gehabt, nicht einmal vage Vermutungen waren bis zum Volk durchgedrungen.

So perfekt hatte die Nazi-Maschinerie funktioniert, war eine ganze Nation hintergangen, nach eigenen Wertmustern manipuliert worden!

Nein, man wollte es einfach nicht glauben!

Was mochte da noch alles ans Tageslicht kommen, von dem man nichts wusste?

Ebenso von Mund zu Mund weiter getragen, traf auch die Kunde ein, dass das Nazi-Regime kapituliert hätte. Endgültig und bedingungslos – am 8.5.1945 mit einer Hinterlassenschaft von totaler Verwüstung, totaler Anarchie, totalem Chaos.

Auf jeden Fall war damit auch im Reich der Krieg zu Ende. Der viel gepriesene, nur dem deutschen Volk verbundene „Führer“ hatte diesem nicht nur seine Geliebte verschwiegen, sondern sich auch noch durch Selbstmord der Verantwortung entzogen. Nach dem Motto: wenn die Deutschen nicht mit mir sterben wollen, sollen sie jetzt sehen, wie sie ohne mich durchkommen.

Ein paar eiserne Durchhalteprediger, wie der plärrende Propagandaminister Goebbels mit Frau, waren dem Vorbild gefolgt und hatten sich nicht nur selbst, sondern auch ihre 6 Kinder ins Jenseits befördert.

Ein sehr unwürdiger, sehr feiger Weg, sich nach den Millionen, die sie in den Tod geschickt hatten, nun dem irdischen Gericht zu verweigern.

Durch Kurts Initiative war der Eingang zu unserem Haus recht abweisend und sperrig geworden. Die täglichen Hilfeschreie von Frauen aus Häusern der Umgebung bewiesen, dass sich nachts auf Gassen und Straßen immer wieder fremde Lüstlinge herumtrieben.

Trotz der Vorsorge passierte es doch einmal, dass einige der „Befreier“ die Holzbarriere, nach Beute Ausschau haltend, durchbrachen und im Haus ihr Unwesen trieben.

Sie polterten an verschlossene Türen, niemand öffnete… schließlich erreichten sie auch die oberste Etage.

Kurt schaltete schnell.

Ehe sie vielleicht im Zorn die Nachbarwohnung stürmten, entschloss er sich, ihnen freiwillig zu öffnen.

Mutter, Vater, ich – glücklicherweise hatte Karin einen gesunden Schlaf – waren natürlich längst von dem Tumult erwacht und verhielten uns in atemloser Angst mäuschenstill.

Deutlich hörten wir, dass vis a vis etwas los war, vernahmen Stimmen, rührten uns nicht.

Quälend langsam verstrichen Sekunden, Minuten… bis endlich die Tür gegenüber ins Schloss fiel und knarrende Schritte abwärts, das Ende der Invasion andeuteten.

Gleich darauf erschien Kurt und verkündete seinerseits die Entwarnung.

Zwar war es bei dieser unangenehmen Begegnung seine Armbanduhr los geworden – derartige Objekte schienen für die ungebetenen Gäste höchst begehrenswerte Gegenstände gewesen zu sein – aber mit Zuhilfenahme all´ seiner, ihm innewohnenden Überzeugungskraft, hatte er es geschafft, nicht nur die eigene Familie, sondern auch die übrige Einwohnerschaft vor den unerwünschten Besuchern zu bewahren.

Er hatte einfach behauptet, dieses Haus sei so gut wie leer, da alle Mieter, insbesondere die Frauen und Kinder vor den Kämpfen auf Lands geflüchtet wären.

Wann und wie sich die Zukunft des vom deutschen Reich „okkupierten“ Anhängsel „Ostmark“ gestalten würde, stand in den Sternen.

Inoffiziell hieß es für die Bewohner bereits wieder Österreich.

Diverse politische Richtungen und Gruppen formierten sich und spekulierten auf die Macht im Land. Auch an Vater, als von den Nazis kalt gestellter Mitbürger, ging die Aufforderung an der Bildung des neuen Staates mitzuwirken… Ohne Hoffnung auf eine brauchbare Perspektive folgte er dem Ruf,lediglich um zu erkunden, ob Konzepte dafür vorhanden wären. Nur einen Tag lang…

Deprimiert winkte er ab, als Mutter ihn darnach befragte: „Jetzt versuchen die Kommunisten sich ans Ruder zu putschen! Ein Pack, das genauso wenig taugt, wie die Nazis.

Für ihn war damit endgültig klar: Nie mehr würde er seine Polizeiuniform tragen. Ebenso sicher war er jedoch, dass dieser Staat eines Tages aus Hitlers Asche auferstehen würde – ohne Kommunisten.

Drei Wochen nach den Kämpfen wurde mir gestattet, erstmals das Haus zu verlassen.

Endlich frische Luft, freute ich mich und spazierte mit Mutter in Richtung von Onkels Schrebergärtlein.

Niemals zuvor hatte ich das köstliche, milde Maiklima mit solch´ bewusster Intensität eingeatmet, wie nach den Wochen des Eingesperrtseins in Betonmauern.

Auch Karin strampelte fröhlich im Kinderwagen, dem sie nun bald entwachsen sein würde und die Planungen für ein luftigeres Gefährt hatten bereits begonnen. Neugierig begann sie sich derweil in dem eng gewordenen Bett aufzurichten, um endlich die Welt ringsum ins Visier zu nehmen.

Die Bäume, die die Straßen des Villenviertels „Cottage“ säumten, hatten sich mit ihrem duftigsten, hell leuchtenden Grün geschmückt.

Welch´ eine Wonne, welch´ ein Wunder präsentierte uns doch wieder die sich zu voller Pracht entfaltende Natur – allen menschlichen Unsinnigkeiten zum Trotz…

Plötzlich näherten sich Schritte und ein auf uns zukommender, russischer Soldat war zu erkennen.

Ich erschrak – einer von den Besatzern, bei denen niemand wusste, was sie gerade im Sinn hatten. Ich hoffte inständig, er würde uns ungeschoren unseres Weges ziehen lassen.

Aber nein… er nahm spontan das Lenkrad von Karins Wagen in seine Hände und schob ihn die leicht ansteigende Straße empor.

Ich wagte keinen Einspruch, auch Mutter konnte zunächst nichts anderes tun, als mit mir neben dem Fremden einherzugehen. Noch zeigte er ja keinerlei schlechte Absichten, lächelte im Gegenteil dem kleinen Mädchen im Gefährt, freundlich zu.

Nach längerem, für uns beklemmenden Schweigen, versuchte er in für uns unverständlicher Sprache und durch Gesten und Handzeichen zu erklären, dass er auch 1, 2, nein 3 Kinder und eine Frau zu Hause hätte. Die Größe des Nachwuchses verdeutlichte er uns präzise abgestuft, von unten nach oben.

Also ein Familienvater, der wie die Deutschen in einem weit entfernten Land, in den Krieg gezwungen wurde.

Als wir ostentativ vor Onkels Gartentor anhielten, gab der Soldat den Wagen samt kostbaren Inhalt mit einem leutseligen Gruß und wie es schien, etwas wehmütig, an mich zurück.

„Na also, auch unter den Russen gibt’s anständige Leut´“ stellte Mutter, die sowieso zu gläubigem Optimismus hinsichtlich der Menschheit neigte, befriedigt fest.

„Gott sei Dank“, atmete ich erleichtert auf und umklammerte mit festem Griff das Steuer der Mini-Kutsche.

Für Kurt, dessen Aktivitäten in den letzten Wochen sich ausschließlich aufs nackte Überleben konzentrierten, schlichen sich nun die ersten quälenden Gedanken ein, an das, was nach dem Kollaps werden sollte oder könnte.

Das deutsche Reich gab es nicht mehr, die angestrebte und vielleicht bald entstehende Republik Österreich war mit unangenehmen Kinderkrankheiten infiziert und würde ihn als einen von „Drüben“ kaum akzeptieren.

Eine Rückkehr ins zerbombte Berlin war aus verkehrstechnischen Gründen unmöglich und wäre auch unter den derzeitigen Zuständen weder mir noch dem Kind zumutbar gewesen.

Von seinen Eltern, die im Zuge der Flüchtlingswelle, Schlesien verlassen mussten, fehlte jede Spur.

Wo waren sie?

Hatten sie überlebt?

Noch zählte nichts anderes, als selbst über die Runden zu kommen. Unsere Familie hatte immerhin ein Dach über dem Kopf – ein Volltreffer des Glücks in dieser Zeit.

Alles Streben galt momentan in erster Linie der Nahrungsbeschaffung, die von Tag zu Tag prekärer wurde.

Die zögerlich einsetzenden Zuteilungen waren so lächerlich mickrig, dass das daraus zu ziehende Motto nur lauten konnte: Hilf´ dir irgendwie selbst!

Aber wie und wo?

In der Stadt etwas Essbares aufzutreiben war illusorisch, alle nagten hier am Hungertuch. Blieb nur das Umland…

Doch wie dahin kommen? Es fuhren weder Busse noch Züge. Das gesamte Verkehrsnetz war lahm gelegt. Und die 30 km zum heimatlichen Dorf und wieder zurück zu Fuß, das traute sich Mutter, da größere Wanderungen ohnehin nie zu ihren Ambitionen gehörten, nicht zu.

Gott sei Dank funktionierte das mündliche Nachrichtensystem präzise und blitzschnell und das verkündete eines Tages die frohe Botschaft einer Nahrungsquelle – allerdings in flüssiger Form!

Nur 20 Minuten entfernt, würde im Nobelbezirk Döbling Wein aus prall gefüllten Fässern sprudeln und deren Inhalt ergösse sich in Strömen die Straße entlang, hieß es… .

Die riesige Weinkellerei sei von den Russen entdeckt und erbrochen worden!

Dass dort enorme Vorräte lagerten, auch davon hatte die Bevölkerung keinerlei Kenntnis.

Sofort machte sich Mutter mit einer Nachbarin, die ihr die Kunde übermittelt hatte, auf den Weg, um zu sehen, was dort los sei.

Noch ehe die beiden Frauen das große Gebäude erreicht hatten, stieg ihnen der aromatische Geruch der verführerischen Flüssigkeit in die Nase, die befreit glucksend, im Rinnstein der Straße abwärts plätscherte.

An diesem Abend brachten Mutter und deren Begleiterin nur ein paar Flaschen aus den schier unzählbaren Regalen, in denen die edelsten Tropfen ruhten, nach Hause. Gerade so viele, wie jede zu tragen vermochte.

Schätze, die die fremden Besatzer oder Befreier, wie man sie je nach Geschmack nennen will, erspäht und in Besitz genommen hatten.

Angesichts der unerschöpflichen, unfassbaren Kellervorräte, begegneten die Soldaten den paar hungrigen und durstigen Einwohnern, die sich hier eingefunden hatten, freundlich und fragten sie bei jeder Flasche um Rat.

Ist diese hier „dobre“, hielt einer von ihnen Mutter das Etikett einer verstaubten Boutille unter die Nase. Offenbar wollte man wissen, was die erlesene Beute tatsächlich wert war und nur das Beste davon mitnehmen. Und die Auswahl war enorm!

Mutter, die zwar so wenig Ahnung von der Güte eines Weines wie ein Papagei von den Koleraturpartien einer Opernarie hatte, war sich voll des zu erwartenden Beratungslohnes bewusst und bewertete überzeugend die Qualität der vorgezeigten Flaschen.

Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, schüttelte sie auch ab und zu den Kopf, während sie beliebig andere mit einem „dobre“ lobte.

Und die Soldaten, denen vermutlich noch nie ein solches Schlaraffenland an berauschender Flüssigkeit in die Hände gefallen war, spendeten wohlwollend als Dankeschön den „Mammis“ für die Beratung, eine entsprechende Ration aus dem unerschöpflichen Reservoir.

Mir ihrer Errungenschaft zu Hause angekommen, erzählte Mutter von den unglaublichen Begebenheiten, von den zahllosen angestochenen Fässern, aus denen sich nun das sorgsam gehegte Nass einen Weg hinaus in die Straße der Freiheit bahnte und forderte damit den Zorn und die Wut von Kurt heraus.

„So haben sie uns betrogen…“ empörte er sich, „während wir nur bei besonderen Gelegenheiten Wein konsumieren durften, lagern Millionen von Litern und Abertausende Flaschen in den Kellereien“, brauste er entrüstet auf und hätte am liebsten als Draufgabe gleich eine von Mutters geschenkter Gabe, zertrümmert.

„… .und rinnen jetzt tagelang die Straße hinunter“, stachelte sie seinen Ärger noch auf. „Aber Morgen Nachmittag, da nehme ich Karins Badewanne und lass´ so viel Wein wie möglich von den aufgebrochenen Fässern, in sie hineinlaufen. Zu zweit können wir sie tragen…

„Das wirst Du schön bleiben lassen,“ fuhr Kurt sie an. „Bist Du verrückt. Ihr seid Frauen und daher besonders gefährdet. „Wenn, dann komme ich mit!“ Bei aller Wut, die Aussicht auf die flüssigen Genüsse dämpften seine Erregung ein wenig.

„Kommt nicht in Frage“, widersprach jetzt Mutter. Wir Frauen tarnen uns mit Kopftüchern als alte Jungfern, für uns interessieren die sich nicht… Und es ist Mai, da bleibt´s lange hell. Auch sind sie um diese Zeit noch nicht besoffen! Du als Mann, noch dazu als Ausländer, bist da viel mehr in Gefahr. Gegenüber alten Frauen sind sie kulant.“

Das glaubst Du.., aber es sind auch schon über 70-jährige vergewaltigt worden…

„Ich habe keine Angst, der Krieg ist endlich zu Ende… !“

„Aber nicht seine Auswirkungen,“ warnte Kurt nochmals, allerdings vergeblich.

Am nächsten späten Nachmittag marschierte Mutter mit Nachbarin und Karins nierenförmigen Waschgefäß, Richtung Döbling, wo schon von weitem sichtbar, sich der Strom rötlicher Flüssigkeit unaufhaltsam abwärts bewegte.

Wie sie im Labyrinth der Kellerei feststellen konnten, waren neue Fässer wahllos angestochen worden, die weiteren Mengen Wein, freien Lauf gewährten.

So schnell wie möglich hielt Mutter ihre Wanne unter eines der Löcher – die Begleiterin begnügte sich mit einem Eimer – und mit schwabbelnder Ausbeute kehrte sie wohlbehalten nach Hause zurück.

Eine köstliche Labe ernährte die nächsten Tage und Wochen unsere Familie, die außerdem die Stimmung verbesserte und half die missliche Situation zu überwinden.

Nach einiger Zeit wurde der Trip ins bäuerliche Hinterland für Mutter trotzdem unaufschiebbar.

Die Gerüchteküche hatte eine weitere Meldung unters Volk gebracht.

Russische Lastwagen würden regelmäßig von der Stadt ins Umland fahren und dabei auch Zivilisten mitnehmen.

Eine Gelegenheit, die unbedingt genutzt werden musste.

Kurt, der jetzt keinerlei Staatsbürgerschaft besaß und als „feindlicher“ Ausländer galt, bestand darauf, sie zu begleiten.

Die beiden hatten in ihrem Engagement und Ehrgeiz zwar immer wieder einmal Querelen miteinander auszufechten, was besonders meine Nerven strapazierte, aber wenn es darauf ankam, etwas zu wagen, hielten sie in einer Art uneingestandener Hassliebe, ehern zusammen.

Mutter packte Bettwäsche und sonstiges, nicht unbedingt benötigte Utensil in eine Tasche und gemeinsam pilgerten sie zu der Stelle, an der die russischen Lastwagen aufs Land hinaus ausschwärmen sollten.

Sie hatten Glück, es dauerte nicht lange und schon war einer davon in Sicht.

Die Fahrer hielten ihre Lkws nicht an, verlangsamten aber das Tempo derart, dass Bürger, die mitfahren wollten, aufsitzen konnten.

Kurt hievte zuerst Mutter, dann sich selbst neben einige andere „Hamsterer“ auf die geräumige Ladefläche hinauf.

Mutter kannte die Gegend und bedeutete am richtigen Wegesrand ihren Wusch zum Aussteigen, wobei man auf die gleiche Weise absprang.

Zu Fuß drangen die Beiden weiter ins Dorf vor.

Der Bauernhof, den Mutters Patentante bewirtschaftete, wirkte wie immer ziemlich verschlampt. Mit kaum verhohlener Genugtung über die veränderten Verhältnisse empfing man die Stadtleute. Endlich konnten die Bauern über sie triumphieren… man wusste natürlich, dass die jetzt arg hungerten und forderte für die hauseigenen Produkte entsprechend gepfefferte Gegenwerte. Damit hatten sie jetzt das Sagen und nutzten die Gunst der Stunde.

Davor schützte auch keine Patenschaft!

Mutter, gewiss nicht unbegabt bei Tauschgeschäften, konnte für ihre gute Leinenware nicht mehr als einen großen Eimer Schweinefett herausholen, der irgendwo heimlich vor den Behörden vergraben gewesen und daher bereits ranzig war. Immerhin enthielt er genug Schmirgel für den täglichen Fettbedarf.

Kurt, der Zu´graste, hatte bei dem Handel, sehr zu seinem Ärger, überhaupt nichts zu melden.

Gleichwohl waren damit die Mahlzeiten für ein paar Wochen gesichert und man machte sich auf der hölzernen Plattform eines der russischen Lkws mehr oder weniger zufrieden, wieder auf den Rückweg.

Nach fast 8 Monaten floss meine Milchquelle zunehmend spärlicher und war für den Bedarf von Karin unzureichend.

Zudem schien diese ihrerseits, von dem täglichen Einerlei die Nase voll zu haben und verweigerte trotz raffinierter Tricks immer häufiger mein Trinkgefäß.

Ein Ersatz musste gefunden werden…

Dank dem unwiderstehlichen Drang zur Vermehrung hatte Mutters Vater, ihr nicht nur 12 echte Geschwister beschert, sondern er hinterließ auch noch 3 Kinder seiner ersten, verstorbenen Frau und bereicherte damit die Familie durch Stiefgeschwister.

Eine davon betrieb nur eine halbe Wegstunde entfernt, einen der typischen „Tante Emma“ -Lebensmittelladen.

Das Geheimnis der Effektivität dieses Geschäftes lag nicht im Laden selbst. Ihr längst ins Jenseits abgewanderter Ehegemahl hatte ihr auch ein ansehnliches zweistöckiges Haus mit einem großen Hof vermacht. Nicht ganz unüblich in der Weltstadt Wien, trennte dieses „Atrium“ manch´ ehrwürdig biederes Haus von der Außenwelt ab.

Und gar nicht weit vom, mit Prachtbauten gespickten Zentrum der Metropole weg, tummelten sich in diesen mit Kopfstein gepflasterten Geheimterritorien da und dort, Lebewesen wie Schweine und Ziegen,

Im Gegensatz zum nostalgischen Pawlatschen-Milieu, handelte es sich bei diesen Hinterhöfen oft um privilligierten Privatbesitz, der von der Obrigkeit registriert, aber anerkannt wurde.

Ein Miniatur-Landgut – abgetrennt vom Betrieb der Straßen, eine wohlhabende Elite-Gesellschaft inmitten der Stadt, in dessen versteckten Refugien immer noch ein praktischer, archäischer Alltag ablief.

Schon in den eben erst zu Ende gegangenen Nazi-Zeiten, hatte Mutter an den Arbeiten, aber auch den Erträgen dieses Reservoirs teilgehabt. Gegen Abgabe der entsprechenden Lebensmittelmarken erhielt sie nach gestrengem Regelement von dem jährlich von der Stiefschwester geschlachtetem Schwein einen Anteil. Diese Teilverpflegung lag mangels anderen Platzes als „geselchter“ Leckerbissen unter den elterlichen Betten, bis er schon bald nach Kriegsende, verbraucht war.

Neue Ferkel gab es bei der Stiefschwester nicht mehr, aber ein paar Ziegen fristeten im Hof immer noch ihr Dasein.

Da Mutter und später auch Kurt stets tatkräftig für Grünfutter aus der Umgebung für diese wahren Vielfraße gesorgt hatten, erwarteten sie in diesen Notzeiten auch eine Beteiligung am,

vom Euter der Tiere gespendeten, weißen Saft.

Aber Schwesterchen hatte ebenfalls den Trend der Zeit erkannt. Wie die Bauern am Land, hatte sie sofort begriffen, dass es jetzt galt, die wahren Werte des Lebens – Essen und Trinken – als größten Schatz zu hüten und nichts davon abzutreten. Also hockte sie wie eine gluckende Henne auf allen Agrar-Präziosen.

Mit einem Gewicht von über 100 Kilo wohlgenährt, sonnte sie sich genüsslich in ihrem Reichtum, gönnte niemand davon und hoffte ihn noch vergrößern zu können.

Großzügig spendierte sie der lieben Schwester für Karin ab und zu eine kleine Dosenmilch aus dem Laden.

Mutter, empört über den fettleibigen Geizhals, sann auf einen Weg, diesen zu überlisten.

Das Melken der Ziegen gehörte immer wieder zu ihren Hilfsdiensten, nun benützte sie es zur dringend nötigen Selbsthilfe.

Sie fertigte einen Schlauch aus Taft – als Futteral an der Unterseite verschlossen – in den genau ein kleines Fläschchen hinein passte und nähte ihn an die Innenseite ihres Rockes.

Als gerechte Strafe für habgierige Knauserei zapfte sie nun die prallen Euter der braven Tiere an und füllte klammheimlich jeden Tag zuerst ihren versteckten Behälter mit dem nahrhaften Produkt.

Den immer noch ausgiebigen Rest lieferte sie freundlich bei der ahnungslos und träge hinter der Ladentheke wartenden Stiefschwester ab.

Solcherart blieb der Schein des guten Einvernehmens gewahrt und jeder fühlte sich auf seine Art zufrieden und froh.

Auch Karin schmeckte dieser, auf hintergründige Art und Weise besorgte Ersatz, offenbar ausgezeichnet.

Doch für ein heran wachsendes Menschenkind genügte diese Kost nicht mehr.

Vitamine mussten her… Gemüse, Karotten, Spinat!

Diesbezüglich war Kurt auf Spuren gestoßen, die zu einem Mann führten, der dies alles in einem kleinen Garten außerhalb des Stadtgebietes züchtete und das, in dieser vorsommerlichen Zeit, prächtig wuchs.

Allerdings war sein pflanzliches Eldorado nur durch einen stundenlangen Fußmarsch zu erreichen, denn keine Straßenbahn und auch kein Russenauto frequentierte die Gegend.

Jede Woche einmal machte sich Kurt auf den Weg und marschierte zu dem menschenfreundlichen Zeitgenossen, der bereit war, etwas von den Vitaminspendern abzugeben und transportierte es per Rucksack nach Hause.

Oft artete dieser Trip allerdings zu einem Abenteuer aus, denn immer wieder patrouillierte russisches Militär und überprüfte Passanten auf der Straße. Kurt besaß keinerlei Ausweis. Er galt als staatenlos. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als solchen Kontrollen rechtzeitig und geschickt auszuweichen.

Wachsam wie ein Spürhund musste er die Gefahr entdecken und ihr unbemerkt entrinnen, bevor sie ihn erwischte. Rechtzeitige Flucht als Überlebenstraining!

Die Strapazen des Friedens hatten die Todesängste des Krieges abgelöst. Und noch zeigte sich kein Licht für ein verführtes, verratenes Volk, das schuldig oder nicht, dem Untergang von den Nazis preisgegeben, versuchen musste, aus Trümmern und Staub empor zu krabbeln.

Unter den allzu dürftig zugeteilten Rationen litten besonders die Männer.

Der Hunger zwang oft zu skurrilen Maßnahmen, wie die Aufbewahrung von Brot durch jeden Einzelnen, um niemand in Versuchung zu einem „mehr“ zu verleiten.

Da stellte das ranzige Fett der Patentante – der „Godel“ – zur Verarbeitung von Germknödel oder ähnlichem, direkt ein Geschenk dar.

Die Nachricht, dass unser inzwischen offiziell als Österreich proklamiertes Land unter den Alliierten in 4 Zonen geteilt und verwaltet werden sollte, weckte bei der Bevölkerung die Hoffnung auf bessere Lebensumstände.

Damit würden weitere fremde Soldaten stationiert werden: Amerikaner, Engländer, Franzosen…

Auch die Stadt Wien sollte in Distrikte eingeteilt werden und unser Haus Schubertgasse 15, würde dem amerikanischen Sektor angehören.

Außer an Nahrung wurde auch der Bedarf an Dingen des Alltags immer größer, denn nichts, rein gar nichts gab es zu kaufen.

Da entdeckten findige Ladeninhaber einen Ausweg, indem sie ihre Schaufenster, die mangels Ware in gähnender Leere keine Kunden verlocken konnten, für eine hilfreiche Tauschaktion zur Verfügung stellten.

Eine Aktion, die an Olims Zeiten erinnerte.

Sehr schnell stapelten sich nun in den Auslagen bisher oft ungenützte und achtlos in Schränken herum gammelnde Gegenstände, an denen vielleicht dieser oder jener Gefallen finden konnte.

Praktisches, aber auch oft Kurioses wechselte auf diesem Weg oft seinen Besitzer.

Alles bisher als wertlos Eingestuftes, gewann plötzlich Bedeutung für anderweitige Verwendung.

Auch ich holte meine schicken, hochhackigen Pumps aus braunem Velourleder, mit denen ich desöfteren schwerelos über Tanzflächen geglitten war, aus der Versenkung und hoffte, sie gegen ein Paar praktischer Straßentreter umtauschen zu können.

Von Kurts Eltern war endlich ein Lebenszeichen eingetroffen!

Sie hatten mit einem Flüchtlingstreck vom jetzt polnischen Schlesien zu Fuß, zwar erschöpft und ohne Habe, ihre Heimatstadt Berlin erreicht und in einem, der dem Westen zugeordneten Bezirke, eine Wohnung gefunden.

Ein Grund zum Aufatmen, denn sie hatten überlebt und nur darum ging es in diesem Jahr 1945 für jeden einzelnen.

Für Mutter trafen die ersten Nachrichten aus dem weit entfernten Amerika ein.

Die gnä´ Frau und ihre Familie, einschließlich Großmama hatten sich in der Neuen Welt etabliert… etablieren müssen…

Genau wie jetzt das alte, tief verletzte und zerfetzte Europa, sich wie Phönix aus der Asche wieder zu erheben, versuchen musste.

Mit offenen Armen wurden in der bisher nur von Russen verwalteten Donaumetropole, besonders die Amerikaner empfangen. Von diesen ehemaligen Feinden erhoffte man sich eine Verbesserung in allen Bereichen.

Dass der asiatische Kontinent durch die inzwischen neu erfundene Todeswaffe „Atombombe“ im Kriegsschauplatz Japan den ersten Einsatz erfuhr, jagte manchen Bürger kalte Schauer über den Rücken.

Wieder mussten Abertausende zivile Opfer für die Verbrechen ihrer Obrigkeit büßen. Auch in diesem Teil der Erde hatten sich Gläubige, wie die „Kamakaze-Kämpfer“ freiwillig für die Ideen der Vorgesetzten geopfert, hatten sich wissend um den sicheren Tod, auf die vor der Insel gelagerten US-Flugzeugträger gestürzt, ohne diese vernichten zu können. Sinnloses Sterben… auch dort. Aus ihren Gebeinen wurden Andenken für die amerikanischen Militärs gefertigt… .!

Die Grausamkeit des Krieges kennt keine Moral.

Als in Nürnberg im November die Prozesse gegen die Zentralfiguren des Nazi-Regimes begannen, lösten die dabei von den Siegermächten verbreiteten angeblichen Wahrheiten bei der Bevölkerung blankes Entsetzen aus.

Nur ein geringer Teil der Steigbügelhalter Hitlers konnte gefasst und vor Gericht gestellt werden, in dem ein ganzes Volk mitangeklagt schien.

Viele der Mittäter hatten längst, schlau und clever wie sie waren, ihre braune Weste gewendet und mit dem Weiß der Unschuld gebleicht oder waren nach irgendwohin entwischt.

Vernichtungsmaschinerien hätten in den Konzentrationslagern millionenfach Juden und andere unerwünschte Personen kaltblütig ins Jenseits befördert, hieß es da… Massenhaft Leichenfunde würden es beweisen… Umgebracht in Gaskammern…

Das was man bei diesen Prozessen zu hören bekam, das durfte, konnte einfach nicht wahr sein… Man wehrte sich etwas als „wahr“ zu akzeptieren, was unvorstellbar schien – die systematische Tötung von Menschen…

Massenmord nicht nur an der Front, sondern mitten in der Heimat, unter den Augen der Bevölkerung. Denn es musste Mitwisser gegeben haben und niemand wollte akzeptieren, dass der Völkermord dank eines dichtmaschigen Geheimnetzes dem Großteil der Bevölkerung verborgen geblieben war. Hermetisch von der übrigen Welt abgeschottet waren, Nachrichten über derartige Gräueltaten höchstens als vage Gerüchte unter das vom Krieg gepeinigte Volk gesickert. Trotzdem hatte es nun die Zeche für undenkbare Verbrechen mit zu tragen.

Dass Antisemitismus in Deutschland und auch Österreich bereits vor Hitler unterschwellig vertreten war, konnte nicht geleugnet werden. Es gab zum Beispiel seit 1894 die Partei der „Alldeutschen“, die den aggressiven Nationalismus predigte. Und sogar der österreichischen Kaiserin Maria Theresia wurde nachgesagt, sie sei auf Juden nicht gut zu sprechen gewesen.

Doch der Plan, Menschen wegen ihrer Rassenzugehörigkeit zu töten, konnte nur in satanischen Gehirnen entstehen.

„War Hitler als Hauptschuldiger an dem ganzen Unglück auch der Alleinschuldige?“ überlegte ich eines Vormittags, als wir mit Karin einen Spaziergang zum Türkenschanzpark unternahmen.

„Wie werden ihn die, die nach uns kommen und diese Zeit nicht erlebt haben, einstufen?

Als fanatischen Narren,, als Germaniens Erneuerer, der von bösen Feinden besiegt wurde, als despotischen, größenwahnsinnigen Träumer oder gar Teufel?“ überlegte ich.

„Jeder Belzebub braucht eine Gefolgschaft!“ spann Kurt den Gesprächsfaden weiter, „immerhin hatte er am Anfang die Rolle des Erzengels glaubhaft gespielt. Da fiel es nicht schwer eine Anhängerschaft um sich zu versammeln. Dann haben viele am Drehbuch zur Tragödie mit geschrieben!“

„Dass sein Experiment in einer solchen enden würde, war den meisten nicht klar“, versuchte ich das Unfassbare dieser Entwicklung zu verstehen.

„Überall gab es Kreise, die den Juden mit Skepsis begegneten. „Der Schwiegersohn von Richard Wagner, wo Hitler später aus und ein ging, war der Engländer Chamberlain – ein angesehener Kulturphilosoph und Schriftsteller und… unleugbar, ein Antisemit!“

„Stimmt“, unterbrach ich Kurt und erinnerte mich an ein Buch von ihm, das ich vor Jahren gelesen hatte. In seinem Werk „Mensch und Gott“ kam seine Abneigung gegen das Alte Testament und das Judentum deutlich zum Ausdruck! Und Richard Wagner selbst“, erschrak ich…

„Niemand wird den berühmten Meister, der so viele Juden als Verehrer seiner heroischen Opern hatte, ernstlich als Antisemit verdächtigen. Und selbst, wenn er in diese Richtung tendiert hätte… Hitlers Lösung des Problems, die wir entsetzt zur Kenntnis nehmen müssen,

wäre ihm als verdammte Absurdität erschienen.“

Am Weihnachtsabend des Katastrophenjahres 1945, in dem so manches Leben von Kindern und alten Leuten durch Hunger ausgelöscht worden war, erklangen nach Jahren endlich Glocken des Friedens, aber ihr Ton litt an chronischer Heiserkeit und auch die „Pummerin“, Wiens stolzestes Geläute, hatte ihren ehrwürdigen Klang den letzten Phasen eines unehrwürdigen Krieges opfern müssen. Sie schwieg…

Wo blieben also die Glocken, die eine neue, bessere Zukunft einläuteten?

Sie waren noch nicht gegossen…

Noch längst war die Vergangenheit nicht bewältigt, der unerbittliche Kampf gegen den Hunger tobte weiter.

Auch das Jahr 1946 brachte für Kurt und mich nur ratlose Ungewissheit.

Die ersten Repatriierungszüge ins zerschossene deutsche Reich wurden jetzt zwar organisiert, würden aber für uns eine Fahrt in ein unkalkulierbares Abenteuer bedeuten.

So stand also unser Entschluss fest: Wir bleiben in Österreich!

Außerdem käme Kurt für einen attraktiven beruflichen Anfang in seiner Heimat bereits zu spät… alles was an deutscher Präsenz in Österreich agierte, hatte sich längst auf irgendwelchen Wegen nach Deutschland abgesetzt und auf einträgliche Pöstchenjagd begeben.

So war Kurt auch zu Ohren gekommen, dass sein ehemaliger Chef, der ihn kurz vor Ende des Krieges wegen einer lapidaren Bemerkung der Gestapo ausliefern wollte, nunmehr in dem gerade zögernd beginnenden Aufbau der Wirtschaft ein viel versprechendes, leitendes Amt als „Unbescholtener“ ergattert hatte.

Trotz aller Unbill wollten wir also in Wien bleiben und so schnell wie möglich die österreichische Staatsbürgerschaft anstreben. Zu diesem Zweck musste sich Kurt bei Mutters Bruder in Niederösterreich als Landarbeiter anmelden und hoffte als solcher, das begehrte Dekret bald zu bekommen.

Eine andere Möglichkeit bestand dafür nicht und erst nach Erlangung desselben, konnte er sich um eine angemessene Tätigkeit bemühen.

Was das für ein langwieriger, komplizierter Weg werden sollte, das ahnte er vorläufig noch nicht.

Das Gesetz billigte den Staatenlosen – ein neues Deutschland hatte sich noch nicht etabliert – lediglich eine Tätigkeit als Arbeiter zu.

Da Geld langsam wieder an Wert zu gewinnen schien, war eine Beschäftigung, gleich welcher Art inzwischen von Nöten. Irgendwie versuchte Kurt auf alle nur möglichen Arten einen Beitrag in die Familienkasse einzubringen, aber eine echte Chance, im neu proklamierten Staat Fuß zu fassen, hatte er vorläufig nicht.

So präsentierte sich auch das Familienidyll leicht angekratzt, was aber von allen Beteiligten unter dem Mäntelchen der Solidarität, sorgsam versteckt wurde.

Kurt, dessen Tatendrang sich nirgendwo austoben konnte – passiv verharren zu müssen, gehörte nun mal nicht zu seinen Stärken – begann an sich selbst zu zweifeln.

Er, der bisher alles, was auf ihn zukam, für machbar hielt, musste erfahren, dass es momentan für ihn nichts zu „machen“ gab. Er war unzufrieden, oft deprimiert, trotzdem aber bereit, nicht aufzugeben und ersehnte die Stunde, in der er als „Österreicher“ einen Neubeginn starten konnte.

Dass er bis dahin sich und auch mir jedes kleinste Vergnügen und wäre es nur ein Drink in einem der wieder eröffneten Cafes in der Innenstadt versagte, war für ihn Selbstverständlichkeit und für mich Missvergnügen.

Daher spielte sich unser Dasein in der Hauptsache im engen Bereich der beiden gegenüberliegenden Wohnungen ab – Tag für Tag… Monat für Monat… .

Doch da war ja gottlob Karin, die für entsprechende Abwechslung sorgte und mit ihrem beginnenden Geplapper und neuen Wortverbindungen die miesen Umstände ins Abseits drängte.

Mutter, für die der so gut situierte, viel versprechende Schwiegersohn, nun einen Teil seiner Attraktivität eingebüßt hatte, ließ sich zwar ihre Enttäuschung darüber nicht anmerken, wartete aber doch recht ungeduldig darauf, dass sich der Mann, dem sie ihre Tochter anvertraut hatte, wieder in einen erfolgreichen Manager verwandelte.

Lediglich Vater sah mit gelassener Ruhe den kommenden Dingen entgegen.

Im Haus gegenüber befand sich doch ein alter Bekannter, der so konservativ wie er, von den Nazis kalt gestellt, nun zum Chef einer Filmverleih-Gesellschaft für abgetackelte Nazi-Produktionen emporgestiegen und somit ein wichtiges Mitglied der neuen Ära geworden war. Er hatte versprochen, die Sache mit der Staatsbürgerschaft in seine unbeschmutzten Hände zu nehmen. Und wenn erst Kurts Verwandlung vom Deutschen zum Österreicher vollzogen sein würde, fand sich alles andere von selbst.

Gute Beziehungen waren stets von großem Wert, ohne sie lief nun einmal nichts. So war es immer und so würde es auch bleiben… .

Zuweilen entlud sich die verhaltene Unzufriedenheit bei Mutter und Konrad in einer ungebremsten Streiterei über belanglose Nichtigkeiten – für mich jedes Mal ein gefürchteter Affront, den ich als äußerst unangenehm empfand.

Seufzend flüchtete ich mich in solchen Fällen in mein eigenes Ich, versuchte es gegen die rüde Außenwelt abzukapseln. Ähnlich wie Vater, dem dies durch die Schwerhörigkeit, die er sich bei einem Dienstunfall zugezogen hatte, etwas leichter fiel.

Im Herbst des Jahres 1946 bot sich wenigstens für mich und Karin die Möglichkeit, wieder in den Heimatstaat eingebürgert zu werden.

Ein Gesetz besagte, dass im Land geborene Frauen samt Nachwuchs – das Einverständnis des Ehemannes vorausgesetzt – wieder den Schutz der neuen Republik erlangen könnten.

Natürlich war Kurt einverstanden. Immerhin ein erster Schritt vorwärts im engmaschigen Netz des bürokratischen Labyrinths.

Fast zur gleichen Zeit schimmerte auch für Kurt ein fahler Hoffnungsstreifen, am bisher so verfinsterten Horizont. Er fand ein Betätigungsfeld… bei den Amerikanern, die nun gemeinsam mit den drei anderen Kriegsgewinnern Stadt und Land kontrollierten.

Zwar kein wirklich erstrebenswerter Job, wieder nur Handlanger-Tätigkeit, die aber verhältnismäßig gutes Geld einbrachte.

Zudem erwiesen sich die ehemaligen Feinde vom anderen Ende der Welt als unkomplizierte Gesellen und schon nach ein paar Wochen entwickelte sich zu ihnen ein lockeres, kameradschaftliches Verhältnis.

Was die Regierungen zu Gegnern stempelte, das widerlegten oft die Menschen, wenn man sie nur ohne Hasspropaganda und Vorurteile miteinander umgehen ließ.

Üppig bepinselte der Oktober diesmal das Laub der Bäume in Wäldern und Parks aus seinem unerschöpflichen Farbtopf. Es glitzerte und vibrierte in allen Nuancen an den Ästen, während sich hauchzarte, weiße Fäden im Sonnenlicht flimmernd um das bunte Blattwerk spannten. Während die knorrigen Stämme verrunzelt und verkrustet im Erdreich ankerten, boten ihre Kronen einen schillernden Baldachin von konkurrierenden Farbvarianten, wobei jeder Wipfel seine individuellen Möglichkeiten zum Besten gab.

Sanft und mild animierte die Sonne des Tages zu einem Spaziergang hinaus ins Freie.

An einem solch´ viel versprechenden Nachmittag hatte ich mich mit Kurt zu einem Treff nach seiner Arbeit verabredet, um noch ein wenig den ausklingenden Tag zu genießen, ehe wir in das staubige Gassengewirr der Stadt zurückkehren wollten.

Im „Volksgarten“, dem großen und beliebten Park für Sonntagsbummler wartete ich auf einer Bank in der Nähe des Denkmals von Franz Grillparzer auf meinen Gemahl.

Sechs Szenen aus den Werken dieses berühmten Dramatikers befanden sich an den Wandflächen des Monuments und meine Gedanken glitten in meine Schulzeit zurück, in der ich auf einem Stehplatz des Burgtheaters, fast alle Aufführungen dieses Dichters erlebt hatte. Theaterstücke, die die Handschrift eines schwierigen, vielleicht schwermütigen Charakters trugen und voller Dramatik die Bühne beherrschten.

Dabei fiel mir eine seiner Formulierungen ein, mit der er vermutlich einen Prozess zu deuten versucht hatte: „Von Humanität durch Nationalität zur Brutalität…“

Was meinte Grillparzer damit?

Und hatte sich nicht 60 Jahre nach seinem Tod diese These durch Hitler, aufs Grausamste bewahrheitet…“

Ich musste fast eine Stunde ausharren, ehe ich Kurt kommen sah.

Sofort fiel mir sein merkwürdiges Aussehen auf.

Finster blickend, mit zusammen gezogenen Brauen eilte er auf mich zu.

„Jetzt ist alles aus…“ platzte es statt einer Begrüßung aus ihm heraus.

Ich erschrak. „Um Himmelswillen, was ist denn passiert?“

Ohne eine erklärende Antwort ließ er sich neben mich auf die Bank fallen, stützte die Arme auf die Knie, bettete den Kopf in beide Hände.

„Ich bin Morgen zu einem Verhör bei den Amerikanern bestellt… sie haben meine Parteinummer herausgefunden!“

Ich war schockiert. „Wieso Parteinummer? Du hattest doch überhaupt keinen Kontakt mehr zur Partei! Genau um der zu entkommen, bist Du nach Wien gegangen.“

„Natürlich“, pflichtete Kurt bei. „Seit ich von Berlin weg war, hatte ich nie wieder von dieser Organisation gehört. Wie meine Mutter sich dabei herausgeredet hat, weiß ich nicht! Aber…“, seufzte Kurt und legte eine Pause ein.

„Was aber…“, wollte ich wissen.

„Ich hatte auf dem Personalbogen der Flugmotorenwerke, wo man, wie überall in großen Betrieben ohne Parteimitgliedschaft keine vernünftige Stelle bekommen konnte…“. Er holte tief Atem, „in diesem Fragebogen hatte ich meine ehemalige Nummer angegeben.“

„Mein Gott“, ich war entsetzt. „Warum denn das?“

„Erstens wollte ich beruflich vorwärts kommen und nachdem ich einen leitenden Posten in Aussicht hatte, wäre ich sowieso zur Parteimitgliedschaft gedrängt worden. Mit der Angabe der Nummer kümmerte sich niemand mehr um diese Sache und ich hatte meine Ruhe – bis jetzt… !

„Unglaublich… Und ausgerechnet diese Personalakten, wo doch so ziemlich alles im Krieg in Trümmer geschossen worden war, die sind erhalten geblieben?!“ schüttelte ich den Kopf.

Kurt nickte. „Und werden mir jetzt zum Verhängnis!“

Ich winkte ab. „Unsinn, Du hast nichts verbrochen, hast niemand etwas zu leide getan…“

„Aber ich hatte als leitender Angestellter in einem Rüstungsbetrieb für den Krieg gearbeitet und das sogar mit Erfolg. Damit sind wir alle schuldig, werden dafür zur Rechenschaft gezogen.

In den Nürnberger Prozessen hatten sie erst einmal die obersten Bonzen – soweit die sich nicht aus dem Staub gemacht haben – verurteilt. Aber die Gerichtsbarkeit geht weiter – jetzt sind wir anderen dran!“

Ein längeres Schweigen folgte.

„Und wenn so nach und nach all´ das Brutale, das unter diesem Regime passierte, offenbar wird, sind wir dann nicht tatsächlich alle schuldig? Auch die, die wir Hitler nicht als Retter der Menschheit umjubelt hatten? Wer kann schon unterscheiden, welcher dafür war und welcher nicht?“

Ich blickte nachdenklich in das grün, gelb, braun gesprenkelte Blättergewirr über mir.

„Eine Art Kollektivschuld, also“, murmelte ich vor mich hin.

Kurt überhörte den Einwand, fuhr sich selbst anklagend fort: „Dass wir von dem Ausmaß der Gräueltaten und den Massenmorden in den Konzentrationslagern in solch´ gigantischer Form erst jetzt erfahren haben, das will uns doch keiner glauben… es scheint ja auch unglaublich!“

„Auch die Amerikaner wissen, unter welch´ diktatorischer Knute wir standen“, versuchte ich das Horrorszenarium zu entschärfen.

„Trotzdem“, beharrte Kurt „wir müssen uns schämen, Deutsche zu sein! Germanenhysterie, Herrenmenschen-Glaube… solche Wahnideen hätten uns beizeiten aufhorchen lassen müssen!

Aber sie waren wohl zu klangvoll, zu verlockend und haben ganz normale Menschen zu Handlangern und Vollstreckern, sprich´ Mördern, verführt!

Deutschland, wo bist Du hingeraten… nach der Aufklärung, nach Dichtern wie Schiller und Goethe ein Rückfall in düsteres Mittelalter, wo Menschen als Hexen am Scheiterhaufen verbrannt wurden“, stöhnte Kurt von neuem: … das Gruselkabinett unserer Zeit!“

Ich fröstelte plötzlich, nicht nur weil ein kühler Luftzug den anbrechenden Abend ankündigte und die eben noch schillernden Farben fahl erschienen.

„Komm´ lass uns aufbrechen… es wird schon alles gut gehen!“ Ich stand auf.

Auch Kurt erhob sich schwerfällig. „ich werde jedenfalls Morgen für alle Fälle Waschzeug und Pyjama zum Verhör mitnehmen. Sollte ich abends nicht nach Hause kommen, sei tapfer… Dir kann nichts passieren!“

Ehe es zu dunkeln begann, spazierten wir in Gedanken versunken, zur Ringstraße und dem Schottenring, wo auf freiem Platz die zwei mächtigen Türme der neugotischen Votivkirche in den Himmel ragten, die 1853 als Dank für das missglückte Attentat auf Kaiser Franz Josef I. errichtet wurde.

Auf der von Geschäften gesäumten Währingerstraße, lockten nach den Jahren der Verdunkelung wieder Licht und bescheidene Reklamen, die Blicke der Vorübergehenden auf erleuchtete Auslagen.

Es war Frieden… kein Bombenhagel mehr, keine bangen Nächte in miefigen Kellerverliesen, in denen man den Hauch der Unterwelt atmete.

Frieden – ein jahrelanges Fremdwort…

Aber hatte er auch in den Köpfen Einzug gehalten?

Saß der Schock dieses Krieges nicht noch immer tief in den Gehirnen?

Eine der rot-weißen Straßenbahnen bog rumpelnd auf quietschenden Gleisen um die Kurve der Schwarzspanierstraße, mit dem Ziel Grinzing und seinen Heurigenlokalen.

Unwillkürlich erschraken wir bei ihrem Auftauchen, zuckten zusammen, obwohl deren Geräusche uns tagtäglich, wohl vertraut, begleiteten.

Doch heute hatten wir für das gewohnte Umfeld offenbar keinerlei Wahrnehmung. Alles erschien uns beängstigend, abweisend, stempelte uns plötzlich zu Mitschuldigen am knapp überstandenen, gespenstischen Welttheater.

Am folgenden Morgen verstaute Kurt die wichtigsten Toiletteartikel samt Nachtzeug in einer Tasche und verabschiedete sich ohne weitere Worte von mir.

Bald danach startete ich wie stets zu einem vormittäglichen Spaziergang mit Karin, in die nahe gelegene Cottage.

Karin ließ sich von der sanften Schaukelei des Sportwagens einschläfern und träumte wahrscheinlich von Dingen, die die Erwachsenen längst vergessen hatten.

Waren wir wirklich alle mitschuldig an dem Drama… geisterten peinigend, Fragen durch meinen Kopf… alle, die wir diese Zeit miterleben mussten?

Steckten brutale Urinstinkte, überpinselt von humaner Tünche, in jedem von uns?

Verbargen sich hinter den sauberen Masken von Du und Ich, Gesichter wilder Bestien, die zu allem fähig sind, wenn entsprechende Impulse gezündet werden?

Wie nahe lagen Gut und Böse beieinander und wie leicht waren sie umkehrbar?

Kein Gott, keine Religion der Welt konnte bisher das Wesen Mensch, wahrhaft zu einem solchen erziehen…

Kollektivschuld… seit den Tagen des verlorenen Paradieses haftete sie dieser Spezies über die Jahrtausende an, trieb sie immer wieder ins Verderben.

Sie hatte die Unschuld der Tiere verloren, hatte sich für ihre Taten zu verantworten, hatte zu sühnen…

Ratlos seufzte ich vor mich hin, während ich den Sportwagen durch die prächtige Allee steuerte.

Ein privilegiertes Viertel, so nahe dem Herzen der Stadt und doch so isoliert von ihrem Betrieb und ihren Nöten.

Jetzt, nach dem großen Disaster, standen auch hier viele der schönen Villen leer, verlassen, fast schon brüchig inmitten von Gärten, die von niemand mehr bestellt wurden.

Hinter ihren abbröckelnden Mauern verbarg sich so manche Geschichte von Freud und Leid – ungeschrieben, unbekannt…

Die Mittagszeit war bereits vorbei als ich nach Hause zurückkehrte. Wie immer ließ ich das kleine Gefährt in der Nische zwischen den zwei massiven Strebern, die das Stiegenhaus und den Dachstuhl trugen, zurück und stieg mit Karin im Arm, die 4 Stockwerke hoch.

Oben angelangt, öffnete sich wie von Geisterhand sogleich die Wohnungstür und Kurt erschien im Türrahmen. Er lächelte mir zu, schien irgendwie entspannt.

„Du schon hier… was war los? Stammelte ich aufgeregt.,

„Komm´ herein“, forderte er mich auf. Keine stets begierig offenen nachbarlichen Ohren sollten Mitwisser unserer privaten Sorgen sein.

Vorsichtig setzte ich unser Töchterchen ab, befreite es von Mütze und Jäckchen. Sogleich wendete sich Karin, nach der längeren Abwesenheit ihrem Spielsachen-Bereich zu.

Ein leichter Wind von der geöffneten Türe und den ebenfalls offenen Fenstern hatte die Stores zu einem duftigen, luftgefüllten Ballon aufgebläht, der ein paar Sekunden vorwitzig ins Zimmer wallte.

„Erzähl´, erzähl´… drängte ich, „mich verfolgen seit gestern die fürchterlichsten Selbstvorwürfe.

Kurt schloss das Fenster, zog den Vorhang zu.

Wir setzten uns in die weichen, schon etwas durchgesessenen Fauteuils, die noch aus meinem Junggesellinnen-Inventar stammten.

„Sag´ schon was los war“, wurde ich ungeduldig.

„Die Amerikaner sind immerhin als Sieger Menschen geblieben, zumindest der, dem ich heute begegnet bin. Kein polemischer Fahnder, sondern ein sachlicher, vorurteilsfreier Prüfer der Tatbestände… Kurt hielt inne.

„Und… ?“

„Ich habe ihm die Geschichte von meiner Parteizugehörigkeit erklärt, so wie sie sich zugetragen hat und der Commander hatte Verständnis für meine Lage und mir zum Abschied einen guten Start in Österreich gewünscht!“

„Abschied… ?“ wiederholte ich. „Soll das heißen, dass Du nicht mehr bei den Amerikanern arbeiten kannst?“

„Ja, das heißt es“, bestätigte Kurt. „Auch wenn ich nur auf dem Papier und nur ein einziges Mal als Nazimitglied vermerkt war, können mich die Amerikaner nicht weiter beschäftigen“, fügte er fast entschuldigend hinzu.

Ich seufzte, senkte den Kopf. „Also doch Kollektivschuld…“

„Vorschriften…“ beschwichtigte Kurt, der für den glimpflichen Verlauf dieses Verhörs sehr dankbar zu sein schien.

Inzwischen war es Nachmittag geworden… die Sonne hatte ihre Strahlen zurückgenommen und tauchte das Zimmer in ein schummriges Licht.

Von gegenüber drang gedämpft emsige Betriebsamkeit zu uns. Ein Zeichen, dass Mutter sich bereits dem bevorstehenden Abendessen widmete, das angesichts von Kurt seiner Tätigkeit als Hauptmahlzeit, abends stattfand.

Am rechteckigen Tisch in der Mitte des Raumes versammelte sich nach einer Weile die kleine Gruppe und natürlich wurde dabei auch die neu eingetretene Situation im Familienrat debattiert.

„Wenn Du erst einmal die Staatsbürgerschaft hast“, versuchte Vater seinen Schwiegersohn über die neuerliche Schlappe zu trösten. „Dann wird alles anders!“

„Ja wenn… und wann“, seufzte Kurt. „Seit Monaten läuft nun schon der Antrag.“

An diesem Abend, wieder um eine Hoffnung ärmer, wirkte Kurt trotzdem zuversichtlich.

„Ich werde mich als Arbeiter am Bau melden“, verkündete er unvermittelt. „Die brauchen immer Leute und dafür gibt es ganz gutes Geld!“

„Um Himmelswillen“, protestierte ich. „Du bist diese schwere Arbeit nicht gewöhnt und ausgerechnet jetzt, wo der Winter vor der Tür steht!“

Kurt zuckte mit den Schultern. „Was soll´s, ich versuche es auf jeden Fall. Es ist genug kaputt und da gibt´s auch innerhalb von den zerbombten Häusern eine Menge zu tun.“

„Ja“, sekundierte Mutter, „Arbeit ist schließlich keine Schand´.“

Auch das Jahr 1947 trug noch schwer an den Zerstörungen des Krieges.

Sowohl am „Steffel“, der Oper und vielen anderen Palästen und Gebäuden klafften Wunden und Schrammen.

Auch die vielen Schäden, die die bescheidenen Wohnstätten der Bevölkerung erlitten hatten, warteten auf Beseitigung.

Kurt hatte wie geplant, Arbeit bei einer Baufirma angenommen und nach den frostigen Tagen des Winters begann die Arbeit draußen auf verschiedenen Baustellen. Sie erforderte viel körperliche Kraft. Presslufthämmer fraßen sich mit ohrenbetäubendem Lärm ins Erdreich, bis dieses aufbrach und Gestein und Schutt an die Oberfläche beförderte. Eine körperliche Herausforderung.

Doch die Tätigkeit brachte Geld… Schillinge, die inzwischen wieder einen Wert verkörperten.

Ein Husten, den Kurt sich im Wechselbad der Wetterallüren zugezogen hatte, wollte auch im Wonnemonat Mai nicht weichen und erreichte schließlich in einer handfesten Bronchitis seinen Gipfel.

Der zugezogene Arzt verbot energisch die weitere Arbeit am Bau.

Zwar erholte sich Kurt nach einiger Zeit von der Attacke, aber wieder stellte sich die bange Frage: Was nun…

Die Einbürgerung ließ weiter auf sich warten, nur sie hätte Kurt die Möglichkeit für eine andere Arbeit bieten können.

Nach langen Beratungen entschloss er sich für eine Umschulung zum Elektriker, was Mutter mit dem Sprichwort „Handwerk hat goldenen Boden“ erfreut befürwortete.

Das Problem war nur, dass die Lehrzeit für dieses Metier keinerlei Geld einbrachte.

Einzige Möglichkeit seine „Schuljahre“ zu überbrücken, war mein Wiedereintritt ins Berufsleben. Als in die Republik eingegliederte Bürgerin standen mir immerhin alle Türen dafür offen.

Und wie es so geht, kam bei der Suche nach einer Arbeit, der Zufall zu Hilfe.

Er zeigte sich in Gestalt einer jungen, attraktiven Frau, mit der ich eher ungewollt in Kontakt gekommen war.

Mit einem freundlichen „Grüß´ Gott“ und der belanglosen Floskel „wie geht’s“ fanden Begegnungen unten auf der Straße ihren höflichen Anfang. Doch dass es über das Stadium freundlichen Geplänkels hinausgelangt war, ging auf Konto eben jenes undefinierbaren Faktors „Zufall“, hinter dessen Schliche und Walten niemand zu schauen vermag.

Im Fortwirken jener geheimnisvollen Fügungen stellte sich dann auch noch heraus, dass jene blonde Dame, die Schwiegertochter des Mannes war, der die Weichen für Kurts Staatsbürgerschafts-Verfahren gestellt hatte.

Direkt gegenüber von uns, allerdings zwei Stockwerke tiefer, hatte dieser Familienclan seinen langjährigen Sitz.

Während Vater und Sohn wohlbekannt in der Gegend waren, spielten die zugehörigen Frauen – Gattin und Schwiegertochter – ihre Rollen im Verborgenen.

Als Gegner der Nazis hatte die Familie allerlei Unbill zu erdulden gehabt, wofür sie die neue Republik nun entschädigte.

Während der Sohn einen Direktorenposten bei der Wien-Film ausübte, hatte sein behäbiger Vater das Filmverwertungsgeschäft zugeschanzt bekommen und belieferte die Kinos in Stadt und Land mit noch vorhandenen Kopien der verpönten, verflossenen Ära.

Es mag Mitte Juni gewesen sein, als ich recht bedrückt meiner neuen Freundin von meinem Vorhaben erzählte, das holde Faulenzerdasein gegen eine einträgliche Arbeit einzutauschen.

Dabei machte mir der Gedanke, nach 3 ½ Jahren unabhängigen Privatlebens, geprägt vom Zusammensein mit Karin, wieder in die Zwänge eines Beruflebens überwechseln zu müssen, ganz schön Kummer.

„Warte mal…“ überlegte die Freundin, strich sich ein paar vorwitzige Locken ihres blonden Haares aus der Stirn.

„Mein Schwiegervater sucht dringend eine Kraft als Hilfe für die Disponentin“, ergänzte sie nach ein paar Augenblicken. „Wenn Du willst, spreche ich gleich heute Abend mit ihm!“

Ich unterdrückte einen Seufzer und nickte zustimmend. „Da wäre ich Dir sehr dankbar!“

So geschah es, dass ich ohne viel hin und her, halb erleichtert, halb wehmütig, in eine neue Lebensetappe hineinstolperte.

Als mich am 1.Juli, an dem die Sonne in voller Kraft und ohne Behinderung durch Wolken vom Himmel strahlte, eine rumpelnde Straßenbahn in den 7. Bezirk – dem Neubau – beförderte, empfand ich diese, als eine Art „grüne Minna“, die mich in einen unbekannten „Knast“ transportierte.

Der dunkle Flur, der dumpfe, kühle Geruch der Stiegen und Wände mit dem wuchtigen Aufzug in der Mitte – in deren erster Etage diese „Österreichische Filmverleih- und Verwertungsgesellschaft“ untergebracht war, legte sich wie der Hauch einer drohenden Festungshaft auf meine Lungen.

Hier also, ausgeschlossen von Licht und Sonne sollten sich meine weiteren Tage abspielen.

Drinnen in den Räumen der neu gegründeten Firma, erhellten wenigstens hohe Fenster die Düsternis. Es herrschte lebhafter Betrieb und man begrüßte mich freudig und herzlich.

Trotzdem, als ich in der kurzen Mittagspause dieses ersten Arbeitstages ziellos durch die von Häusern, wie von einem Korsett eingeschnürte Straße schlenderte, vom Ächzen der Straßenbahnen geplagt, auf staubigem Gehsteig von Fremden angerempelt, der Himmel nur als schmales Band irgendwo weit oben sichtbar – da überfiel mich eine unbändige Sehnsucht nach Freiheit, Ungebundenheit, nach den Spaziergängen mit Karin in grüner Flur… nach den Tagen, die ich erst jetzt, da sie verloren, so richtig zu schätzen begann.

6 Wochen später… …

Mitte August verwandelte eine Hitzewelle den ersehnten Sommer in einen Albtraum.

Die Sonne drohte die Dächer der Stadt zu verbrennen, fraß sich in Straßenschluchten, ließ die Schienen der Gleise erglühen, das Pflaster unter den Schuhsohlen spürbar heiß werden.

Jetzt erfuhr der für mich so beengend empfundene Käfig der Büroräume eine gewisse Vergoldung. In seinen massiven Mauern prallten die „Hundstage“ wie ein Schrapnel ab.

Fast scheute man sich in dieser Zeit, nach Arbeitsschluss in die, den Atem raubende Außenwelt hinaus zu treten.

Erst, wenn sich die Sonne längst hinter dem Horizont verkrochen hatte, wagte man sich wieder ins Freie.

An einem solchen Abend bummelten Kurt und ich nach den Mühen des Tages durch die fast menschenleeren Gassen in Richtung Gürtel, wo Bäume zu besserer Luft verhalfen.

Seit meinem Wiedereintritt ins Berufsleben, verliefen unsere beiden Wege in unterschiedliche Richtungen.

Kurt drückte fleißig die Schulbank, um irgendwann als solider Handwerksmann eine neue Zukunft aufzubauen. Ich, von neuen Eindrücken geradezu überschwemmt, war begierig meinem Partner von all´ dem zu berichten.

An vielen Stellen der Stadt, aber ganz besonders am Gürtel, hatten im Sommer die Gasthäuser zu ebener Erde vor dem Eingang am Gehsteig kleine Lauben aufgebaut, wo man sich abgeschirmt und doch „außerhalb“, entspannen konnte.

Nur 4 oder 5 Tische mit Stühlen hatten in diesen intimen „Schanigärten“ Platz. An Holzgerüsten rankte sich Blattwerk als schützender Paravant gegen die Außenwelt empor. Auch das Licht der Straßenbeleuchtung drang nur als gedämpfter Widerschein in dieses Separee, keine grellen Töne störten die lauschige Atmosphäre.

„Endlich Wochenende“, seufzte ich, als wir uns an einem kleinen Tischchen eines solchen „Schanigartens“ für ein Glas Wein niederließen.

„Na, na“, winkte Kurt lässig ab. Ich habe doch sehr den Eindruck, dass Dir die Arbeit beim Film ganz schön Spaß macht… es gibt ja fast kein anderes Gesprächsthema seither“, fügte er in leicht vorwurfsvollem Ton, hinzu.

„Ist zwar nur der Verleih… aber interessant trotzdem“, gab ich zu.

Tatsächlich hatte der neue Alltag die verlorene Freiheit allmählich vergessen lassen. Die Gegenwart dominierte über vergangene Freuden, für die jetzt nur noch die Wochenenden verblieben. Die Tage folgten einem anderen Rhythmus.

„Du kannst Dir nicht vorstellen, wie sich die Kinobesitzer um die alten Nazifilme reißen. Wir können nicht genug Kopien davon haben. Na ja, englische oder gar russische Produktionen scheinen nicht viel zu taugen, also rennen sie uns die Tür ein. Die Reprisen der verteufelten Nazis gehen weg wie die „warmen Semmeln“, ergriff ich sogleich „mein“ Thema.

Als Hilfsdisponentin eingestellt, trug ich nun seit einer Woche allein die Verantwortung für die bestmögliche Verleihung der Filme an die Kinos der Stadt.

„Nach dem Trauma der Nachkriegszeit flüchten die Leut´ halt allzu gern in die Scheinwelt des Films und ergötzen sich an seinem verführerischen Blendwerk. Der alte Goethe hat schon gewusst: Ein Wahn der uns beglückt, ist eine Wahrheit wert, die uns zu Boden drückt!“

Kurt bestellte beim herbei geeilten Ober zwei Viertel „Alten“, der weniger als der spritzige „Heurige“ den Magen strapazierte.

„Man muss höllisch aufpassen bei der Vergabe! Glaub´ ja nicht, dass das so einfach ist!“ sprudelte es im Nachhall der verflossenen Woche aus mir heraus.

„Du musst ständig auf der Hut sein, dass nicht ein Kino in der Nähe den gleichen Film vor kurzem gespielt hat. Konkurrenzkampf wie überall, denn wenn es der Nachbar schon gezeigt hat, bleiben beim Nächsten die Sitze leer und es wird ein Verlustgeschäft!“

Mit einem tiefen Atemzug unterstrich ich die Wichtigkeit meiner Position. Seit die bisherige Disponentin in Anbetracht der eigenen Karriere als Sängerin desöfteren als krankgemeldet der Arbeit fernblieb und schließlich gegangen worden war, trug ich die Verantwortung für gewinnträchtigen Profit allein.

Ein sanfter Wind war aufgekommen, umschmeichelte die stillen Zecher in der kleinen Laube, ohne sie wirklich erfrischen zu können.

Leise erzitterten die grünen Blätter an der hölzernen Barrikade, formten im matten Lichtschein allerlei groteske Muster ihrer selbst. An einer freien Ecke hatte ein Winzling von Spinne – kaum einen halben Zentimeter groß, ein fantastisches Netz aus hauchdünnen Fäden zu einem korrekten geometrischen Wunderwerk gesponnen. Meisterhaft ausgeführt, erbebte es in der leichten Brise, schwang ein wenig mit ihr mit… und hielt stand.

Wie so oft bei genialen Wundern der Natur, hatte niemand, angesichts eigener Wichtigkeiten, einen Blick dafür.

„Die alten Nazi-Filme erleben also bei Euch eine begehrte Auferstehung“, folgerte Kurt. „Wer hätte das gedacht?“

„Es gibt dabei aber ganz schöne Schwierigkeiten“, schränkte ich sofort ein.

„Jeder Film muss erst einmal von den Alliierten genehmigt werden und wehe, da tauchen irgendwo im Verlauf der Handlung Embleme oder gar ein Hakenkreuz aus dieser Zeit auf“, erläuterte ich eifrig, während der Wirt zwei Gläser mit der goldgelb schimmernden Flüssigkeit brachte und ein viel versprechender Duft uns in die Nase stieg.

„Jeden Tag sitzen wir nachmittags ein paar Stunden im Vorführraum und kontrollieren die Reprisen auf verdächtige Zeichen oder Äußerungen. Dabei dürfen wir uns natürlich keinesfalls vom Inhalt ablenken lassen. Höchste Aufmerksamkeit ist angesagt!

Außer dem Chef findet sich jedes Mal auch die Cutterin ein, die verfängliche Szenen herausschneiden muss, damit der Film freigegeben wird!“

„Na, dann erst einmal Prost auf Deine neue Karriere“, unterbrach Kurt, um das köstliche Getränk nicht erst warm werden zu lassen.

„Der Chef und die Cutterin, die ihr Büro ein paar Häuser weiter hat, sitzen bei diesen Vorführungen im Dunklen in der hintersten Reihe“, berichtete ich nach der Trinkpause weiter.

„Die haben ein Techtelmechtel miteinander… was ihr an dem alten Esel gefällt, ist mir ein Rätsel… sie ist verheiratet und eine wirklich nette Person!“

„Soll vorkommen“, zuckte Kurt die Schultern, der des endlosen Themas langsam leid wurde.

„Wir amüsieren uns immer köstlich über die verräterische Geräuschkulisse, die von hinten bis zu uns vordringt“, ließ ich mich nicht stoppen.

Mit uns meinte ich die neu eingestellte junge Kraft, die mir vor allem als Hilfe für Schreibarbeiten zugeteilt worden war und für die ich keine Zeit mehr fand.

Ununterbrochen bedrängten mich die Kinobesitzer, um alte, vom Krieg übrig gebliebene Kopien zu leihen. Die Quoten, die sie für die jeweilige Zone der Besatzungsmächte von deren Produktionen abspielen mussten, brachten Defizite, die nur durch frei gegebenes, altes Material wettgemacht werden konnten. Die vorgefundenen Exemplare reichten für die große Nachfrage bei weitem nicht aus.

Zwei Fahrer waren täglich per Motorrad mit der Auslieferung und Abholung der vermieteten Filmkopien unterwegs. Das Unternehmen florierte also.

Je mehr sich die Uhr der Mitternacht näherte, umso angenehmer wurde die Temperatur in dem kleinen Gärtchen. So folgte dem ersten „Viertel“, natürlich ein zweites.

„Auf weitere, erfolgreiche Arbeit!“ hob Kurt abermals sein Glas auf mein Wohl. „Ihr beliefert also auch die Kinos in der russischen Zone… ?“

„Natürlich“, bestätigte ich.

„Gott sei Dank ist das in Wien möglich. Da fahren die 4 Sieger in schöner Eintracht noch gemeinsam durch die Stadt“, versuchte Kurt das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. „Anderswo spricht man mehr oder weniger offen bereits vom „Kalten Krieg“ zwischen den Verbündeten!“

„Kalter Krieg“, entsetzte ich mich. „Was für eine Idiotie! Da haben sie gemeinsam die Nazis quittiert, Zerstörungen und Chaos hinterlassen und jetzt werden sie sich über die Aufteilung der Beute nicht einig…“

„Dass die Nazis verschwinden mussten, ist klar! Es war, wie wir viel zu spät erkennen mussten, eine absolut verbrecherische Klicke“, seufzte Kurt, „aber für die Zukunft können wir nur hoffen, dass nicht aus dem kalten, ein verheerend heißer Krieg irgendwo aufflammt!

Das eine „Schwein“ musste und ist geschlachtet worden, aber das andere wird nun immer fetter und dreister… wann wird seine Stunde schlagen?“

„Eine nächste Katastrophe, um Gotteswillen… ? Wehrte ich erschrocken ab. „Nicht daran denken… lass´ uns jede schöne, ruhige Stunde genießen…“ schüttelte ich alle Befürchtungen ab.

Nachdem die anderen Gäste kurz vor der Sperrstunde bereits aufgebrochen waren, strebten auch wir unserem Domizil zu.

Der Nachthimmel war von glitzernden Sternen übersät. Trotz der Konkurrenz von künstlichen, irdischen Lichtern der Stadt, schienen sie aus unvorstellbaren Fernen eine Botschaft zu dem winzigen Staubkörnchen Erde zu senden.

Wie von Künstlerhand auf samtdunklem Hintergrund gestickte Edelsteine grüßten sie aus Jahrmillionen-, Jahrmilliarden – Lichtjahren Entfernung als Pünktchen den Planet des Lebens… und sind doch alle mächtige Sonnen, die nach einem gigantischen Plan durchs Universum kreisen.

Wenige Monate später – inzwischen hatte wieder der Winter im Zyklus der Jahreszeiten seinen Zangengriff über Europa zugezogen, erfuhr ich am eigenen Leib wie sehr Konkurrenz, Neid und Gewinnstreben, den Alltag der Menschen beherrschten.

Es war die Zeit der kurzen Tage, in denen man gern, das triste „Draußen“ vergaß und in eine schönere Welt, wie sie das Kino bot, flüchtete.

Dem entsprechend herrschte in der Filmverleih- und Verwertungsgesellschaft Hochkonjunktur. Besonders die Kinobesitzer in der sowjetischen Zone lechzten nach der alten Ware, um den verlustreichen Zwang, unbeliebter Aufführungen, wett zu machen.

Eine resolute Dame aus dem 10. Bezirk nervte mich seit einer halben Stunde hartnäckig und ließ nicht locker, eine der zugkräftigen Raritäten aus meinem vielseitigen Terminbuch herauszufiltern.

Zum x-ten Mal wurden die Blätter mit Namen und Anzahl der Kopien durchsucht.

Auf jeden Vorschlag erhielt ich die lakonische Antwort „es ist noch nicht lange genug her, dass der Nachbar den Film im Programm hatte“ oder „ist bei mir bereits gelaufen!“

„Verstehen Sie denn nicht, ich brauch´ jetzt einen deftigen Reißer, sonst kann ich meine Bude zusperren“, beschwor sie mich, während ich langsam verzweifelte.

Natürlich verstand ich das Verlangen, aber woher einen solchen nehmen… ?

Ein weiteres Mal begann ich meine Dispositions-Bibel durchforschen, stutzte plötzlich und überlegte… .

„Geierwally“ stand auf einem der Blätter und verhältnismäßig wenig Eintragungen fanden sich auf diesem, nur mit einer Kopie verfügbaren Reprise.

„Das könnte vielleicht etwas für Sie sein“, meinte ich zögernd. „Die Geierwally, ein spannendes und glänzend gespieltes Bergdrama mit Heidemarie Hatheyer, aber…“

„Ja, den nehme ich, da kann ich mich nicht erinnern, dass er irgendwo in der Nähe gelaufen ist. Gott sei Dank“, unterbrach die Dame und hielt ihre Entschlossenheit bekräftigend, die Hand auf die Seite des Buches.

„Aber… .“ musste ich mich sogleich korrigieren, „die Geyerwally ist von den Russen noch nicht genehmigt! Und ohne deren Erlaubnis können Sie den Film nicht spielen!“

„Bis zu meinem Termin sind es ja noch über 14 Tage, da müssen Sie die Bewilligung doch beschaffen können!“

Ich dachte angestrengt nach. Ich kannte die Story, es fanden sich keinerlei verfängliche Szenen darin, nichts, woran die Sowjets Anstoß nehmen könnten.

„Na gut, ich will es versuchen und gleich heute die Genehmigung beantragen“ und teilte die Kopie „mit Vorbehalt“ für den 4-tägigen Wochenend- Turnus im 10. Bezirk ein.

Hochzufrieden verließ die Dame, ausgerüstet mit dem Reklamematerial als werbende Vorschau, das Büro im Neubau. Wochenendtermine waren stets die besten Sendezeiten und brachten auch dem Verleiher gutes Geld.

Als besagter Freitag für den Einsatz näher rückte und trotz der Bitte um umgehende Erledigung, kein positiver Bescheid von den Sowjets eingetroffen war, wurde ich unruhig, beschwor schließlich am Donnerstag die Kinobesitzerin, den Film abzusetzen und etwas anderes dafür zu wählen.

Kommt nicht in Frage“, empörte sich die. „Seit über einer Woche läuft die Reklame. Ich kann unmöglich etwas ändern. Machen Sie was sie wollen, ich spiele die „Geierwally!“

Ich eilte daraufhin unangemeldet zum Chef, schilderte ihm die Situation.

Der zuckte lediglich die Schultern. „Machen Sie was Sie wollen, ich weiß von nichts“, schob auch er mir den schwarzen Peter zu und überließ mich, leicht schmunzelnd, meinem Schicksal.

Wenn es klappt, dachte er vermutlich, gibt´s Gewinn, wenn nicht… na, ja… und wollte mit der brenzligen Lage nichts zu tun haben.

Das Wochenende wurde für mich zur Zitterpartie. Von gespenstischen Omen verfolgt, schlich ich ruhelos zu Hause herum. Würde es gut gehen, was passierte, wenn… ?

„Du wirst sehen, es klappt“, tröstete Kurt.

Auch Karin, für die ich nur an Wochenenden „voll“ da sein konnte, bekam auf ihre unendlich vielen Fragen, recht zerstreute Antworten.

Am folgenden Dienstag holte der Fahrer die so heiß umstrittene „Geierwally“ vom 10. Bezirk ins heimatliche Reprisendepot zurück. Ohne Antwort auf die schriftliche Eingabe, aber auch ohne irgendwelche Komplikationen war das monumentale Bergdrama die 4 Tage, vom Publikum begeistert begrüßt, über die Leinwand gelaufen.

Die Welt war wieder in Ordnung.

Aber leider nur scheinbar… denn während sich die Russen mucksmäuschenstill verhielten, tobte ein Tumult durch das Gebäude im Neubau. Dort hatte nämlich außer der Verleihgesellschaft auch ein amerikanischer Überwachungsoffizier für die österreichischen Filmgeschäfte, sein Büro.

Dieser stürzte zwei Tage später wutentbrannt und völlig außer sich zu meinem Chef herüber und prangerte lautstark das unerlaubte Geschehen im 10. Bezirk an.

Wer ihm dieses Wissen außerhalb des eigenen Kompetenzbereichs zugetragen hatte, sollte für die Beteiligten ein Rätsel bleiben.

Der Chef reagierte theatermäßig entsetzt, bedauerte den Zwischenfall außerordentlich und versicherte „beim Herrgott“, die eigene Unschuld.

Angesichts meiner alleinigen Schuld schien sich glücklicherweise eine Verfolgung wegen Geringfügigkeit der Person, für den aufgeregten Amerikaner nicht mehr zu lohnen. Fauchend kehrte er zu seinem eigenen Aufgabenbereich zurück.

Immerhin bewies das klirrende Säbelrasseln einmal mehr, dass die einstige Zweckverbindung West-Ost auch im Kleinen, wenn es um Lapalien ging, deftige Risse bekommen hatte.

Der Feind war gemeinsam nieder geknebelt worden, aber die diametral widersprüchlichen Weltanschauungen der Sieger wurden von Tag zu Tag offensichtlicher.

Im Verlauf des Jahres 1948 rasselte auch in meiner Privatsphäre manchmal der Säbel.

In Kurts Innerem nistete sich ein „Wurm“ als Störenfried des Haussegens ein, er fraß an seinen Toleranzgrenzen mir gegenüber.

Die eigene Hilflosigkeit in Sachen Beruf – es würde nach dauern, bis er sich nach Abschluss der Schulung eine Zukunft als Elektriker aufbauen konnte – warf einen Schatten auf das Engagement, mit dem ich meine Tätigkeit betrieb.

Als ich dann auch noch eines Abends dem häuslichen Herd fern blieb und stattdessen im Kreis der Kollegen der Einladung des Chefs zu einem Heurigenbesuch gefolgt war, kriegte der „Wurm“ tief drinnen eine nahrhafte Portion zu fressen.

Selbstverständlich wartete Kurt nicht friedlich im Bett auf meine Rückkehr, sondern wanderte, sich selbst bemitleidend, voll Unrast im Zimmer herum.

Wer weiß, was sie in dieser Nacht alles „treiben“ würde, mit wem sie sich womöglich zusammen tat? Wein machte bekanntlich für alle Dummheiten empfänglicher.

`Nein, alles was recht ist´, steigerte er sich in eine Rage hinein, ´das geht zu weit, das lasse ich mir nicht bieten… sie hat, wenn sie sich schon tagsüber um nichts kümmert, gefälligst am Abend zu Hause zu sein!´

Je später es wurde, umso intensiver pflegte Kurt seinen Zorn.

Natürlich „trieb“ ich in der fröhlichen Runde nichts Anrüchiges. Ich genoss den Abend in Grinzing, freute mich am Wein, der unbeschwerten, lustigen Atmosphäre und vergaß dabei ohne Bedenken, die Uhrzeit.

Als mich der Chef, der ja sein Quartier genau gegenüber hatte, gegen ½ 2 Uhr vor dem Haus Nr. 15 absetzte, erklomm ich beschwingt die 4 Stockwerke, sperrte vorsichtig, um niemand zu wecken, die Türe auf und war bass erstaunt, als mich Kurt in voller Montur, anklagend – nein, fuchsteufelswild – empfing.

Er hatte seinen Säbel in den Wartestunden scharf geschliffen und die Vorwürfe prasselten wie Peitschenhiebe auf mich, Sünderin, nieder.

Ein paar Tage währte die Fehde zwischen uns, bis andere, wichtigere Dinge das häusliche Gleichgewicht wieder herstellten.

Es sickerten Nachrichten über eine Währungsreform in Deutschland, nach Österreich Durch. Scheinbar tat sich dort endlich Positives. Die Eltern von Kurt in Berlin zu besuchen, war für uns immer noch unmöglich.

Im Juni verbreitete sich dann ein schockierende, für die weitere Zukunft negative Nachricht aus.. Am 24. 6. verkündete der schmalbrüstige Volksempfänger, dass die Sowjets sowohl Strassen- wie Wasserwege für den Güter – und Personenverkehr, aus den östlichen Zonen von und nach Westberlin, gesperrt hätten.

Eine Hiobsbotschaft, ein Affront, ein endgültiger Beweis für die gefährliche, spannungsgeladene Atmosphäre zwischen den Siegermächten.

„Was nun…“ fragte ich entsetzt, „die Westberliner eingeschlossen, gefangen in einer Enklave… rundherum die Russen… wie soll das weitergehen?“

„Das bedeutet, dass ganz Deutschland über kurz oder lang aus zwei konträr regierten Staaten bestehen wird“, prophezeite Kurt. „Aus einem kommunistischen und einem freien, westlich Orientierten!“

„Frei?“ wiederholte ich. „ Nach dem Chaos des Krieges, Hunger und Not jetzt schon wieder Ungewissheit und Angst vor einer Konfrontation zwischen Ost und West… !

„Wir sind in Österreich“, beruhigte Kurt.

„Auch da sind ja die Russen… .

Und wie sollen die eingeschlossenen Westberliner versorgt werden“?

„Es wird den Westmächten, falls die Blockade nicht aufgehoben wird, nichts anderes übrig bleiben, als die Bevölkerung aus der Luft zu versorgen!“

„Eine Narretei…

Was wird durch diese Verschärfung der Lage noch alles auf uns zukommen?“ konnte ich die neu eingetretene Situation nicht fassen. „Wie leicht kann es bei dem ganzen Gerangel zu einem neuen Krieg kommen“.

„Das wird es nicht… zumindest jetzt noch nicht“, überlegte Kurt. „Der Haken dabei ist die Atombombe, die auch der Russe hat – wie verheerend deren Wirkung ist, haben die Amerikaner in Japan ausprobíert und wissen um die Gefahr.“

„Hoffentlich“, seufzte ich. „Und wenn das mit der Versorgung aus der Luft klappen sollte, dann heimsen die Amerikaner auch noch den Ruhm ein, die heldenhaften Retter der Freiheit und Demokratie gewesen zu sein!“

„Ja, die Politik erfindet seltsame Wege um ihre Interessen zu vertreten und so lange sie uns den Frieden erhält, sollten wir ihr dankbar sein.“

Die folgenden Tage, Wochen, Monate bestätigten sich Kurts Vorhersagen. Westberlin wurde von den Westmächten mit allem, was dieser Teil der Weltstadt benötigte, aus der Luft versorgt. Ein Bravourstück, vergleichbar einem olympischen Sieg, das in minutiöser Präzision ablief. Planmäßig ging das Leben in Westberlin weiter.

Im anbrechenden Herbst 1948 lief mein Büroalltag besonders stressig ab.

Der Chef jammerte, dass die Vertreter für den Wiener Platz zu wenig Verträge beibrächten, auch die Dependance in Linz und die Steiermark, müssten in Anbetracht der großen Nachfrage, mehr Abschlüsse tätigen können.

Man war offenbar, vor allem in Linz, zu bequem für entsprechendes Engagement.

Das dortige Büro konnte man von Wien aus nicht intensiv genug kontrollieren.

Da ich mit der Kundschaft vor Ort bestens zurechtkam, beschloss der Chef mich für je eine Woche in die Provinz zu schicken, um ein wenig nachzuhelfen.

Mein Auftrag lautete:

Alle vorhandenen Kinos aufzusuchen und so viel wie möglich zusätzliche Verträge mit nach Hause zu bringen!

Für mich ein verlockendes Angebot, zumal die Tour nicht in einer „Pupperlhutschen“ – einem Motorrad mit seitlich angehängten Sitzkasten – sondern in einem richtigen Auto, einschließlich Chauffeur stattfinden sollte.

Dieses Auto war zwar ein alter Klapperkasten, der mehr schlecht als recht durch die Gegend ratterte, aber es schützte immerhin durch ein geschlossenes Dach vor Witterungsunbill.

In Oberösterreich und später noch einmal in der Steiermark von einem Dorf zum anderen kurven, die entlegendsten Filmtheater aufzuspüren und deren Besitzern die Reprisen der „guten alten Zeit“ aufschwatzen, würde schon eine angenehme Abwechslung in den routinierten Alltag bringen, aber wie Kurt von solcher Notwendigkeit überzeugen?

Seine nach wie vor beruflich unbefriedigende Situation, die schier endlose Wartezeit auf die Einbürgerung, reizte ohnehin bei jeder Gelegenheit, sein impulsives Temperament und brachte oft genug Verdruss.

Da reifte in meinem Kopf eine verwegene Idee, die vielleicht für alle Beteiligten ebenso rettend, wie Gewinn bringend sein könnte… .

Die Vertreter für den Wiener Raum arbeiteten zum Ärger des Chefs recht „lahmhaxig“, entwickelten keinen rechten Schwung. Wien könnte mehr einspielen, würde man nur mit mehr Überzeugungskraft sich der Sache widmen. Die Nachfrage war auch hier groß genug…

Nun kannte ich die Redegewandtheit meines Mannes zur Genüge und beschloss, diese zu nutzen. Ein spontaner Geistesblitz suggerierte mir, diese Gabe für ihn und die Firma einzusetzen.

Ja, das könnte eine Lösung aller Probleme sein!

Gedacht, getan…

Eine Woche vor der geplanten Provinztour präsentierte ich Kurt meinen abenteuerlichen Plan:

„Während ich in den Dörfern Oberösterreichs den Kinobesitzern Reprisen unterjubeln werde, gehst Du abends zu den Wiener Filmtheatern und versuchst, diesen so viel wie möglich Kopien anzudrehen“, erklärte ich ihm triumphierend, als hätte ich bereits eine Tasche voller Abschlüsse in der Hand.

„Du spinnst wohl“, holte Kurt mich sogleich barsch in die Wirklichkeit zurück. „Der Alte lässt mich als unerwünschten Ausländer niemals in sein Geschäft einsteigen. Mach´ Dir da erst gar keine Illusionen“

„Mach´ ich mir auch nicht“, widersprach ich ebenso erbost. „Der Alte wird einfach überrumpelt. Klammheimlich und ohne Risiko findet das Unternehmen statt…

Ich bringe Dir alle notwendigen Unterlagen über die Kinos, deren Ausschlüsse sowie die verfügbaren Filmkopien und Du versuchst sie an den Mann bzw. die Frau zu bringen!

Schaffst Du es nicht, bleibt der Versuch geheim und unter uns“, steigerte ich mich in eine Vorab-Euphorie hinein.

„Ach, so meinst Du das…“ nun war es Kurt, der verblüfft über die weibliche Logik seiner Angetrauten, langsam zu begreifen begann. „Aber“, zögerte er gleich wieder.

„Nichts aber…“ ließ ich ihn gar nicht erst zu Wort kommen.

„Erst wenn ein ansehnliches Bündel Verträge zustande gebracht ist – der Überraschungseffekt ist höchst wichtig – werde ich dem Chef brav und bescheiden die Wahrheit gestehen und ich kann Dir versichern, er wird nicht widerstehen können, frohlocken und Dir dieselbe Provision zahlen, wie allen anderen, die da für ihn tätig sind. Geschäft ist immerhin Geschäft…“

„Aber ich habe doch keine Ahnung von der Filmbranche“, wehrte Kurt noch einmal seufzend, doch vergeblich ab.

„Die kriegst Du sehr schnell“, besiegelte ich den bevorstehenden Clou.

Als ich am nächsten Tag, Mutter von der Attacke erzählte und sie bat, für deren Gelingen ganz fest die Daumen zu halten, faltete sie ihre Hände und schwang sie freudig in der Luft.

„Da hast Du aber eine gute Idee gehabt, das schafft der Kurt spielend!“ und begann bereits im Vorhinein, einen wieder entfachten Stolz auf ihren Schwiegersohn zu entwickeln.

„Beten werd´ ich dafür nicht nur zum Herrgott… alle Heiligen werd´ ich dafür anrufen!“

Nach gewissenhafter Vorbereitung des Komplotts startete ich bald darauf samt Chauffeur im ausgemergelten Vorkriegsvehikel Richtung Westen und fühlte mich dabei fast wie eine Diva.

Allerdings wie eine mit vehement klopfendem Herzen vor einer Aufgabe, von der ich nicht wusste, wie sie bewältigen.

Keinesfalls eine Redekünstlerin wie mein Gemahl, zitterte und bibberte ich insgeheim wie ein schlechter Schüler, vor dem nicht zu umgehenden Examen.

Diesmal waren die Rollen vertauscht. Kamen Kinobesitzer zu mir ins Büro, dann waren sie gewillt, etwas „zu kaufen“, nun aber musste ich die Leute erst dazu animieren. Ein verdammt großer Unterschied.

Die Herbstsonne war gnädig und die Landschaft mit den verdorrten Feldern und den ein wenig schlapp an den Bäumen hängendem Laub, zog beruhigend und friedlich an uns vorbei.

Ab und zu stotterte der altersschwache Motor unseres Gefährtes, erholte sich aber jedes Mal, so, dass wir zügig vorankamen.

Ab und zu tauchten in der hügeligen Gegend zusammengekauerte Dörfer auf und erinnerten mich daran, dass ich in solchen vergessenen Oasen fremden Menschen meine „Ware“ schmackhaft zu machen hatte.

Wie würde man die Städterin in dieser bäuerlichen Idylle empfangen?

Übernachtet wurde in einem bescheidenen Gasthof, ehe ich am nächsten Morgen zu meiner Mission startete. Mindestens 5 – 6 Kinos mussten täglich angefahren werden, sollte sich der Aufwand lohnen.

Nicht mehr als Diva, eher als Hausiererin kam ich mir bei dieser von Ort zu Ort eilenden Tätigkeit vor. Säuberlich waren auf der Landkarte alle Marktflecken angestrichen, kein noch so kleines Nest durfte vergessen, jeder Winkel durchforstet werden.

Was mir an Überredungskunst fehlte, suchte ich durch Freundlichkeit und Charme auszugleichen.

Da ich in meinem „Kramladen“ immerhin Fotos und Plakate eines höchst verführerischen Milieus mitführte und dazu die Inhalte jedes einzelnen Films aus der Kontrollfunktion im Büro genau kannte, siegte fast immer Neugierde über das angeborene, ländliche Misstrauen.

In allen Schattierungen – je nach Wunsch – schilderte ich die Vorkommnisse auf den Zellophanrollen.

Trotz der in Linz ansässigen Vertretung, gelang es mir solcherart, eine ganze Reihe neuer Verträge zu tätigen.

Auf der Rückfahrt nach Wien wusch der erste vorherbstliche Regen die Landschaft sauber, rieselte von den Fensterscheiben des Autos, knickte die Blumen in den Vorgärten der Häuser, färbte den Asphalt der Strasse schwarz und mixte Wiesen und Flure zu einem einheitlichen Grau zusammen.

Ich hing meinen Gedanken nach… .

Ich konnte aufatmen, ich hatte alles geschafft, was überhaupt noch zu schaffen war!

Aber was war in dieser Woche in Wien los?

Hatte Kurt Erfolg gehabt?

War nichts von unseren Plänen vorab publik geworden?

Was erwartete mich daheim?

Ein tiefer Seufzer entrang sich meiner Brust, sodass der Fahrer sich erschrocken nach meinem Befinden erkundigte.

„Nein, nein… .“ Entschuldigte ich mich schnell. „Nur ein bissel müde…“

Er nickte verständnisvoll, freute sich auch auf Zuhause, auf Frau und Kind.

Mit mächtigem Herzklopfen stieg ich an diesem Samstagabend die 4 Stockwerke hoch, keuchte, als hätte ich gerade das Matterhorn erklommen.

Es war die Unruhe, die mich peinigte. Ich hatte das Gefühl, als seien seit meiner Abreise nicht eine, sondern unzählige Wochen vergangen. Eine halbe Ewigkeit sozusagen.

Kurt empfing mich mit einem freundlichen Blick, der aber nichts verriet. Karin lief auf mich zu und ich war überzeugt, das Kind wäre in dieser Woche beträchtlich gewachsen.

„Sag´ schon“, drängte ich Kurt, der nervtötend geheimnisvoll tat.

„Immer mit die Ruhe“, spannte er mich im breitesten Berliner Dialekt auf die Folter.

Der Regen draußen hatte nach kurzer Pause von neuem eingesetzt, kündigte an die Fensterscheiben trommelnd, die baldige Ablösung der sonnigen Herbsttage durch feuchteres Wetter an.

„Da hast Du sie“, knallte Kurt endlich einen ansehnlichen Packen Papier auf den Tisch.

„Alles Verträge?“ mir stockte der Atem.

Hastig blätterte ich das Bündel durch, frohlockend raschelte es unter meinen Fingern

„Da sind ja die besten und größten Kinos von Wien dabei!“ jubelte ich und fiel meinem schmunzelnden Ehegespons um den Hals.

„Jetzt wird alles anders!“

„Gemach, gemach“, stoppte er meinen Enthusiasmus, „erst muss ja der Alte die Sache akzeptieren!“

„Der Stoß Papier bringt ihm eine Menge Geld ein und dafür muss er uns gerechterweise einen Teil abgeben“, kalkulierte ich folgerichtig.

Aber arges Herzklopfen und mächtige Angst plagte mich dennoch, als ich eine Weile vor meiner zweiten Fahrt in die Steiermark, das Komplott offen legte und dem Chef der Österreichischen Filmverleih- und Verwertungsgesellschaft die erfolgreiche Ausbeute von so und soviel Abschlüssen für die alten Reprisen vorlegte.

Die Überraschung gelang perfekt.

Natürlich konnte der Chef einem, der in Österreich eingedrungenen und hartnäckig sitzen gebliebenen Deutschen, noch keine Zukunftschancen anbieten, aber eine Provision für seine wertvolle Arbeit konnte er ihm – ohne selbst Schaden zu nehmen – zugestehen.

So wendete sich für das Team im Haus Nr. 15 plötzlich das Schicksalsblatt vom düsteren Grau in ein hoffnungsträchtiges, saftiges Grün.

Die politische Weltlage dagegen drohte mit neuen Konflikten.

Während man sich in der Donaumetropole langsam, mühevoll aus dem Sumpf des Krieges hoch zu strampeln versuchte, geriet die ehemalige Reichshauptstadt Berlin immer intensiver in den Sog der Zwistigkeiten zwischen West und Ost.

Berlin, die Stadt, die Hitler zum Schauobjekt seiner erträumten Weltherrschaft in „Germania“ umtaufen und mit prächtigen Megabauten auszustatten gedachte, war nun zum Zankapfel der glorreichen Sieger geworden.

Während der eine Teil provokativ und mit nicht zu unterschätzender Großmut aufgepäppelt wurde, bläute man dem östlichen Sektor die Vorzüge des kommunistischen Lebensstils, als einzig richtiges Eden, ein.

Bereits 1941 war nicht nur der Name „Germania“ für Berlin auserkoren, alle Pläne dafür waren bereits mit dem Architekten Speer bis ins Detail abgesprochen worden… .

Ein gigantisches Triumphtor sollte entstehen, das den Arc de triomph in Paris als lächerliches Spielzeug degradiert hätte; eine riesige Halle für Veranstaltungen, lautstarke Kundgebungen, Aufmarschrampen in nie gesehenem Ausmaß waren vorgesehen…

1941 war schließlich das Jahr der rauschenden Erfolge, wo alles möglich schien.

Jetzt, 1948, war Berlin nicht „Germania“, sondern eine in 2 Teile zerrissene Stadt und anstelle von Aufmärschen unter Siegesbögen straften die Skelette der Ruinen das hochmütige Projekt.

Voll Zuversicht, da Kurt nun legitimiert, als Vertreter für Filmabschlüsse im Wiener Raum tätig sein konnte, trat ich im Oktober meine zweite Dienstreise in die Provinz an.

Wieder musste jede noch so winzige Kate, sofern sie über einen Vorführapparat und eine Leinwand verfügte, von der Verwertungsgesellschaft mit Reprisen bestückt und beglückt werden.

Zwar schmückte sich dieser als „grün“ gepriesene Teil Österreichs – die Steiermark – schon ein wenig mit den Farben des Herbstes, aber die Tage waren immer noch mild. Filigrane Silberfäden schwebten und tänzelnden im sanften Wind, ehe sie sich im Nirgendwo verloren.

Da das altersschwache, vierräderige Vehikel seinen Geist endgültig aufgegeben hatte, war ich allein und per Bahn unterwegs, was nicht so bequem und auch Zeitaufwendiger war.

Ich quartierte mich daher möglichst in Gasthöfen nahe der Bahnstation ein und suchte die jeweiligen Kinos zu Fuß von dort auf.

Wieder war die Liste möglicher Kandidaten recht groß und da in diesem Bundesland keine ständige Vertretung tätig war, mein Besuch besonders wichtig.

Die Sturheit der Steirer ist sprichwörtlich und es kostete mich schon einige Mühe, eine beträchtliche Anzahl von ihnen zu einem bindenden Vertrag für die „alten Schinken“ zu bewegen.

Da aber alles andere noch weniger taugte und deutschsprachige Neuerscheinungen nicht in Sicht schienen, bescherte mir letzten Endes mein Engagement wieder einen beträchtlichen Erfolg.

Zurück in Wien meldete auch Kurt neue Abschlüsse und bald gesellte sich zu der zu erwartenden Provision noch eine weitere profitable Variante des Wohlstands.

Im Bundesland Tirol, wo wiederum eine ständige Zweigstelle des Reprisenverleihs etabliert war, saß ein cleverer Innsbrucker, der von Kurts Verkaufstalent Wind bekommen hatte und dabei mit feiner Spürnase sogleich ein zusätzliches Geschäft witterte.

Auf sehr geheimnisvolle Weise war es ihm gelungen, aus irgendwelchen finsteren Winkeln in den Besitz von Kopien einiger der erfolgreichsten Nazi-Filme zu gelangen, darunter auch vom ungarischen Star Marika Röck, die zu den beliebtesten Zugpferden der deutschen Filmproduktion gehörte.

Natürlich war der Tiroler Kollege nicht gewillt, das wertvolle und höchst begehrte Gut kostenlos an die Zentrale in Wien auszuliefern, konnte sie aber andererseits ohne die notwendigen Zensuren und Genehmigen nicht an den Mann bringen.

Also musste der neue Vertreter mitsamt seiner Frau als Lockvogel einen Weg finden, sie dem „Alten“ in der Donaumetropole zum Kauf anzubieten.

Das versprach Geld für alle Beteiligten.

Die tägliche Nähe zum Chef und der Bedarf an Kopien rendierte sich und trug Früchte.

Ein neuer Grundig-Radio löste den alten Volksempfänger ab und gemeinsam mit einem schicken Wintermantel für Kurt, erhielt er den Namen „Kora Terry“.

Die Vollblut-Diva Marika mit ihren temperamentvollen, akrobatischen Tänzen und ihrem Charme würde also noch lange Menschen verzaubern, sodass der Gewinn bringende „Dreh“ fast ein wohltätiges Werk für die Kinofans darstellte.

Kurt hatte endgültig das Vertrauen der Wiener Kinobesitzer gewonnen und er lag gut im Geschäft.

Doch der Neid, der bei der Firma fest engagierten Vertreter für diesen begehrten Raum, begann bereits süffisant auf die Ausbeute des nicht österreichischen Kollegen zu schielen.

Unter vorgehaltener Hand wurde dem „Alten“ bedeutet, dass es ein Missstand sei, einen Ausländer in seinen Reihen zu dulden.

Natürlich kriegten ich und Kurt davon Wind und ehe Scherereien deswegen drohten, entschloss sich Kurt seine inzwischen erworbenen Lorbeeren einer anderen Filmverleihgesellschaft, als freier Vertreter zur Verfügung zu stellen.

Ehe der Chef der österreichischen Gesellschaft Kurts weiterer Vertretertätigkeit eine Absage erteilen musste, wechselte dieser zu einer englischen Firma über, um die Kinos in Wien mit deren Produkten zu beglücken.

Da alle bisher abgeschlossenen Verträge ihre Gültigkeit behielten, war auf längere Zeit ein gutes Einkommen gesichert.

Ich, als Disponentin bei einem österreichischen und Kurt bei einem englischen Unternehmen, wurden dabei zwangsweise zu Konkurrenten.

Natürlich nur fast…

Denn, wenn meine vertrauten und nun oft klagenden Kunden, dass ihnen mein Gemahl einen

schrecklichen Mist angehängt hätte, tröstete ich sie mit besonders attraktiven Filmkopien für ihre Termine.

So klappte die Zusammenarbeit zu aller Wohle recht ordentlich.

Noch waren Österreich und seine Hauptstadt Wien nicht an die englisch/amerikanische Flimmerwelt gewohnt. Zu sehr saßen die nunmehr verfemten Nazi-Ideale von einer heilen, sauberen Germanen-Welt in den Köpfen der Besucher. Deren Doktrin hatte alles andersartige

bewusst als minderwertig oder gar entartet gestempelt.

Diese Idole waren inzwischen zwar schändlich zerbröckelt, aber sie hatten ein trostloses Vakuum hinterlassen. Es gab nichts mehr, was man anbeten konnte, nur noch den Wunsch nach besserem Leben und dazu war der Mammon Geld notwendig.

Kurt, der nun fremde Ware zu vermieten hatte, verstand es recht geschickt, sie positiv darzustellen.

Die alten und neuen Abschlüsse erlaubten uns immerhin auch ohne Staatsbürgerschaft ein

angenehmes Leben.

War das Metier „Film“ seine neue Zukunft?

Die Lehre, die Studien, die gehobene Position in der Industrie – wie weit lag das zurück!

Eine neue Zeit war angebrochen, in ihr galt es mit zu schwimmen, sich über Wasser zu halten und nicht unter zu gehen!

Der Film… eine Scheinwelt… aber na ja, wenn man mit ihr Geld verdienen konnte – warum nicht?!

Karin wuchs von Mutter liebevoll betreut zusehends heran und wir waren rundum zufrieden.

Ein sehr schöner Aspekt in all´ den Wirrnissen der letzten Jahre, war die Wiederaufnahme des Kontaktes mit Miriam und deren Familie. Briefe und auch Pakete aus dem fernen Amerika erreichten uns regelmäßig. Dass wir in Europa und die Freunde in der Neuen Welt das Schreckensszenario eines wahnwitzigen und brutalen Regimes überlebt hatten, war das nicht die Gnade eines allen gemeinsamen Gottes?!