1943 Wien

Seltsam… im Gegensatz zur „Flucht“ vor einem halben Jahr, erlebte ich diesen Rückzug aus Berlin merkwürdig gespalten.

Mein trautes kleines Reich erschien mir plötzlich ein wenig fremd, fast eng. Ich sah es mit anderen Augen als vor dem Ausflug in das schillernde Getriebe einer Weltstadt.

Der gemächliche Pulsschlag meiner Heimatmetropole wirkte mit einem Mal ungewohnt träge, beinahe langweilig.

Auch die Verbindung mit Franz hatte offensichtlich einen Riss bekommen. Nichts Spontanes, nichts wirklich Vertrautes fand sich in unseren gegenseitigen Briefen.

War diese Liebe einer längeren Trennung nicht gewachsen?

Als am Weihnachtsabend wie immer die Kerzen ihr warmes Licht vom festlich geschmückten Baum über das Zimmer verbreiteten, schlich sich in meine Seele ein schaler Wermutstropfen…

Nichts Konkretes, nur ein Hauch von Traurigkeit, von Melancholie, wie er typisch war für die Bewohner meiner heiteren, leichtlebigen, lebenslustigen Heimatstadt.

War es das Wissen um die Vergänglichkeit allen Seins, das bei den Kindern der Donaumetropole oft einen heimlichen Moll-Ton in die rauschenden Walzerrhythmen schmuggelt?

Das neue Jahr begann für mich erfreulich.

Ich hatte Glück und bekam einen Arbeitsplatz nicht im entfernten Hauptwerk zugeteilt, sondern innerhalb der Büros, die sich noch im alten Stadtzentrum befanden.

In knapp einer halben Stunde Fußweg konnte ich vom belebten Schottenring aus, in wenigen Minuten durch verwinkelte Gässche, den Kern der Stadt mit all` seiner Nostalgie und seinem Charme erreichen. Auch das Gebäude, wo nun die Büros für Ein- und Verkauf untergebracht waren, erzählten von den Phantomen

der Vergangenheit. Jeder Tritt auf dem altersschwachen, verblassten Parkettboden holte ächzend und knarrend die Geister zurück, die einst darauf lustwandelten.

Kleine Kneipen und schummrige Lokalitäten versteckten sich da und dort in diesem uralten Geburtsort der Stadt, während einen Steinwurf weiter das 20.Jahrhundert mit Lärm und Verkehr seinen Tribut forderte, der die gemütlichen Pferdekutschen längst aus ihrem Bereich vertrieben hatte.

Wieder ganz nahe ragte dann auf dem Stefansplatz das Prachtexemplar seines Doms empor – der Stolz aller Wiener – an den sich die noble Kärntnerstraße mit exklusiven Geschäften für die Reichen anschloss, die an ihrem oberen Ende in den Ring mit seinen pompösen Prachtbauten mündete.

Im Gegensatz zu Berlin war diese Stadt vom Kern nach außen gewachsen und sprühte von da aus ihre Lebenskraft hinaus ins Umfeld.

Dieses alte Zentrum das ich früher nur bei gelegentlichen Spaziergängen durchstreifte, wurde nunmehr für mich zur täglichen Pflichtübung. Auf Schritt und Tritt begegnete mir dabei die „gute“ alte Zeit.

Das Tagespensum in einem der Verkaufbüros, in das ich eingegliedert worden war, verlangte mir keine großen Anstrengungen ab, sodass ich danach genug Energie und Muse, für eigene Ambitionen aufbringen konnte.

Musik, Lesen und seit geraumer Zeit vor allem selbst Schreiben, war zu meinem Hobby geworden.

Und hier in diesen Gassen, wo oft noch Kopfsteinpflaster die Stöckelschuhe der Damen strapazierte, wo manch´ versteckter Hof von einer Pawlatschen –einem umlaufenden Balkon außerhalb der Wohnungen – geschmückt war, holte ich mir Anregungen für mein neues Hobby, entdeckte Wien neu, versöhnte mich vollends mit ihr und war stolz auf sie.

Diese alten Häuser hatten Generationen kommen und gehen sehen, in ihnen wurden Freude und Glück, Leid und Trauer erlebt. Sie hatten Himmelhochjauchzen und erschütterndes Wehgeschrei vernommen und menschliche Gefühlsäußerungen, verschwiegen in ihren Mauern bewahrt.

Wer Gespür für ihre Sprache hatte, dem öffneten sie eine Tür zu einer großen Vergangenheit, die mitgewirkt hatte am Portrait des heutigen Europa, das in diesem 20. Jahrhundert durch 2 Kriege eine so unglückselige, gespaltene und zerrissene Rolle auf der Weltbühne spielt.

Leider, ein Problem in meinem Privatleben löste sich nicht von selbst in Wohlgefallen auf: Meine Beziehung zu Franz. Seit fast 8 Monaten hatten wir uns nicht gesehen. Offenbar hatte diese lange Zeit Veränderungen bewirkt.

Um dies zu klären, setzte ich mich am letzten Januarwochenende in den Zug nach Schlesien. Samstag nachts hin, am folgenden Sonntag abend die Strecke zurück. Keinen Urlaubstag wollte ich dafür opfern und so blieben nur ein paar mickrige Stunden für die Entscheidung, ob zusammen oder getrennt weitergelebt werden würde.

Die überraschende Begegnung gestaltete sich denn auch äußerst merkwürdig. Franz war verlegen, auch mein Stimmungsbarometer triftete nach unten, dem Nullpunkt zu.

Für mich war klar, Franz verheimlichte mir etwas, lenkte ab, verhedderte sich wie bereits seit geraumer Zeit in seinen Briefen, in belanglose Nichtigkeiten.

Nein, ich war nicht gewillt, mit irgendeiner Unbekannten zu teilen oder gar gegen ein fremdes Phantom zu kämpfen. Also fasste ich den spontanen Entschluss: Aus, Punkt, Pause… zog das goldene Ringlein vom Finger der linken Hand, warf das so viel versprechende Symbol ewiger Treue auf den kleinen Schreibtisch neben dem Fenster und verließ ohne Abschied den Raum.

Franz hielt mich nicht zurück, folgte mir nicht. Vielleicht war er sogar froh, auf diese Art allen Fragen, Vorwürfen und sonstigen Unannehmlichkeiten entronnen zu sein.

So endete mit einem Eklat, was vor 3 Jahren hoffnungsvoll begonnen hatte.

Ich startete sofort zum Bahnhof der Garnisonstadt und verbrachte die Wartezeit bis zur Rückfahrt in einer kleinen Gaststätte, in der Nähe des Stationsgebäudes.

Heftige Wut, Empörung, Zorn überwucherten den Schock der endgültigen Trennung. Ich fühlte mich betrogen und meine Reaktion als einzige Möglichkeit durchaus gerechtfertigt.

In dem ratternden Zugungeheuer, das sich dann wie ein eiserner Lindwurm durch die nächtliche Landschaft wand, gelang mir sogar ein unruhiger Schlaf, in dem unsinnige, verwirrende Traumgespenster ihr Unwesen trieben. Immer wieder schreckte ich davon auf, um sogleich abermals von neuen, durcheinander wirbelnden Kobolden, genarrt zu werden.

Es war noch dunkel, als die Lokomotive mit ihren zahlreichen Anhängseln am frühen Morgen mit einem schrillen Pfiff in meinem Heimatbahnhof einfuhr. Übernächtig und misslaunig strömten die Passagiere aus den Waggons hinaus in die frostige Kälte. Schmutziger Schnee häufte sich da und dort auf den rückwärtigen, nicht überdachten Bahnsteigen, während Dampfblasen von den Gleisen aufstiegen und einen üblen Geruch verbreiteten.

Fest in meinen Mantel gehüllt, eilte ich zu Fuß das kurze Stück nach Hause, wo Mutter bereits mit ihrem Tagewerk begonnen hatte.

„Was war denn los“? wollte sie natürlich sofort wissen.

„Nichts“, wich ich aus. „ich muss mich beeilen“, und verschwand in meinem Zimmer. Kurz darauf kehrte ich in die Küche zurück, um wenigstens Gesicht und Hände zu waschen, in neue Kleidung zu schlüpfen und im Stehen, das von Mutter inzwischen vorbereitete Frühstück zu verzehren.

„Heute Abend ist Betriebsfeier in der Firma… ich kann mich nicht davor drücken, werde also erst spät nach Hause kommen.“

„Na ja“, seufzte Mutter, die ahnte, dass etwas schief gelaufen war. „Ausgerechnet nach diesem anstrengenden Wochenende!“

„Ich hab` auch nicht daran gedacht und werde mich so bald wie möglich davon absetzen“ versprach ich und flüchtete, um weiteren Fragen zu entgehen, rasch in den Flur und die 4 Stockwerke hinunter.

„Ausgerechnet heute Betriebsfeier“, dachte auch ich auf dem Weg zur Altstadt, versenkte abwechselnd die eine oder andere Hand in die Manteltaschen.

Zwar waren Gemeinschaftsfeste nicht mein Fall, in kleinem Kreis nahm ich allerdings gern daran teil. Noch kannte ich jedoch aus meiner einmonatigen Tätigkeit im Stadtbüro nur wenige der hier Beschäftigten und verspürte an diesem Tag nicht die geringste Lust zum Feiern. Ausschließen mochte ich mich allerdings auch nicht, zumal sich die Kollegen stets recht nett und hilfreich mir gegenüber verhielten.

Die Arbeit an diesem Montag, ein gewohntes Einerlei, verrichtete ich mechanisch. Es waren Routinebriefe zu schreiben, die ich alleine erledigen konnte und andere, für die ich nähere Unterweisungen brauchte.

Mein Tischchen vor dem Fenster, gewährte einen Blick hinunter auf die Gasse, aber jetzt im Winter drang deren Rhythmus nur gedämpft in die Räume des ersten Stockwerks und die Schritte von Vorübergehenden hallten wie aus weiter Ferne in dem alten Bau wider.

Irgendwann – hoffentlich nicht so bald – sollten auch die Einkaufs- und Verkaufs-Abteilungen des Flugmotorenwerkes ins ca. 30 km entfernte Firmengelände in Wiener Neustadt umgesiedelt werden, was mit täglichen Bahnfahrten verbunden sein und die Romantik der alten Häuser und Gässchen durch großräumige Säle, zur Folge haben würde.

Aber noch war es nicht so weit und da die verschachtelten Zimmer unseres Stadtbüros für größere Festlichkeiten ungeeignet waren, fand das heutige Treffen in einem nahe gelegenen Lokal statt.

Dort gab es Raum genug für diverse Veranstaltungen, über 50 Personen fanden im Extrazimmer Platz, an dessen vorderer Breitseite ein Podium emporragte.

Drei Reihen von miteinander verbundenen Tischen füllten das Rechteck in der Länge. Hübsch gedeckt, ließen sie die Aussicht auf einen gemütlichen Abend vermuten.

Als ich, direkt vom Büro kommend, eintraf, waren bereits alle meine Kollegen anwesend und die Stühle besetzt. Ich hielt Ausschau nach meiner Gruppe, entdeckte sie in der mittleren Reihe und nahm da, den noch freien Platz ein.

Bald danach, gegen 8 Uhr fand die offizielle Eröffnung durch ein paar einleitende Floskeln der Geschäftsführung statt – ganz im Sinne nazistischer Propaganda… mit Dank, Ermahnungen, Pflichten und Glauben an die Zukunft.

Anschließend wurde endlich Essen und Trinken aufgetragen. Eine Kapelle lieferte die Begleitmusik zum fröhlichen Schmaus, wurde aber vom vielstimmigen Geplauder der Feiernden, als höchst unmelodischem Brummton, überlagert.

Was sonst nur auf Karten reglementiert zu erhalten war, stand heute frei und reichlich zur Verfügung.

Daher zog sich das Menü fast 2 Stunden hin, ehe der unterhaltende Teil des Abends begann, für dessen gute Stimmung sogar Alkohol kredenzt wurde.

Für das folgende Programm war die Fantasie der Teilnehmer gefragt und so mancher im Alltag nüchtern erscheinende Bürokollege, entpuppte sich dabei als unentdeckter, künstlerischer Akteur.

Immer wieder betrat der eine oder andere, mir nur flüchtig bekannte Arbeitnehmer aus den beiden Abteilungen das Podest und brachte eigene Schöpfungen vor dem Publikum zu Gehör, das sich mit kräftigem Applaus bedankte. Mal witzig, mal besinnlich, berichtete so mancher Mitbürger von den Geheimnissen seines Innenlebens, das er heute preiszugeben, bereit war.

Hinter vorgehaltener Hand musste ich oft ein Gähnen verbergen und bekam von dem, was da auf der Bühne kundgetan ward, so gut wie nichts mit.

Ich versuchte erst gar nicht, mich auf die Vorführungen auf der Empore zu konzentrieren, denn meine Gedanken verweigerten den Gehorsam, schweiften ab in andere, eigenwillige Richtungen, wanderten ziellos herum, trieben ein neckisches Possenspiel mit mir.

Nur einmal gewann ich ein kleines Stück Realität zurück, zwar nicht durch die Worte, die von der Bühne her erklangen, sondern die Stimme des Vortragenden.

Sie gehörte irgendeinem Kollegen, den ich vielleicht schon gesehen oder gar gesprochen hatte und der jetzt in schwarzem Anzug einen Sketch zum Besten

gab, den er, der besseren Wirkung wegen, mit lebhaften Handbewegungen illustrierte.

Auch diese Rede fand keinen Widerhall in meinem Oberstübchen, nur die Stimme klang eine Weile in meinen Ohren nach.

Nicht dunkel tief wie ein Bass, nicht hell und heiter wie ein Tenor, aber sehr klar und bestimmt und von angenehmen Timbre.

Mit weiteren Interpreten verschwand jedoch auch dieser Klang aus meiner Sinneswahrnehmung und gegen 12 Uhr, als der Höhepunkt des Festes überschritten war, verabschiedete ich mich von meinen Tischnachbarn und eilte hinaus in die kalte Winterluft.

Befreit aus der von Rauch und Alkohol geschwängerten Atmosphäre des Lokals, atmete ich auf und blieb einen Moment stehen; schaute hinauf zum Firmament, auf dem ein paar Sternlein flimmerten…

Da öffnete sich plötzlich die Tür der Gastwirtschaft und heraus stürzte ein junger Mann, direkt auf mich zu.

„Wir müssen uns wieder sehen“, forderte er zielstrebig und ergriff meine Hand.

Ich versuchte sie ihm diese zu entziehen, stutzte… war das nicht wieder diese Stimme, die im Laufe der Darbietungen vom Podium herunter zu mir gedrungen war?

Sie klang jetzt allerdings ein wenig belegter und die leichte Schwankung der Gestalt entging mir auch nicht.

„Ich will jetzt nach Hause“, wies ich ihn barsch zurück.

„Natürlich“, respektierte er meinen Wunsch und gab meine Hand frei.

„Aber versprechen Sie mir, dass wir uns wieder sehen“! beharrte der unbekannte Kollege und zögerte einen Moment… “Sind Sie frei“? fragte er unvermittelt.

Auch ich verharrte einen Moment, „Ja“, antwortete ich spontan nach einer kurzen Sekunde und ohne ein weiteres Wort wendete ich mich um und verschwand in der Dunkelheit der Nacht.

Auch der Februar des Jahres 1943 zeigte sich noch bitterkalt und verlangte der vom Krieg geplagten Bevölkerung immer weitere Sparmaßnahmen ab.

Es wurde über Wunderwaffen gemunkelt, die bald zum Einsatz kämen und den Endsieg herbeibomben würden.

Die Winterhilfssammlungen, die ursprünglich für Not leidende Menschen bestimmt waren, dienten nun – ein offenes Geheimnis – ausschließlich der Rüstung, die gefräßig wie ein Moloch alle Mittel gierig verschlang.

Vor begeistert applaudierendem Publikum, hatte Goebels Propagandaministerium

wortreich den „totalen Krieg“ ausgerufen.

Sieg oder… Katastrophe, niemand wusste es…

Im 4.Stock unseres Hauses war vor kurzem in die direkt gegenüber liegende Wohnung ein Ehepaar neu eingezogen. Kontaktfreudig wie meine Mutter stets war, entwickelte sich bald eine gute und vertrauensvolle Nachbarschaft mit ihm.

Leider war das Verhältnis der Ehepartner zueinander nicht sehr harmonisch und viele Abende saß der männliche Teil des Gespons allein in seiner Behausung, was dazu führte, dass er öfter meine Mutter als Ansprech-Partnerin zu sich bat.

Der besondere Grund dafür war, dass er zu den Leuten gehörte, die skeptisch gegenüber den Nazis, heimlich einen verbotenen Feindsender hörten und dessen Neuigkeiten, an Irgendwen los werden musste.

Während sich die Mehrheit der Bürger gottergeben und aus Angst brav an das strikte Hörverbot hielt, mit den Nazi-Sendungen und vor allem den flotten, aufmunternden Unterhaltungsprogrammen begnügte, wagten es immerhin ein paar Mutige, andersartigen Parolen zu lauschen.

So sickerte eines Tages auch eine Meldung des Nachbarn zu uns herüber, dass in Stalingrad Generalfeldmarschall Paulus aufgegeben hatte und mit dem Rest seiner eingeschlossenen 6. Armee – immerhin ca. 90.000 Mann – aus eigener Initiative und entgegen Hitlers Befehl, in russische Gefangenschaft gegangen war.

„Damit ist der Krieg verloren, kommentierte Vater.

„Wenn er nur endlich zu Ende wäre… “ faltete wie betend, Mutter die Hände. Vom obligaten Sender waren immer nur Durchhalte-Befehle zu hören, was wirklich vorging, darüber drang so gut wie nichts in deutsche Wohnzimmer.

Fast 150.000 Gefallene – hieß es weiter – hätten die Sowjets in diesem Kessel vorgefunden und was sich in diesem Winter unter den Todgeweihten abgespielt haben musste, das könnten wir uns auch in unseren schrecklichsten Albträumen nicht vorstellen…

„Um Himmels Willen, das darf nicht wahr sein… “ entsetzte sich meine Mutter und dankte gleichzeitig dem lieben Gott, dass bei ihrem Einkind-Programm glücklicherweise ein Mädchen herausgekommen war. Keine ruhige Minute würde

Sie haben, müsste ein männlicher Sprössling irgendwo draußen an der Front kämpfen.

Aber das wäre noch nicht alles – hatte der Nachbar weiter verkündet – es gäbe Vermutungen beim Feindsender, dass in den Ostgebieten Menschen… vor allem Juden, deportiert und in Lagern getötet würden.

Keiner von uns wollte und konnte so etwas glauben…

„Wenn Blut einmal in solchem Ausmaß zu fließen begonnen hat, verwandeln sich Menschen in unberechenbare Bestien“, gab Vater zu bedenken.

„Nein, nein… “ wehrte Mutter ab, wurde an diesem Abend sehr nachdenklich.

Auch mich schockten solche Berichte sehr, doch tat ich sie bald als heftig übertriebene Feindpropaganda ab und beschäftigte mich umso mehr mit meinem Privatleben.

Neugierig geworden, hatte ich in den letzten Wochen heimlich und unauffällig Informationen über den jungen Mann eingeholt, der mir am 31.1. nachts aus dem Lokal gefolgt war. Seither hatte ich nichts von ihm gehört, noch ihn gesehen. Da er als Gruppenleiter in der Einkaufsabteilung tätig war, hatte ich auch arbeitsmäßig nichts mit ihm zu tun.

Immerhin drangen über ihn, der eine 10-köpfige Mannschaft befehligte, wie bei jedem großen oder kleinen Chef, so manche Gerüchte über die Grenzen seines Bereiches hinaus. Die einen bezeichneten ihn als leicht explodierend, andere wieder lobten seine Loyalität den Mitarbeitern gegenüber. Na, was sollte es, ich hatte sowieso andere Dinge im Sinn.

Meinen Kameradinnen blieb jedenfalls nicht verborgen, dass ich außer der Bürotätigkeit mit einer anderen Arbeit beschäftigt war und sie waren natürlich neugierig, worum es sich dabei handelte. Mich darüber zu befragen, bot sich in den geschäftigen Räumen keine Gelegenheit.

Inzwischen war es März geworden und Tauwetter vertrieb den Frost, weckte zaghafte Hoffnungen, auf einen neuen Frühling.

In dem alten Gebäude, in denen die Ver- und Einkaufsabteilungen etabliert waren, existierten auch zwei stille Örtchen, wo man sich schnell mal ein paar Minuten zurückziehen konnte, denn des Leibes unvermeidliche Bedürfnisse, verlangten schließlich bisweilen ihr Recht.

Diese zwei diskreten, verschwiegenen Nischen waren durch einen Vor- bzw. Waschraum von außen abgeschirmt, der die Möglichkeit bot, hier ein paar Minuten zu verschnaufen. Ihn mussten sich jedoch Männlein und Weiblein der Belegschaft teilen.

Wie es der Zufall wollte, der schon so manche unbegreifliche Dinge angezettelt hatte, betrat gerade als ich meiner vertrautesten Kollegin etwas von meinen Plänen verriet und ein paar Sätze aus meinem Manuskript zitierte, jener Unbekannte vom 31.1. die kleine Enklave.

Etwas betreten, unterbrach ich sofort und schwieg verlegen.

Zu spät, ein paar Wortfetzen hatte der Eindringling aufgeschnappt und hakte sofort darauf ein. „Was, schreiben Sie etwa auch?“

Er wartete gar keine Antwort ab, sondern eröffnete uns enthusiastisch, dass Gedichte formulieren, sein eigentliches „wahres“ Gesicht darstellte.

„Das interessiert mich aber sehr“, wendete er sich danach direkt an mich, derweil die Kollegin die Gelegenheit nutzte, sich rasch aus dem Staub zu machen.

Ich fühlte mich ertappt, wollte am liebsten ebenfalls entfliehen,

blieb aber wie angewurzelt stehen.

„Treffen wir uns doch einmal zu einem kleinen Spaziergang“, schlug der Störenfried arglos vor. „Heute ist Mittwoch“, überlegte er einen Moment. Wie wäre es am Sonntag? Das Wetter ist momentan verlockend!“

Ich war unentschlossen, ein wenig ratlos und sagte gar nichts.

„Also abgemacht“, griff er jedem eventuellen Einwand vor. „Wir treffen uns um 12 Uhr am Schottenring, fahren nach Baden und unternehmen von da eine kleine Wanderung durchs Helenental!“

21. März 1943

Ich hatte keine andere Wahl, als mich dem etwas einseitig vereinbarten, nicht direkt widersprochenen Stelldichein, am Schottenring zu stellen.

Die noch jungfräulich strahlende Sonne steuerte aus einem pastellfarbenen Himmel, auf dem sich nur ein paar weiße Wölkchen neugierig herumtrieben, im Verein mit einem lauen Lüftchen, ihren außerirdischen Segen zu dieser spontanen Verabredung.

Auf der wackligen Plattform des hinteren Straßenbahnwaggons, der den vorgegebenen Gleisen nur widerwillig folgte und eigensinnig hin und her schaukelte, wehte uns eine milde, aber doch zugige Brise um die Ohren.

Mein Begleiter, der sich Kurt nannte, erzählte dabei wieder von seiner Begeisterung für Gedichte, die, sobald der Phantasie entsprungen, streng nach den ehrwürdigen Metriken, wie Hexa- und anderen –Metern in Ordnung gebracht werden müssten. Er sprach von Jamben, Trochäen und weiteren Versfüßen, die einen Takt wie in der Musik zu ergeben hätten.

Ich hörte andächtig zu… oh je… dachte ich dabei insgeheim… klassische Lyrik! Sicher ein ehrenwertes Ziel, aber für meine Schreiballüren nicht erstrebenswert. Ideen durch eine Zwangsjacke bändigen, das war nicht nach meinem Geschmack. Frei sollten sie schweben, wie Schmetterlinge mit bunten Flügeln durch den Raum schwirren.

Geduldig lauschte ich indes den intensiven Aufklärungen meines Begleiters, war aber dankbar, dass im Geächze der widerspenstigen Räder ei n wenig von deren Eindringlichkeit, verloren ging.

Die Vororte-Bahn beförderte uns danach weiter in den hübschen Kurort Baden, seit der Kaiserzeit das bevorzugte Erholungszentrum betuchter Großstädter, in dem es inzwischen allerdings recht still geworden war.

Die Reichen waren entflohen, irgendwohin und die jetzige braun gefärbte Klientel nutzte die vornehmen Einrichtungen für ihre Ambitionen.

Doch das kleine Tal, das von hier durch idyllische Wälder führte, das gab es noch und begleitete Wanderer in eine liebliche, friedvolle, vom germanischen Geist verschonte Welt.

An diesem Frühlingstag stapften wir – bis jetzt einander völlig fremd – die schmalen Pfade entlang.

Was für ein seltsamer Kontrast, ging es mir durch den Sinn, als wir gemeinsam die verschlungenen Wege durch das vom Herbst liegen gebliebene Laub spazierten. Es raschelte verwelkt und verdorrt, aber doch aufmüpfig unter unseren Tritten, als wollte es sich der Verwesung verweigern… hier unten das unvermeidliche Vergehen… und oben in den nackten Ästen der Bäume zwitscherten und probten bereits die Vögel Liebesmelodien, für eine noch zu erobernde Partnerin.

Kurt, mein Begleiter, schien vermutlich ganz anderen Gedanken nachzuhängen…

Welchen Zweck verfolgte er, was wollte und erwartete von mir? Jedenfalls erweckte er trotz aller poetischen Kreativität, den Eindruck, auch das reale Leben voll im Griff zu haben und mit geballter Energie diese miesen Zeiten meister Zu können.

Möglichst locker und unbeschwert plauderten wir über diese und jene täglichen Geschehnisse und Unwichtigkeiten und ich versuchte meine merkwürdige Unruhe, die mich plötzlich befiel, zu verbergen.

Niemand begegnete uns bei dieser Wanderung. Alles atmete Eintracht und Wohlgefallen, die Natur hatte ihr sanftestes Kostüm übergestreift.

Trotzdem kroch eine unerklärliche Spannung in mir empor. Energisch wehrte ich mich dagegen, war entschlossen nichts von meinem ureigenen Ich preiszugeben, es für mich allein zu bewahren.

Doch vergeblich, nach dem ersten Kuss unter einer noch blattlosen Buche, wurde ich von dem suggestiven, beängstigenden Gefühl überfallen, dass ich von diesem Mann nicht mehr loskommen würde.

Irgendeine geheimnisvolle Macht hatte unsere Wege sich kreuzen lassen und würde ihre Netze weiterspinnen…

Als mich Kurt an diesem Ausflug zu meinem Elternhaus begleitete, zögerte er, ehe wir uns verabschiedeten und fragte dann unvermittelt: „Sag`, ist Dein Vater ein Nazi“?

Ich war verdutzt, musste dann herzlich lachen, „Ganz im Gegenteil, aber warum fragst Du?“

„Gott sei Dank“, erwiderte er erleichtert. „Warum, das erzähle ich Dir ein anderes Mal!“

Am folgenden Montag nützten wir die kurze Mittagspause für einen Bummel durch die Altstadt. Fast wortlos streiften wir Hand in Hand durch die Gässchen. Nichts mehr von Jamben, Trochäen und Hexametern… zu neu waren die Gefühle und das für und wider für sie. Worte könnten nur stören, zerstören…

Aber Kurt war kein Mann des langen Schweigens und nach einem weiteren Tag gab er mir klar zu verstehen, was er im Sinn hatte: Heirat…

Ich war verwirrt. Mit meinen 20 Jahren noch allen Spielarten eines ungebundenen Lebens verhaftet, sagte ich weder ja noch nein dazu, flüchtete mich insgeheim in das alte Sprichwort `kommt Zeit, kommt Rat`…

Verlieren wollte ich diesen neuen Freund keinesfalls, aber musste es denn gleich Heirat sein?

Die Zielstrebigkeit, die Forderung des „alles oder nichts“ faszinierte und erschreckte mich gleichermaßen an meiner neuen Bekanntschaft und so erzählte ich noch in der gleichen Woche meiner Mutteer von dem Treffen mit Kurt und den möglichen Folgen.

„Bring´ mir ein Bild von ihm“, kommandierte Mutter hellhörig geworden und holte aus mir, ohne dass ich es richtig merkte, weitere Informationen heraus.

Wer er war und vor allem welche Position er in der Firma hatte, erkundigte sie sich. Zufrieden vernahm sie, dass er in diesen jungen Jahren bereits berufliche Erfolge errungen hatte und ihm also eine positive und einträgliche Zukunft bevorstand. Ein nicht zu unterschätzender Faktor in einer Zeit, wo sich der Großteil der jungen Männer an irgendeiner Front zusammenschießen lassen musste.

Während sich Mutter einen besonders gut situierten Partner zwecks gesicherter Zukunft für mich wünschte, interessierte mich das am wenigsten… aber von Liebe würde niemand satt werden, meinte sie.

Außerdem hatte sie für meine „Flausen“ wie Romane schreiben, kein Verständnis, bezeichnete es als Unsinn. Nichts Praktisches wäre mir in der Freizeit wichtig…

Zwei Tage später präsentierte ich meiner Mutter das gewünschte Foto, das sie lange und aufmerksam betrachtete.

Es zeigte einen jungen Mann am Schreibtisch sitzend, eine Profilaufnahme mit markanten Gesichtszügen. Er war Brillenträger und schien sich intensiv mit dem vor ihm befindlichen Blatt Papier auseinander zu setzen. Offenbar dachte er nach…Peinlich aufgeräumt sah der Tisch aus und auch das sportliche Jackett, das er trug, sowie die Krawatte wirkten äußerst adrett.

Ich stand neben Mutter und wartete gespannt auf ein Kommentar von ihr.

„Den kannst Du mir bringen!“ kam endlich der lapidare Satz von ihren Lippen, mit dem sie mir das Foto zurück reichte.

Eine wundersame Laune des Geschicks fügte dieses „Bringen“ in einen angemessenen, passenden Rahmen, denn am 27.März feierte Kurt seinen 25. Geburtstag und hatte zu diesem Anlass Theaterkarten organisiert. Freudig hatte er auch meinen Vorschlag, meine Mutter als Dritte an der Aufführung teilnehmen zu lassen, begrüßt.

Mutter hatte in weiser Voraussicht für diese spezielle Gelegenheit eine Torte gebacken, denn wie es aussah, könnte nach der Oper ein näheres Kennen lernen von Nöten sein.

Es wurde ein schöner Abend!

Einträchtig saß man in einer seitlichen Loge des Opernhauses beisammen. Ein wenig fehlte zwar vom Bühnenbild, aber Mozarts Zauberflöten-Musik brillierte in verschwenderischer Klangfülle durch das festliche Haus.

Wie gerne ließ man sich in das heitere Märchenmilieu entführen, in eine Welt, die zwar auch von Hass, Intrigen, Leidenschaft und Liebe geprägt war, in der aber doch alles zu einem guten Ende gelangte und das Edle und Wahre siegte!

Auch Mutter, die normalerweise weniger zu Märchen, vielmehr zur Realität tendierte, ließ sich für ein paar Stunden vom Reich der Phantasie bezaubern, dachte zwischendurch schon mal, ob ihr die Torte wohl gelungen sei und spendete dann mit all´ den anderen Zuhörern und Zuschauern den verdienten Beifall. Das Genie Mozart hatte wieder einmal trotz der Ungereimtheiten des Librettos, der Nachwelt einen hinreißenden Melodienreigen beschert.

Etwas benommen raufte man sich danach per Ellenbogen an der Garderobe um seine deponierten Mäntel, wühlte sich durch das Gedränge hinaus in den späten Frühlingsabend.

Und da die Aufführung in der nahen Volksoper über die Bühne gelaufen war, fiel es Mutter nicht schwer, als Dank für den Kunstgenuss, das Geburtstagskind zu einem Umtrunk und süßen Imbiss einzuladen.

Kurze Zeit später fand im 4. Stockwerk, hoch über den Dächern der Stadt im Allzweckraum Küche, ein gemütlicher Abschluss des Festes statt.

Kurt war das Milieu aus seiner Heimat Berlin wohl vertraut und Mutters Backwerk in diesen rationierten Zeiten eine willkommene Spezialität. Natürlich schmeckte sie ausgezeichnet.

Als wir uns voll Inbrunst dem kulinarischen Genuss hingaben, ging auf einmal die Tür zum Wohnzimmer auf und herein spazierte in einem langen, weißen Nachthemd, etwas verschlafen, mein Vater…

Er hatte infolge seines Schichtdienstes während wir uns amüsierten, die paar Stunden für ein gesundes Nickerchen genützt.

Niemand hatte ihn über mein Erlebnis der letzten Woche unterrichtet.

Trotzdem bewahrte er souverän Haltung, begrüßte den unbekannten Gast auch im Nachthemd voll Grandezza, aber ohne unnötiges Zeremoniell.

Eine Weile unterhielt man sich noch bei einem Glas Wein.

Mein Vater zeigte weder Überraschung, noch erwartete er eine Erklärung, stand irgendwie über der etwas sonderbaren Szene.

Und eigenartig genug, der siegesgewisse Draufgänger, empfand für diesen zukünftigen Schwiegervater von der ersten Minute an Sympathie und zollte ihm trotz der ungewöhnlichen, äußeren Erscheinung, Respekt und Achtung.

Es war spät, als Kurt sich in sein Untermietzimmer im weit entfernten Hitzing begab. Keine Straßenbahn beförderte um diese Stunde irgendwelche Nachtschwärmer. Zu Fuß musste er den langen Marsch durch die verdunkelte Stadt antreten.

Aber was tut man nicht alles, wenn Amors Pfeil so tief ins Herz getroffen hatte.

In rasantem Tempo ging es weiter…

Am folgenden Wochenende überraschte mich Kurt mit 2 Fahrkarten nach Berlin. Nachdem er meine Familie im Schnellverfahren erobert hatte, wollte er nun auch seine Familie an unserem Glück teilnehmen lassen. Wie ich, war auch er Einzelkind und also den Eltern, besonders der Mutter enger verhaftet, als in größeren Familien üblich.

Ich, am Anfang leicht geschockt von der Turbulenz der Ereignisse, passte mich langsam der Geschwindigkeit an, wohnte doch auch in mir ein unruhiger Geist, der vorwärts drängte zu neuem Erleben und das bot mir dieser Mann in reichem Maße.

Kurt hatte für diesen „Wochenendausflug“ Billets der ersten Klasse besorgt, nicht nur der bequemeren Sitze wegen, vielmehr hoffte er, damit dem Gedränge das oft in den Abteilen herrschte, zu entgehen.

Tatsächlich gehörte uns, zumindest zu Beginn der Fahrt ein Coupe allein, sodass uns eine angenehme, gemeinsame Nacht bevorzustehen schien.

Nach Kontrolle der Tickets wünschte uns der Schaffner, verschmitzt lächelnd, eine gute Reise, klinkte die Türe zu und wieder ertönte die bekannte Schienenmelodie, die mir vor wenigen Wochen Begleitmusik in Richtung Norden war.

Eine Ewigkeit schien das her zu sein!

Das Phänomen „Zeit“ bewies damit wieder einmal seine Flexibilität. Es war keine konstante Größe, vermochte sich auszudehnen oder zusammen zu schrumpfen, je nach persönlicher Empfindung und Geschehnis, präsentierte es sich unterschiedlich und variabel.

Eine ganze Weile saßen wir, jeder mit eigenen Gedanken beschäftigt, in den weichen Polstern unseres Abteils und schwiegen.

„Jetzt will ich aber endlich wissen, warum Du nach Wien gekommen bist“, fiel mir plötzlich ein. Denn bei der Geschwindigkeit, in der unsere Verbindung zusammengeknüpft wurde, klafften in punkto bisherigen Lebensverlauf mächtige Lücken. Wie verlief das Dasein des Menschen, mit dem ich eine gemeinsame Zukunft plante…wie hatte es vor unserem Treffen ausgesehen?

Ein wenig bange war mir schon vor dem Unternehmen Heirat, das nun bedrohlich näher rückte. Bisher lag es in ungewisser Ferne. Nun war ich hin- und her gerissen zwischen Euphorie und Angst.

Die Geschehnisse der letzten Wochen überfielen mich, machten mich benommen wie in einem Rausch, aus dessen Trance sich zu lösen, einem hoffnungslosen Unterfangen glich.

Sorglos und unbeschwert hatte ich bisher meine Jugend genossen, plötzlich spürte ich etwas sehr Ernstes auf mich zukommen.

„Eigenartig, fast auf den Tag genau, an dem ich nach Berlin dienstverpflichtet worden bin – also das ganze Jahr 1942 – warst Du bereits in Wien! Und warum?“ drängte ich auf eine Erklärung. „Und warum hast Du gleich am ersten Tag gefragt, ob mein Vater Nazi wäre?“

„Ich musste aus Berlin weg, weil ich mit dem Gauleiter unseres Bezirks in einen fast handgreiflichen Streit geriet. Welche Folgen so eine Auseinandersetzung mit einem Parteibonzen haben konnte, war nicht abzusehen“, erläuterte Kurt. „Ich musste schleunigst in eine andere Stadt verschwinden. Hamburg und Wien standen für mich zur Wahl. Ich hatte eine gute Berufsausbildung und wollte in einem kaufmännisch-technischem Beruf schnell vorwärts kommen. Nach reiflicher Überlegung hatte ich mich für das Werk in der Donaustadt entschieden.“

„Aber wieso hattest Du denn etwas mit der Partei zu tun?“ wollte ich wissen.

„Ich wurde von der Hitlerjugend mehr oder weniger freiwillig in die Partei überstellt; das war ein übliches Verfahren, man wurde nicht lange gefragt…“

„Dann bist Du ja ein Nazi…“ entsetzte ich mich und rückte unwillkürlich eine Handbreit von ihm ab.

„Nein“, widersprach Kurt energisch und distanzierte sich ebenfalls ein wenig von mir.

„Du hast keine Ahnung wie damals in den Dreißigerjahren die Situation in Deutschland war. Arbeitslosigkeit, Korruption, Depression…und plötzlich ein Hoffnungsschimmer… Keinem von uns Jungens in der Hitlerjugend hatte das Programm der neuen Regierung interessiert, aber das was sie uns anboten, war begeisternd.!“

„Ich hatte mich nie vom BDM, dem Bund deutscher Mädchen einfangen lassen und von jeglichen sportlichen Aktivitäten und Großveranstaltungen der Nazis ferngehalten“, konterte ich in vorwurfsvollem Ton.

„…und hast trotzdem alle Vorteile des Regimes bedenkenlos genutzt“, wies mich Kurt scharf zurecht.

Ich zögerte einen Moment. Natürlich hatte ich die billigen Möglichkeiten wie Reiten lernen, Tennis spielen, wahrgenommen. Welcher normale Bürger hätte sich schon vor den Nazis solchen Luxussport leisten können.

„Trotzdem habe ich mich nie an die Nazis verkauft“, beharrte ich.

„Das habe ich auch nicht, sonst wäre ich jetzt nicht in Wien.

Aber die Situation bei uns war eine völlig andere wie bei Euch und miteinander nicht vergleichbar. Ihr seid erst 1938 an Deutschland angeschlossen…“

„…annektiert worden“, verbesserte ich schnell.

„Auf vielfachen Wunsch und mit Jubel, Trubel, Heiterkeit,“ erinnerte Kurt an die wahren Freudenorgien, die das „Kommen“ der Nazis in der Donaumetropole ausgelöst hatten.

Bei uns aber waren die Jahre bis zu Euerem Anschluss doch sehr positiv geprägt, vor allem für uns Jugendliche. Was waren das für Zeiten voll Kameradschaft, sportlichen Wettkämpfen, Lagerfeuer-Romantik…welcher junge Mensch konnte sich dem schon entziehen“?

„Also doch ein Nazi-Freund…“

Ein starker Ruck bremste die Zuggarnitur vor der Einfahrt in den nächsten Bahnhof und unterbrach abrupt unser Streitgespräch.

Schnaubend ließ die Lokomotive Dampf ab, keuchte und stöhnte. Draußen war es bereits dämmrig und der Lärm der Aus- und Einsteigenden drang gedämpft auch in die Abteile der 1. Klasse. Schritte und ein paar vorbeiziehende Schatten weckten Zweifel, ob wir das intime Separee weiterhin für uns allein behalten würden. Wir hatten Glück, niemand störte vorläufig unsere plötzlich etwas angeschlagene Zweisamkeit.

„Mit ´Kraft durch Freude´ hatte ich Norwegen kennen gelernt. Ein herrliches Erlebnis!

Dann kam der Krieg, an den niemand von uns in den unbeschwerten Hitlerjugend-Tagen gedacht hätte. Niemand von uns wollte es zuerst glauben“, nahm Kurt den unterbrochenen Gesprächsfaden wieder auf …“und ohne, dass ich es wollte , war ich auf einmal in der Partei registriert!“

„Und warst damit einverstanden“, unterbrach ich abermals.

„Es blieb nichts anderes übrig und wir hatten immer noch geglaubt und auf eine schöne Zukunft gehofft. Ehrlich und zuversichtlich hatten wir davon geträumt…“

„Woran, an Deutschland“? Ein Gefühl der Skepsis kroch in mir hoch. Deutschland war nicht meine Heimat und trotz gleicher Sprachwurzeln gab es in der Geschichte oft genug heftigen Bruderzwist zwischen uns Nachbarn.

„Ja, auch an Deutschland“, entgegnete Kurt etwas elegisch.

„Und was hat dann Deinen angeblichen Sinneswandel bewirkt?“ wurde ich ungeduldig.

Eine kleine Pause entstand. Kurt sah keinen Grund für eine Rechtfertigung, wehrte mit einer Handbewegung das leidige Thema ab…um es gleich danach wieder aufzunehmen.

„Es waren viele Dinge, die mir mit einem Mal nicht mehr gefallen haben. In meinem Glauben waren Risse entstanden, Zweifel, ob alles das, was man uns als einzige Wahrheit vorredete, auch Wahrheit war?“

„Glaube und Wahrheit passen halt nicht immer zusammen…“ bemerkte ich nebenbei.

Kurt überhörte die Anspielung, fuhr unbeirrt fort.

„Beim Militär habe ich dann jede Sympathie für die Nazis eingebüßt! Sinnloser Drill, absolute Dominanz der militärischen Hierarchie, Schikanen… unter dem Slogan: Führer befiehl, wir folgen…sollte durch blinden Gehorsam jede eigene Meinung im Keim erstickt werden. War diese perfekt organisierte Partei zu einem gefährlichen Machtapparat verkommen, fragte ich mich? Trotz Siegestaumel, in dem das Volk schwelgte, eine bedrückende Aussicht!“

Ich konnte nur beipflichten und nickte. Während der kurzen Zeit unserer Freundschaft, hatte ich sehr wohl gemerkt, dass mein Auserwählter kein Typ war, der sich durch ein Diktat von oben unterwerfen ließ. Freiheit der Gedanken war sein Motto.

„Meine Einheit wurde für den Einsatz am Kriegsschauplatz Nordafrika trainiert“, erzählte Kurt weiter.

„Aber Du warst nie in Afrika“, forschte ich nach Ungereimtheiten in seinem Bericht.

„Dazu ist es zum Glück nicht gekommen.

Ein gütiges Schicksal – Hitler würde sagen die Vorsehung – hat mich davor bewahrt und zwar durch einen auf den ersten Blick sehr unangenehmen Anlass. Als Luftwaffengefreiter zog ich mir bei der Wartung der Maschinen eine Bleigasvergiftung der Augen zu. Es war sehr schmerzhaft und da ich seit einer Staroperation als 13-Jähriger ohne Linsen bin, auch nicht ungefährlich.“

Unwillkürlich schaute ich auf die dicke Brille, die Kurt trug und ergriff seinen Arm.

„Einem Arzt verdankte ich die Chance vom Militärdienst befreit und statt als kriegsverwendungsfähig nur noch als arbeitsverwendungsfähig eingestuft zu werden.

Ich habe die Situation genutzt und neben meiner Tätigkeit am Tage, abends zu studieren begonnen, bis…ja, bis ich Berlin verlassen musste.“

„und hast jetzt eine sehr attraktive Position, bei der Du letztendlich auch für den Krieg arbeitest“, stellte ich fest.

„Genau wie Du…“ gab Kurt den Vorwurf zurück. „Wir sitzen doch alle in einem Zug, aus dem wir nicht aussteigen können…“

„Und wohin fährt er uns…“?

Kurt zuckte die Schultern. „Das weiß ich nicht, aber wenn kein Wunder geschieht, dann wahrscheinlich in den Abgrund!“

„Also glaubst Du auch nicht an den Endsieg, den uns die Nazis so überzeugend predigen? Und wie könnte das Mirakel aussehen, das uns ein gnädigeres Ende bescheren würde?“

„Genau wie für den Endsieg, sehe ich keine Chance dafür. Hitler hat zu hoch gesetzt und seine Karten verspielt. Er ist jeglicher Vernunft unzugänglich und hält stur an seinem Kurs fest. Dafür ist er bereit, uns alle zu opfern. Er ist von sich überzeugt und dachte, sein Kuhhandel mit England müsste aufgehen! Aber der ist vor allem durch die Machtübernahme Churchills jämmerlich geplatzt!“

„Was wollte er denn eigentlich von England“?

„Dass die Briten mit der Ausdehnung des deutschen Reiches über Mittel- und Osteuropa einverstanden sind! Als Gegenleistung wollte er ihnen die alleinige Herrschaft über ihre Insel garantieren!“

Ich erinnerte mich an die Schlagzeilen im „Völkischen Beobachter“ als ich kurz vor dem Einmarsch der Nazis in Polen, vom Urlaub zurückkehrte; Nie wieder Krieg gegen England, lautete damals die hoffnungsvolle Schlagzeile.

„Wunschtraum eines Utopisten, der es verstanden hatte mit zündenden Reden ein ganzes Volk für seine heroischen Ideen zu begeistern,“ setzte Kurt fort. „Ein eitler, großmannssüchtiger Träumer, der, einmal an die Macht gelangt, durch nichts zu stoppen ist!“

Mein Blick glitt zum Abteilfenster. Lichtlose, beängstigende Schatten huschten von draußen vorbei. Wir hatten die Verdunkelungsvorhänge noch nicht herunter gelassen und alles um uns verschwamm in trostloser Finsternis.

„Siegesrausch und Massenhysterie, Emotionen, die in einem Fußballstadion verständlich und harmlos erscheinen mögen, sind in der Politik, wo mit Menschenleben gepokert wird, eine Katastrophe“, seufzte Kurt.

„Und was wird aus uns, wenn wir aus dem fahrenden Zug nicht mehr aussteigen können“?

„Ich weiß es nicht“, wiederholte Kurt. „Es soll Widerstandsgruppen geben, die das tödliche Risiko des Ausstiegs aus dem dicht gesponnenen Netz der Partei wagen, aber sie sind schlecht organisiert und…“ er zögerte, „abgesehen von der Gefahr des Misslingens, fühlte ich mich bei

Einer solchen Flucht irgendwie als Verräter an meinen Landsleuten – nicht Hitler und seinen Parteibonzen gegenüber – …nein, wir müssen drin bleiben im Zug, komme was da wolle!“

Wieder trat eine Pause ein, dann wendete mir Konrad ein entschlossenes Antlitz zu…“ und ich verspreche Dir, wir werden es durchstehen – gemeinsam – was auch immer uns bevorsteht!

Seine Worte klangen so bestimmt, dass ich mich müde und ein wenig beruhigter an seine Schulter lehnte.

„Aber noch ist es nicht so weit…“ tröstete Kurt und streichelte meine Wange. „Versuch´ ein wenig zu schlafen, morgen früh ist unser Ziel erst einmal Berlin.“

Mit gemischten Gefühlen kletterte ich ein paar Stunden später am Anhalter Bahnhof aus dem Waggon in einen windigen und kühlen Aprilmorgen.

Der so oft von mir frequentierte, von Pfiffen und Lautsprechern widerhallende Perron erschien mir mit einem Mal merkwürdig anders, hatte etwas Abweisendes in seiner schrillen Geschäftigkeit.

Auch die Fahrt mit der S-Bahn in ein mir unbekanntes Stadtviertel und der anschließende Fußweg erfüllten mich mit Ungewissheit.

Was würde mich hier erwarten?

Wie würde man mir begegnen?

Mit Misstrauen, vielleicht mit Ablehnung.

Die Straße, wo Kurt aufgewachsen, als Kind gespielt und seine Jugend verbracht hatte, war beiderseits durch Bäume verschönert und trug daher den Beinamen „Allee“. Doch die Häuser hinter den kahlen Ästen zeigten eine ebenso graue Patina wie die Fassaden in manchen Bezirken meiner Heimatstadt. Schmale Fensterkreuze durchbrachen in regelmäßiger Anordnung das eintönige Gemäuer.

Eine recht kleinbürgerliche Atmosphäre also, stellte ich ein wenig enttäuscht fest.

Vor einem riesigen Holztor, das das Gebäude wie eine Festung abzuschotten schien, blieb Kurt stehen. Tagsüber war dieses mit einigem Druck zu öffnen und gab den Blick in einen düsteren Flur frei, dessen untere Hälfte mit verblichenen Kacheln geschmückt war. Von hier wand sich eine knarrende Treppe zu den Stockwerken hoch, von deren Gängen, Türen wie zu verborgenen Verliesen, führten.

Vor einer dieser Pforten in der dritten Etage hielt Kurt inne. Ehe er die Klingel zu der Wohnung betätigen konnte, öffnete sich das Portal und Kurts Mutter stand mit einem nicht zu deutenden Lächeln, mir von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Es waren nur Sekunden eines ersten Eindrucks, den wir austauschen konnten, denn sofort übernahm Kurt die Vorstellung und schob mich in die Behausung seiner Eltern.

Ich spürte keine Ablehnung, auch kein Misstrauen, eher Neugierde während der Begrüßungsformalitäten.

Auch dieser Familie diente die Küche als eigentlicher Lebensraum. Während seine Mutter das Mittagessen zubereitete, bei dem ich mich pflichtgemäß als Hilfe anbot, ergab sich die erste Gelegenheit zu einem zögernden Gespräch, wobei sich die Mutter als sehr redselig entpuppte. Ein wenig rundlich von Statur, waren es vor allem ihre wasserblauen Augen, die mich prüfend aus einem hellhäutigen, fast faltenlosen Gesicht heimlich immer wieder musterten. Etwas unordentlich gekämmt, umrahmte ihr mahagonifarbenes Haar, das Antlitz.

Eine Frage stand unausgesprochen in ihren Blicken: liebte dieses fremde Geschöpf ihren Sohn auch wirklich und wahrhaftig. In seinem Brief hatte er ihnen so enthusiastisch von ihr vorgeschwärmt, dass sie ein echtes Wunderkind erwartet hatten.

Und nun…da sie diesem offenbar seltenen Exemplar leibhaftig gegenüber standen…?

Na ja, sympathisch wirkte sie zwar…aber etwas Wundersames war an ihr nicht zu entdecken…

Beim Mahl, das des besonderen Anlasses wegen in der „guten Stube“ gedeckt war, untermalte Kurts Mutter die Zeremonie mit, von lebhafter Mimik gewürzten Erinnerungen aus der guten, alten Zeit…als sie in Köln, in der Filiale eines großen Lebensmittelkonzerns als Verkäuferin tätig war. Was waren doch deren Inhaber für gute Leute, sogar den dreijährigen Kurt durfte sie mit ins Geschäft nehmen und als er einmal in der Auslage aus einem Glas Honig naschte, hatten nicht nur Kunden, sondern auch die Arbeitgeber riesigen Spaß an dem Anblick!

Lange war das her und als Juden musste die ganze Familie in den „Dreißigern“ nach Amerika auswandern.

Ja und ihr Kurt, der war auch immer ein guter Junge…aber die Nazis hatten die ganze Weltordnung durcheinander gebracht.

Kurts Vater lächelte still vor sich hin. Sein graues Haar zierte mangelhaft einen schmalen Kopf, der im Gleichklang zu Mutters Erläuterungen, stets zustimmend nickte.

Obwohl schon lange verstorben, wurde auch ihr Vater in das Familienpanorama mit einbezogen, fungierte er doch als schrecklich geiziger, aber höchst erfolgreicher Bergwerksdirektor in einer Kohlengrube. Vom Hüttenmann hatte er sich in jener verflossenen Ära zum Chef empor geschuftet.

Wie Kaskaden eines Wasserfalls purzelten die Worte von Mutters Lippen, ließen in wenigen Minuten einen ganzen Lebenslauf hernieder rieseln.

Kurt versuchte ihren sprudelnden Quell zu stoppen und wendete sich an seinen Vater, der vor kurzem 25-jähriges Betriebsjubiläum gefeiert hatte. Die üblichen Ehrungen bei so langer Dienstzeit fanden natürlich unter einer Hakenkreuz-Dekoration statt, zu der sich jedes Unternehmen, wollte es weiter bestehen, bekennen musste. Stolz präsentierte der Vater die Fotos von dem Ereignis.

Als überzeugter Sozialdemokrat hatte er nichts mit der Partei im Sinn, aber als kleines Rädchen im großen Getriebe der Wirtschaft, sozusagen als unbedeutender Statist, versuchte man wenigstens nicht, ihm eine Mitgliedschaft abzupressen. Zudem war er auch kein Typ für ein Aufbegehren. Wenn er abends in der Nachbarkneipe seine „Molle“ schlürfen konnte, war er mit Gott und der Welt zufrieden. Zwar führten diese „Mollen“ manchmal zu Plänkeleien im sonst recht biederen Familienmilieu, waren aber nicht ernst zu nehmen.

Wie es die Tradition vorschrieb, gab es am Nachmittag Kuchen und Cafe – einen labbrigen Muggefuck, denn echter Bohnenkaffee war längst eine kaum aufzutreibende Mangelware. Dazu erschien eine Schwester des Vaters, die von dem „Wunderkind“ gehört hatte und dieses nun ebenfalls begutachten wollte.

Für die Nacht wurde das Kanapee in der guten Stube zu einem Bett für mich umgestaltet und am nächsten Abend endete der Blitzbesuch durchaus positiv und harmonisch.

Die Verbindung Wien-Berlin schien unter einem guten Stern zu stehen….

Mit Sonne, Sturm und peitschendem Regen kämpfte im April der Lenz um den Sieg, die Natur gestattete ihm dieses Debakel, bis sich der wilde Geselle widerstrebend verabschiedete.

Ein ewiges, aber immerhin unblutiges Gerangel.

Für mich und Kurt wurde der Triumphzug des Frühlings eine Zeit der produktiven Pläne. Jeden Abend saßen wir in meinem Kabinett beisammen und grübelten über die Wege zur Verwirklichung unserer Wünsche. Und so regelmäßig wie das Amen im Gebet, versäumte Kurt die letzte Straßenbahn, die ihn vom Alsergrund nach Hietzing hätte transportieren sollen. Bedauerlicherweise musste er demnach mitten in der Nacht die einstündige Strecke zu Fuß absolvieren.

Eine harte Probe für einen jungen Liebhaber und meiner Mutter schmolz fast das Herz vor Mitleid, aber was sollte sie machen, wenn wir uns nicht trennen konnten.

Kurt hatte den Hochzeitstermin für September vorgesehen.

Wo wir wohnen würden…?

Natürlich in meinem kleinen, rosafarbenen Palast! Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Alle Bedürfnisse der Menschen waren den Forderungen des Krieges unterworfen und streng regelmentiert.

Ein wenig eng würde es schon werden, doch die Ottomane, die jetzt ihren Platz vor den Elternbetten im Wohnzimmer hatte, passte nach x-maligen Messungen in die hinterste Breitseite von meinem Gemach und ein altes Sprichwort weiß zu berichten: „Raum ist in der kleinsten Hütte…! Manch´ Stoßseufzer meiner Mutter irrte zur Heiligen Maria angesichts der zu erwartenden Familienerweiterung in einer Zimmer-Küche-Kabinett-Behausung.

Na gut, also September, stimmte sie zu. Das waren immerhin noch 5 Monate und vielleicht geschah in dieser Zeit irgendein Wunder, das zu mehr Platz verhalf.

Stattdessen betrat jedoch völlig ungewohnt und sehr energisch mein Vater die Bühne des Geschehens.

Nie hatte er bisher versucht, sich in die häusliche Szenerie einzumischen. Stets verstand er es, sich geschickt aus allen kleinlichen Alltagsplänkeleien herauszuhalten. Doch jetzt stand etwas sehr Wichtiges für ihn auf dem Spiel – die Hochzeit seiner einzigen Tochter!

Hatte er bisher alle Entscheidungen großzügig und unwidersprochen Mutter überlassen, so agierte er nun plötzlich sehr zielstrebig und war entschlossen diese „heilige“ Handlung für mich in seine von Mutter als „patschert“ bezeichneten, Hände zu nehmen.

Dabei ging es in erster Linie um den Termin.

September…?

„Nein…!“ entschied Vater.

Kein Zeitpunkt für eine würdige Hochzeit!

Alle frommen, feierlichen Feste sind da bereits vorbei, der Sommer im Dahinschwinden und die grauen, trüben Tage nahe.

Juni, das wäre der richtige Termin für ein solch´ außerordentliches Fest! Wenn der Altar überquoll vom Blumenschmuck der vorausgegangenen Fronleichnamsprozession, ja da wäre der richtige Augenblick, für ein solch´ einmaliges Ereignis.

Anhand des Kirchenkalenders für das Jahr 1943 bestimmte er den 26. Juni für die Hochzeit seiner Tochter.

Wir hatten nichts dagegen einzuwenden. Je früher, desto besser. Auch Mutter erklärte sich einverstanden. Wenn schon die Heiratsmaschinerie nicht zu bremsen war, besser bald, dann würden auch die ständigen Nachtwanderungen von Kurt aufhören.

Natürlich schlug Mutters gesamte Schwesternschaft die Hände über dem Kopf zusammen:

Kennen sich kaum 2 Monate und die Braut noch keine 21… Wie sollte das gut gehen? Und noch dazu ein Deutscher! So unkten sie im Geheimen…

Nicht immer marschierten die Österreicher im Gleichschritt mit den deutschen Nachbarn. Eine Art Konkurrenzkampf rumorte immer noch in den Köpfen und in der seligen Kaiserzeit lag man gar oft im Clinch miteinander.

Für mich und Kurt zählte die Ansicht der lieben Verwandten natürlich nicht, die hatten sowieso immer etwas zu bekritteln und suchten nach Gründen für schlechte Prophezeiungen.

Jedenfalls stand nunmehr der 26.6. als viel versprechender Beginn unseres gemeinsamen Lebens für alle fest. Selbstverständlich würde ich „ganz in Weiß“ vor den Traualtar treten, obwohl es noch etwas ungewiss schien, wie ich mit den Punkten auf meiner Kleiderkarte zu einer solchen Robe gelangen könnte.

Voll Enthusiasmus blickten wir der nahenden Zukunft entgegen, bis plötzlich und unerwartet ein ungeheueres Problem auftauchte.

Kurt war zwar evangelisch geboren und getauft, aber durch den Einfluss der Nazis während seiner jugendlichen Ahnungslosigkeit „gottgläubig“ geworden.

An Gott zu glauben, das wäre doch das Wesentliche, trichterte man den Jungens ein, wozu brauchte man dafür irgendwelche Institutionen. Das klang recht logisch und außerdem konnte man sich dadurch allen kirchlichen Zwängen, reinen Gewissens, entziehen.

Es gab einen Gott…wo, wer, warum er existierte, das blieb sowieso ein Rätsel. Also basta, gottgläubig – ein Symbol für etwas oder nichts…unfassbar, unangreifbar, neutral…

Doch angesichts des vorgesehenen Hochzeitsprogramms entwickelte sich diese naive Lösung zu einem monströsen Hindernis für unsere schönen Pläne, drohte, als gemeine Fußangel unser Glück zu zerreißen.

Sie nagte, je rascher die Zeit dahineilte, Tag für Tag quälender an Bräutigam Kurts Seelenfrieden.

Wieder einmal gefährdete die Religion die Eintracht von Menschen.

Evangelisch geboren und getauft, stellte für einen braven, katholischen Österreicher sowieso schon ein kleines Vergehen dar, nun aber auch noch ganz ohne erkennbares göttliches Rückgrat durchs Dasein zu wandeln, glich der Häresie.

Doch der Herrgott ist gütig und verzeiht großmütig. Nie wäre es für eine Um- bzw. Einkehr in den Schoß der heiligen – natürlich katholischen – Kirche zu spät!

Mutter sah in der Katholischwerdung Kurts lediglich eine problemlose Formsache.

Vater hielt sich zu diesem Thema respektvoll zurück. Trotz inniger Verbundenheit mit seiner Kirche, vertrat er ihre Belange nicht in fanatischer Art und Weise, auch wenn er sie für allein selig machend hielt. Er übte Toleranz gegenüber fehl geleiteten, armen Sündern.

Daher wartete er jetzt auch schlicht und einfach ab, was der künftige Schwiegersohn in dieser prekären Situation unternehmen würde.

Er forderte nicht, er drängte nicht, er wartete nur ab…

Dadurch wurde Kurt indirekt zum Handeln gezwungen.

Dabei prallten in seinem Inneren die divergentesten Gedanken und Gefühle in aller Heftigkeit aufeinander. Auch ihn durchfloss – wenn auch ein wenig verschüttet – eine mystisch-religiöse Ader.

Aber musste es denn ausgerechnet dieses römisch-katholische Diktat sein, dem er sich unterwerfen sollte?

Gegen das hatten seine Vorfahren einst voll Überzeugung und Kampfeifer mit Waffen aufbegehrt, ein Krieg der auch heute noch da und dort unterschwellig tobte.

Ja er wollte und war fest entschlossen am 26.6. zu heiraten, aber der Preis, den er dafür zu zahlen hatte, kostete ihm vieler Nächte Schlaf.

Er war nicht feige und es störte ihn nicht im mindesten, dass der Staat alle Glaubenshandlungen misstrauisch und argwöhnisch ins Visier nahm, sie am liebsten verbieten würde. Nur weil eine so große Zahl Anhänger, vor allem in Österreich, der katholischen Konfession verbunden waren, riskierte er es noch nicht, sie zu liquidieren. Man duldete sie vorläufig stillschweigend.

Eine mögliche Konfrontation von außen fürchtete Kurt nicht. Wenn er von einer Sache überzeugt war, dann stand er zu ihr.

Aber war der Katholizismus seine Sache?

Fühlte er nicht gerade gegen dieses in der Geschichte so oft fanatisch und unduldsam agierende Macht-Empire eine innere Aversion?

Sollte er sich selbst untreu werden?

Andererseits, durfte er, äußerlicher Umstände wegen, seine Hoffnung auf eine glückliche Zukunft opfern?

So gut es ging, verbarg er seine Nöte vor mir, die ich zwar katholisch war, aber scheinbar, wie er meinte… eine recht oberflächliche Verbindung zur Kirche hatte.

Bei den nächtlichen Wanderungen von unserem zu seinem Domizil, begann er mit sich selbst das Für und Wider eines Übertritts zu erörtern und kam doch keiner Entscheidung näher.

Unentschlossen nahm er des morgens wieder die Arbeit im Büro auf, gebeutelt von Zweifeln, fand er keine Ruhe.

Er wusste, dass man es ihm nie verzeihen würde, seine Braut ohne kirchlichen Segen zu ehelichen und auch für sie wäre es ei n bitterer Wermutstropfen ohne den selbstverständlichen Ritus, das neue Leben zu beginnen und vielleicht tatsächlich ein böses Omen für ihre Gemeinschaft.

Ein unentwirrbarer Kreislauf des Für und Wider peinigte ihn.

Da tauchte als rettender Engel ein Mann auf – ein katholischer Pfarrer – der den Widerwilligen, Zögernden und von Gewissensbissen Verfolgten, verständnisvoll unter seine Fittiche nahm.

Dieser Diener der Kirche besaß eine Ausstrahlung, die weit über jedes religiöse Engagement hinausging.

Ihm gelang es schließlich in vielen Gesprächen den Zaudernden behutsam in die Geheimnisse des Glaubens einzuführen und auf die vorgeschriebenen Zeremonien des Konvertierens vorzubereiten und letztendlich hindurch zu manövrieren.

Er lehrte Kurt vor allem, dass es nicht das jeweilige Dogma, diese äußere Hülle, sondern der dahinter verborgene Kern wäre, der allein den Glauben verkörpere. Und der würde von jedem einzelnen Menschen getragen und gestaltet. Wie er mit ihm umging, nur dafür hätte er sich dereinst vor Gott zu verantworten.

Er betonte ganz besonders, dass Fanatismus nicht in das Bild echten Glaubens passe. Fanatiker, hob er ausdrücklich hervor, tauchten in der Geschichte sowohl in sakralen und weltlichen Kreisen immer wieder auf und wären die Todfeinde der menschlichen Gesellschaft. Hinter der Maske des Weltverbesserers würden sie ihr satanisches Antlitz verbergen und Zerstörung und Chaos verbreiten.

Religionen und Ideologien eigneten sich besonders für solch´ teuflisches Wirken, denn seit Urzeiten wären die Menschen anfällig für falsche Propheten und hingen diesen in fast magischer Weise an.

Kurt begriff sofort, worauf der Pater mit „Ideologie“ anspielte und wurde sehr nachdenklich.

War es nicht auch Hitler gelungen, Menschenmassen in seinen Bann zu ziehen und sie zu verleiten, ihm bedingungslos zu folgen? Und hatte nicht auch er sich mitreißen lassen von den wortgewaltigen Versprechungen dieses eitlen Verführers, der sich mit einem „Heil“ vor seinem Namen wie ein Gott als begnadeter Lenker und Führer vom Volk hofieren ließ. War das nicht Personenkult ältester Machart, der längst überholt sein müsste.

Allmählich verlor Kurt seine Abneigung gegen das ihm von Kindheit an, suspekte Gesicht des Katholizismus, ließ sich schließlich mit ihm ein, damit am 26.6. nach einer zweiten Taufe, das nächste Sakrament – die Ehe – abgesegnet werden konnte.

Ein trüber Tag, mit tief hängenden, Regen ankündigenden Wolken, hinderte die Sonne an der Entfaltung ihrer Strahlkraft. Die Luft war schwülwarm, aber ohne jede Bewegung, als Kurt am Morgen des 26.6. durch die Straßen eilte, um das vorbestellte Brautbouquet aus einem der besten Blumengeschäfte der Innenstadt abzuholen.

Teilnahmslos, ohne Interesse und Ahnung von seinem großen Tag, hasteten Passanten an ihm vorüber, strebten ebenfalls irgendeinem Ziel zu…flüchtige Begegnungen auf den Straßen einer Großstadt, in der die Bewohner anonym, jeder für sich, ihre Wege verfolgten.

Als duftendes Wunder aus Floras Zaubergarten zeigte sich dann das Gebinde, das ich in wenigen Stunden als schmückendes Accessoire im Arm halten würde.

Eingebettet in filigranes Grün entfalteten über ein Dutzend Rosen halb geöffnet, ihre zarten Blütenkelche in einem fast unwirklichen Farbton zwischen Rose und hellem Gelb.

Auch mein Kabinett, das mir ab heute nicht mehr allein gehören würde, ertrank in einem Meer bunt schillernder Blumen, deren Formen, Farben und Gerüche den kleinen Raum in einen Garten Eden verwandelten. Auf jedem noch freien Plätzchen, wässerten in Töpfen und Kübeln die berauschenden Glücksbringer, entfalteten blühende Grüße von Geschäftsfreunden, Kollegen, Bekannten aus Berlin und Wien.

Eher nüchtern gestaltete sich dagegen der Vormittag mit den anstehenden Formalitäten.

In einem knapp halbstündigem Auftritt vor dem Standesbeamten avancierte ich vom Fräulein zur Frau, während draußen am Flur die nächsten Heiratswilligen auf den Staatsakt warteten.

Als Hochzeitsgeschenk drückte man uns unter dem streng dreinblickenden Porträt des „Führers“, seinen „Kampf“ in die Hand. Eine Gabe, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit verabreicht wurde, jedoch zumeist ungelesen in Schubladen dahingammelte.

Die nächste Routineübung fand beim Fotograf statt, der den Ehebund mit allerlei Einstellungen und Posituren möglichst attraktiv aufs Bild bannen und für alle Zeiten zu

Verewigen suchte. Zwar festlich gekleidet, aber nicht in großer Gala, hielt ich dafür einen Strauß roter Rosen, als Blickfang in Händen.

Nach einer kleinen Verschnaufpause, in der die gerade erst die vor dem Standesbeamten aufgesteckten Ringe vom Finger gezogen und für den eigentlichen Trauakt verwahrt wurden, vollzog sich dann das höchst spektakuläre große Ereignis.

Es fand um 2 Uhr Nachmittag statt – für den vollziehenden Priester der heiligen Handlung, da er bis dahin wegen der davor geplanten Messe hungern musste, sehr spät. Eine gewährte Toleranz der Kirche hatte das Nüchternheitsgebot vor der Kommunion für uns als Brautpaar ausnahmsweise auf 2 Stunden reduziert.

Das folgende Programm trug dann ausschließlich die Handschrift meines Vaters. Heimlich und diskret hatte er es in Szene gesetzt.

Nur das für den Weg vom Haus zur Kirche angeheuerte Transportmittel, hatte Mutters Spürsinn erschnüffelt!

Im Bewusstsein des Prestiges und der Etikette aus Kaisers Zeiten hatte Vater für die winzige Distanz von knapp 5 Minuten Fußweg, einen Fiaker beordert.

Pünktlich ¼ vor 2 Uhr wartete er mit seinem festlich geschmückten „Zeugl“ vor unserem Haus. Mit baumelnden Blumenampeln auf die Köpfe montiert, wieherten zwei „Braune“ munter in die warme Luft. Eigentlich sollten es weiße Schimmeln sein, aber die waren gerade vergriffen.

Leichter Regen setzte ein – der Volksmund räumt ihm ein Glückssymbol ein – und der stolze „Kutscher“ mit Zylinder in traditionellem „Gwandl“ kurbelte rasch das Dach samt Blumenarragement hoch.

Ein kurzes Schnalzen mit der Peitsche und die zwei geschniegelten Rösser setzten mit einem Ruck, Wiens berühmtestes Vehikel in Bewegung.

Lustig klapperten ihre Hufe die Gasse entlang, gefolgt von einer Unmenge neugieriger Augen, die ringsum aus sämtlichen Fenstern das seltene Schauspiel beobachteten. Viel zu schnell entschwand es für sie um die Ecke.

Während ich jede Sekunde dieser Ouvertüre zum Festakt auskostete, fühlte sich Kurt als ebenfalls Hauptakteur, nicht ganz wohl in dieser Rolle.

Vor dem Kirchenportal entließ uns der Fiaker und Mutters Cousin – der fesche Ferry – übernahm mich für die Prozession durchs Kirchenschiff. Inzwischen hatten sich auch Eltern, Verwandte und Bekannte davor eingefunden. Drei Kinder – jüngste Cousinen von mir – ergriffen die lange Schleppe, die aus einem im Haar befestigten Diadem über der weißen Robe herunterwallte. Gemessenen Schrittes stieg ich die Stufen zur Kirche die dem hl. Canisius, dem großen Prediger der Jesuiten geweiht war, empor.

Das gesamte Gefolge schloss sich an und als Schlusslicht führte Ferrys Frau, Kurt durch die weit geöffnete Pforte.

Als wir mit der Hochzeitsgesellschaft dem Altar zustrebten, ertönte von der Empore die Orgel und ein feierlicher Chor geleitete uns mit Wagners „Treulich geführt, ziehet dahin…“ zum Zentrum kirchlichen Zeremoniells.

Das war die spezielle Überraschung, die mein Vater mit dem renommierten Ensemble der Wiener Staatsoper ohne Wissen der Familie, für diesen Tag ausgewählt hatte.

Wie er ein solches Aufgebot arrangieren konnte, blieb sein Geheimnis. Vielleicht war ihm der gute Draht zur Muttergottes dabei behilflich gewesen.

Überwältigt von dieser einzigartigen Hommage, ließ ich alles etwas benommen wie im Traum – an mir vorüberziehen. Noch mehr beeindruckt von diesem musikalischen Glückwunsch schien Kurt zu sein. Er, dem das ganze Drumherum bisher eher zuwider war – am liebsten hätte er mich in einer unbekannten kleinen Kirche irgendwo geheiratet – erfuhr nun die ganze Bandbreite eines feierlichen Ritus.

Die ganze Messe hindurch begleiteten die klaren Stimmen der Sänger das Geschehen vor dem Altar… die Musik entführte uns in eine unirdische Atmosphäre, wo ein Priester als Vertreter eines in den Weiten des Kosmos waltenden Gottes, unseren Bund segnen würde.

Nur eine knappe Stunde währte jedoch die Entrücktheit, dann holte der bei solchen Anlässen übliche Trubel uns zurück in die Gegenwart.

Noch einmal Fotograf und als Ausklang und letzter Höhepunkt, das große Hochzeitsessen inmitten von Mutters reichhaltiger Verwandtschaft in einem nahe gelegenen Gasthof, das durch „organisatorische“ Zusammenarbeit, trotz Krieg, keinen Wunsch offen ließ.

Natürlich spielte auch hier eine Musikkapelle lautstark, lieferte ein flottes Repertoire, das zu ausgelassener Fröhlichkeit animierte.

Nur…solch übermütiger Umtrieb passte heute nicht recht zu unseren Vorstellungen und bald nach dem Festessen flüchteten wir in unser von Blumen übersätes, winziges Paradies, um in ungestörter Zweisamkeit diesen Tag ausklingen zu lassen.

Einen Tag…dessen Einmaligkeit alle Ärgernisse, Nöte und Versuchungen des Alltags, als nie versagender Wegweiser, die Zukunft überstrahlen sollte.

Am nächsten Morgen traten wir die Hochzeitsreise an. Zur Verabschiedung hatten sich unsere beiden Elternpaare am Bahnsteig eingefunden. Wir winkten vom Perron des Zuges noch einmal, dem nunmehr zur nächsten Verwandtschaft gehörenden, per Zufall zusammen geführten, Quartett zu.

Da stürzte im letzten Augenblick, kurz vor Abfahrt, die Mutter von Kurt auf die Plattform des Waggons, umarmte ihren Sohn stürmisch, wollte ihn nicht freigeben, küsste ihn unter Tränen. Energisch musste sie der Schaffner zum Verlassen der Brücke zwingen.

Während uns die Eisenbahn durch die liebliche Waldlandschaft der Umgebung Wiens schaukelte, spielten sich in der Wohnung meiner Eltern im 4.Stock dramatische Szenen ab.

Offenbar hatte die Mutter von Kurt – meine Schwiegermutter – erst gestern, an dem für uns so schicksalhaften Tag, dessen Tragweite für sich selbst erkannt. Schlagartig musste ihr bewusst geworden sein, dass sie nunmehr als Mutter nicht mehr die erste, dominante Rolle im Leben ihres Sohnes spielen würde. Jenes fremde Mädchen, das sie nur flüchtig kennen gelernt hatte, würde in Zukunft als Hauptperson sein Dasein mit bestimmen. Eine Rivalin gegen die sie machtlos war. Sie und deren Eltern hatten ihr den Sohn entrissen, eingefangen in ein fremdes Milieu….

Verständnislos standen ihr Mann und meine Eltern – Kurts Vater hatte die ganze Sache doch recht gut gefallen und auch der süffige Wein statt der gewohnten „Molle“ war ihm wohl bekommen –ihren heftigen Gefühlseruptionen, die sich wie bei einem Vulkanausbruch plötzlich und unerwartet entluden, gegenüber.

Als Mixtur aus echtem Schmerz, Bitternis und Show-Talent war in der Küche unserer Wohnung ein bühnenreifes Drama gekränkten Mutterstolzes abgelaufen.

Indessen drang nach Durchquerung des Salzburger Landes unser Zug in die gewaltige Bergwelt Tirols ein.

Kurt hatte ein hoch gelegenes Bergbauerndorf als Aufenthalt für diesen besonderen Urlaub gewählt und als Unterkunft, ein Zimmer auf einem Bauernhof vorausbestellt. Ganz losgelöst vom Alltag, weitab vom Tagesgeschehen wollten wir in sauberer, unverdorbener Natur unser gemeinsames Leben beginnen.

Nach der Bahnfahrt beförderte uns ein altertümlicher, knarrender Bus in unzähligen Kurven zu einer abgeschiedenen Hochalm, deren Bergwiesen uns jetzt kurz vor Beginn des Sommermonats Juli mit einem ganz spezifischen und würzigen Duft, willkommen hießen. Nur wenige Häuser schmiegten sich in die Mulde dieses weltfernen Erdenflecks.

Das Zimmer, das wir bezogen, glänzte vor Sauberkeit.

Der frisch gescheuerte Holzboden ächzte manchmal unter den Schritten.

Zwei Betten, ein Tisch mit Stühlen und ein behäbiger Schrank waren das bescheidene Inventar.

Bunt karierte, gut gefüllte Bettdecken samt Kissen wölbten sich über pralle mit Leinen überzogene Strohsäcke, die uns für zwei Wochen als Himmelbett dienen sollten.

Fürs Frühstück stand frisch gemolkene Kuhmilch sowie ein Teller mit Brot und Käse bereit. Die Lieferanten des zünftigen Tranks trieben, sich mit bimmelnden Glöckchen auf den umliegenden Weiden herum.

Die Nacht war klar. Das glitzernde Funkeln der Sterne verwandelte das Firmament in einen Lichter sprühenden Baldachin. Stille und Frieden umgab uns, als ob die Erde in harmonievoller Ruhe nur Wohlgefallen für Mensch und Tier bereit hielte.

Aber die Idylle, in die wir da hineingeraten waren, wurde von Kurt und mir recht unterschiedlich beurteilt.

Ich empfand nach all´ den vorangegangenen Ereignissen dieses Strohmatratzen-Lager als strapaziöse Zumutung und als dann am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe – ich war notorische Langschläferin – Kurt vor meinem Bett erschien und mir von seinem Spaziergang um 6 Uhr durch diese jungfräuliche Bergwelt vorschwärmte, erfuhr ich das erste Stimmungstief in meiner eben erst eingegangenen Ehe.

Uns beiden, so spontan Zusammengekoppelten, stand offenbar noch eine Durststrecke auf dem mühseligen Weg vom Ich zum Wir, bevor!

Der erste „Kampf der Geschlechter“ begann mit meiner strikten Weigerung die Flitterwochen in dieser Bauernkate auf Strohsäcken zu verbringen. Ich war ein Kind der Großstadt und das bäuerliche Leben mit all´ seiner Mühe lief so fern meines Gesichtskreises ab, dass es sich mir wie einem anderen Planeten zugehörig, darstellte.

Kurt, ein wenig enttäuscht, ein wenig ratlos, versprach schließlich Abhilfe.

Aber hier oben unter den verstreuten, robusten, Wind und Wetter trotzenden Gebäuden, würde sich wohl kaum eine mir genehme Unterkunft finden lassen.

Somit hieß es wohl oder übel Abschied nehmen von den steilen, aber jetzt so herrlich grünen Matten, von der Musik der Kuhglocken, dem Geruch der ländlichen Erde, auf der die Früchte des Sommers zu reifen begannen.

Wir wechselten hinunter ins Tal, in ein ebenso kleines Dorf, das aber mit einem Gasthof, Zimmer mit Matratzen und dem Komfort von servierten Mahlzeiten, ausgestattet war.

Dieser Umzug bedeutete wiederum eine Zumutung für Kurt, denn anstelle von Weite und Höhe im verlorenen Paradies, wurde hier der Ort zwischen enge Felswände gezwungen, ließ keinen unbegrenzten Blick auf den strahlenden Himmel zu, der nun von kargem, unwirtlichem Gestein behindert und abgelenkt wurde.

Trotzdem, der Gasthof zur „Post“ in Bichlbach erwies sich als angenehmes Quartier für die verbleibenden Ferientage.

Bei Wanderungen zu Fuß und Fahrten mit dem Bus versuchten wir soviel wie möglich von Tirols Schönheiten und seinen etwas eigenbrötlerischen, verschlossenen Bewohnern kennen zu lernen und blieben doch Fremde, die in einen unbekannten Lebensraum eingedrungen waren.

In den Stunden nach unseren Ausflügen, las mir Kurt voll Engagement aus Büchern vor, von denen ich bisher nichts gehört hatte. Interessiert, aber nicht immer einer Meinung mit dem, was diese Autoren zu sagen hatten, hörte ich zwar eine Weile zu, oft genug aber endeten die gemütlichen Musestunden in einem Streitgespräch, dem natürlich – wie konnte es anders sein – eine umso innigere Versöhnung folgte.

Bei der Rückfahrt von diesem „Honigmond“ war ein Aufenthalt in der Mozart-Stadt Salzburg eingeplant.

Es war spät abends, als wir dort ankamen. Leise rieselte der berüchtigte Schnürlregen auf Landschaft und Gebäude hernieder.

Zu allem Übel war diesmal in der ganzen Stadt kein Quartier für die Nacht aufzutreiben. Es blieb nichts anderes übrig, als die Stunden bis zum Morgen im wenig einladenden Bahnhofsgelände zu verbringen.

Tiefe Dunkelheit hüllte das barocke Kleinod der Bischofsstadt an der Salzach ein. Den prächtigen Dom, die heimelige Altstadt, die Festung Hohensalzburg…Kein Stern , kein Mond erhellte die Nacht. Als gäbe es sie nicht, lagen ihre Kostbarkeiten irgendwo im Abseits und statt beschwingter Mozart-Weisen, platschte ab und zu ein größerer Wassertropfen aus dem eintönigen Geriesel, auf den Asphalt vor uns.

Etwas geschützt durch den gedeckten Bahnhofsvorbau kauerten wir eng aneinander geschmiegt auf einer recht harten Holzbank und überlegten, ob wir, die für den folgenden Tag vorgesehene Tour zum Attersee unternehmen oder vorzeitig nach Hause zurückkehren sollten. Diese Nacht hatte die „Zeit“ ihr schneckenhaft langsamstes Tempo eingeschaltet und bis zur zaghaften, grauen Dämmerung verging eine kleine Ewigkeit.

Ein feuchter Tagesbeginn, klamme Gliedmaßen, konnten uns dennoch nicht hindern, unseren letzten Urlaubstag dem gesteckten Ziel zu widmen und mit dem ersten Bummelzug starteten wir zum 35 km entfernten Attersee, dem größten des Salzkammergutes.

Zwar hatte der Regen aufgehört, aber der Wasserspiegel des Sees lag bleiern und fahlgrau vor den dunklen Bergformationen.

Wind und Wetter hatten alle möglichen skurillen Formen aus dem Kalkstein herausmodelliert und entsprechend fantasievoll, personifizierten die Bewohner die seltsamen Gebilde.

Wir waren vor allem bemüht, für die letzte Nacht eine Unterkunft zu finden, was sich wiederum als problematisch erwies.

Schließlich landeten wir in einem kleinen Privatzimmer, dessen oberes Geschoß direkt über der Behausung einer grunzenden Schweinefamilie lag. Deren tierische Gerüche bereicherten das kleine, ein wenig muddelige Gemach mit einem speziellen Aroma.

Eine gerechte Strafe, frohlockte Kurt insgeheim im Hinblick auf meine kategorische Ablehnung des so angenehm nach Heu duftenden Strohlagers, oben auf der Tiroler Alm.

Ich hingegen, war nach einem tristen, grauen Tag am ebenso farblosen See viel zu müde, um zu protestieren und dankbar, statt der harten Bahnhofsbank die Nacht wenigstens in einem Bett verbringen zu dürfen.

Zurückgekehrt ins Reich meiner Mädchenjahre, das es nun mit dem Gemahl zu teilen galt, brach der Alltag sogleich nüchtern und unbarmherzig auf uns herein.

Kurt, eingebunden in die Einkaufserfordernisse eines großen Werkes, mühte sich ehrgeizig, die an ihn gestellten Forderungen zu erfüllen, schob die Gedanken, welchem Zweck sie dienten, beiseite. Er arbeitete für unsere Zukunft, wie immer sie aussehen mochte und wollte beruflich einfach weiterkommen.

Inzwischen zog sich das Netz des Krieges über Deutschland immer bedrohlicher zusammen.

Noch blieb die weniger bedeutende Ostmark von Fliegerangriffen einigermaßen verschont. Über die deutschen Städte donnerten jedoch die Bomben der Alliierten immer heftiger hernieder, töten Menschen und deren Werke. Zu den Tausenden Toten an der Front gesellten sich die in Häusern Erschlagenen. Städte begannen ihr Gesicht zu verlieren, aber unbeirrt verkündete Goebels plärrende Stimme den totalen Krieg bis zum Endsieg.

Machtlos standen die Betroffenen diesen Parolen gegenüber. Damit leben und das persönliche „Ich“ aus dem Schlamassel zu retten, galt als einziges Ziel… überleben in dem sich ankündigenden Chaos. Der Kral, in dem die Bevölkerung steckte, war hermetisch abgeschlossen, ein Ausscheren gab es nicht.

Meine Mutter schätzte die Qualitäten ihres so plötzlich ins Haus geschneiten Schwiegersohnes sehr, seinen anständigen Charakter und besonders die beruflichen Erfolge, wusste aber auch, dass er kein sanftes Familienmitglied war und mitunter recht turbulent zu explodieren vermochte. Sie war sich auch im Klaren darüber, dass sie nun die Herrschaft über ihren Sprössling mit ihm würde teilen müssen. . Allerdings im häuslichen Territorium würde sie nichts von ihm zu befürchten haben.

Und ich wiederum war froh, dass mir Mutter die ungewohnte Bürde des Kochens, Waschens und Putzens abnahm und andererseits alle Unbill des äußeren Lebens von meinem Gemahl gemeistert wurde. Dass ich dabei meinen eigenen, nicht zu unterschätzenden Willen in keinerlei Weise opferte, das bekam schon mal, vor allem Kurt zu spüren.

So züngelten halt bisweilen zünftige Kleinkriegsflammen innerhalb des über der Erde entfesselten, Menschen vernichtenden großen Weltbrandes empor.

Alles in allem hielt unser neu gegründeter Clan jedoch eisern gegen die Misere der Zeit zusammen.

Wie befürchtet wurden im Verlauf des Jahres 1943 die Einkaufabteilungen sowie der Verkauf vom Stadtbüro ins Hauptwerk nach Wiener Neustadt verlegt, was für die Angestellten eine tägliche je 30 Kilometer lange Hin- und Rückfahrt per Bahn bedeutete.

Am schlimmsten plagte mich die frühmorgendliche Tour dahin. Verdrossen hockte ich neben Kurt im Vorortezug, der eine meist ebenso mürrische Menschenschar, ratternd und knatternd zu ihren Arbeitsplätzen transportierte. Manche versteckten ihre Müdigkeit hinter einer Zeitung, andere gaben sich unverhohlen ihrem Schlafbedürfnis hin; geschlossenen Auges wackelte ihr Kopf mit den Zugrhythmen hin und her.

Kurt sann nach, wie er für mich die tägliche Strapaze abändern konnte. Zwar galt das Wort „Zwangsarbeit“ offiziell nicht für die deutschen Bürger, aber das „Muss“ zur Arbeit bestand gleichermaßen. Jede verwendbare Altersgruppe war verpflichtet, eine Beschäftigung für den Krieg auszuüben.

Aber vielleicht gelang es ihm, mir wenigstens eine Tätigkeit in einer Firma innerhalb des Stadtbereichs zuzuschanzen. Kurt, als ein vom Kriegsdienst befreiter, dynamischer Angestellter wurde infolge der Abwesenheit, der an der Front eingesetzten Männer, immerhin hoch geschätzt.

Mit Energie setzte sich Kurt für dieses Vorhaben ein und tatsächlich schaffte er es, mir eine Stelle in einem Rüstungsbetrieb, mit Hauptbüro im Stadtzentrum, zu verschaffen. Obwohl er nun die Wegstrecke nach Wiener Neustadt allein bewältigen musste, war er sehr stolz, nicht nur mir eine Erleichterung, sondern etwas fast Unmögliches bewirkt zu haben.

Meine neue Wirkungsstätte lag direkt an der Prachtstrasse, dem Ring mit seinen pompösen Gebäuden, die Kaiser Franz Joseph, der einst so mächtigen Donaumetropole beschert hatte.

Statt der trauten Gässchen mit dem Flair vergangener Zeiten, flutete hier das hektische Treiben der Gegenwart, an den Fenstern des Bürogebäudes vorbei.

Gleich Ameisen strebten in hastender Eile Menschen irgendwohin, Straßenbahnen nahmen schrill bimmelnd, die sich an den Haltestellen drängenden Fahrgäste auf. Schaffner fluchten laut über den ungeordneten Tumult der Ein- und Aussteigenden, die sich mit Ellenbogen-Taktik in die rot-weißen Waggons ergossen. Quietschend holperte die Zweier-Garnitur über die Gleise.

Elegante Geschäfte zwischen diversen Agenturen, protzten beidseits auf den Trottoirs der berühmten Strasse, die hufeisenfömig den Stadtkern umschloss. Bäume spendeten ein üppiges Blätterdach als üppigen Schmuck für attraktive Betonklötze.

Nur wenige Schritte von meinem neuen Arbeitsplatz entfernt, erhob sich majestätisch in monumentaler Großartigkeit der traditionsbeladene Musentempel der Stadt, das Opernhaus. Seine reich ausgestattete Vorderseite war direkt auf die Ringstraße ausgerichtet.

Fresken in der Mittelloggia vergegenwärtigten Szenen aus Mozarts Zauberflöte und in den Bogenöffnungen gemahnten allegorische Bronzestatuen an die Tugenden der Menschheit: Kunst, Fantasie, Heroismus, Liebe…Hoch oben am Gesims ragte schließlich auf jeder Seite eine Pegasusgruppe gen Himmel. Weit geöffnet, streckten die Pferde ihre steinernen Flügel den Göttern entgegen.

Jedes Mal, wenn ich zu diesem grandiosen Musiktempel hinüber schaute, erinnerte ich mich an meine Schulzeit, wo ich so oft hinter dem Säulensitz voll Enthusiasmus den hinreißenden Melodien der großen Meister und den Stimmen der besten Interpreten gelauscht hatte. Manche der großen Namen waren inzwischen aus den Spielplänen verschwunden. Nicht mehr die hohen Preise verhinderten nunmehr die Teilnahme an den Kunstgenüssen, vielmehr zählten die Eintrittskarten zur kaum aufzutreibenden Mangelware.

Die arbeitsfreien Sonntage nutzten wir in diesem Kriegsjahr 1943 meist für Ausflüge in die Umgebung, denn Wien – einst Zentrum eines Weltreichs, das seine ausgediente Rolle mit heiterem Charme würzte – war umschlungen von einem Kranz lieblicher Hügel, auf denen das Grün der Wälder mit dem Blau des Himmels wetteiferte.

Auch Berlin, jener von Energie geladene, ehrgeizige Kraftprotz, der seinen verwundbaren, weichen Kern hinter einer schnöden, oft provokanten Schnoddrigkeit verbarg, konnte mit einer weiten Landschaft um sein Häusermeer werben, doch seinen Ebenen fehlte die Leichtigkeit und Anmut, die die Stadt im Süden auszeichnete.

Zwei Metropolen also, deren Kinder wir waren – Gegenpole von nicht zu leugnender Anziehungskraft! Beide hatten wir – ahnungslos voneinander –Gelegenheit während unseres einjährigen Aufenthalts die An- und Unannehmlichkeiten der jeweiligen Gaststadt wahrzunehmen.

In Wien lockten uns nunmehr gemeinsam vor allem die beiden „Hausberge“, die sich zur Donau hinab neigten, zu Ausflügen und Vergessen des ungewissen Alltags, in eine freundliche Natur, die im Licht des ausgehenden Sommers, der Menschen unsinniges Treiben Lügen strafte.

Und dann der Donaustrom – was trieb doch nicht alles an Zauberhaftem und Hässlichem, Gutem und Bösen, schemenhaft in seinen Fluten. Zwar nicht blau, eher ein wenig träge und grau wiegte er die Stadt in seinen Armen, wälzte sich durch Länder, die von verschiedenen Völkerschaften bewohnt waren bis hin zum Schwarzen Meer…

Der Anstieg von der Donau zum 423 m hohen Leopoldsberg über die „Nase“ verlief relativ steil. Auch er hieß einmal Kahlenberg, während heute der 2 km entfernte und 60 m höhere Hang, diesen Namen trägt und sein Panorama über die Stadt entfaltet. Einst hatte man diese Erhebung der vielen Wildschweine wegen, „Sauberg“ getauft.

So änderten sich zwar die Namen, die grandiose Aussicht von beiden Bergkegeln auf Wien und die Donau war und ist jedoch die gleiche geblieben.

Am Kahlenberg wurde immerhin auch eine für ganz Europa entscheidende Geschichte geschrieben.

In der Barockkirche St. Josef erinnert in einer Kapelle eine Inschrifttafel an das höchst folgenschwere Ereignis.

1683 belagerte Großwesir Kara Mustafa mit 200.000 Mann die Stadt an der Donau, Knapp 20.000 Wiener verteidigten unter Graf Staremberg verzweifelt ihre Metropole. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Erst in letzter Minute traf das Entsatzheer unter Führung des polnischen Königs Sobieski ein. Ursprünglich war dieser mit Frankreich und Schweden alliiert, schloss dann aber angesichts der Bedrohung aus dem Osten, das Bündnis mit Österreich.

Wechselnde Allianzen gehörten seit Olims Zeiten zum Vokabular der Mächtigen!

Was wäre geschehen, wenn…ging es mir durch den Sinn, als wir in dem kleinen Raum vor der marmornen Tafel mit den schwarzen Lettern standen, die verkündete, dass hier ein polnischer König vor der entscheidenden Schlacht, zum Christengott um Beistand gefleht hatte…

„Was wäre geschehen, wenn das Entsatzheer nicht rechtzeitig eingetroffen, die Osmanen nicht geschlagen worden wären und die Moslem Wien erobert hätten?“

Kurt, der neben mir ebenfalls das Relikt aus der Vergangenheit betrachtete, wusste offenbar auch keine Antwort, zuckte nur mit den Schultern.

Stellte das Geschehen vor fast 300 Jahren nur eine längst vergessene Episode im Laufe der Geschichte dar? Immerhin eine äußerst blutrünstige…

Vor meinem inneren Auge schien plötzlich die Zeitspanne zu schrumpfen und ich sah vor mir, wie die Soldaten des Polen auf Pferden heran pirschten, wie sie über die Hügel genau dieses Kahlenbergs stürmten und letztendlich mit Gottes Hilfe…oder was sonst…die fremden Eindringlinge schließlich zum Rückzug zwangen….

Ich sah die vielen Leiber von Ross und Reiter auf den Wiesen des Berges, auf dem wir jetzt standen…wie die vom Sommer gesättigte Erde mit dem Blut der Gefallenen getränkt und das verblassende Grün mit der Farbe des Todes besudelt wurde…

Was wäre gewesen, wenn…?

Würden wir dann heute statt zu Christus, dem personifizierten Gott der Liebe, zu imaginären „Allah“, als höchste Instanz beten?

Die Zeit zwischen dem Gestern und Heute wurde mit einem Mal belanglos…

Das wilde Geschrei der Polen hallte in meinen Ohren wider, wie sie sich in blindem Eifer auf die Belagerer stürzten und sie am Ende vertrieben.

Wird auch der derzeitige mörderische Krieg dereinst nur als traurige Episode in die Weltgeschichte eingehen?

Wird auch davon nur ein armseliges Körnchen Sinn im überdimensionalen Unsinn, als jämmerlicher Rest übrig bleiben und schließlich in Gleichgültigkeit verblassen?

Was war das zerschundene Überbleibsel jenes Massakers vor fast 300 Jahren hier oben am Kahlenberg gewesen?

Erinnerten sich die Menschen heute daran, dass, wenn an Feiertagen vom Turm der Stephanskirche die „Pummerin“ – Europas zweitgrößte Glocke – ihr klares, weithin hörbares Geläut erklingen lässt, ein Metall der erbeuteten Türkenkanonen sie zum Tönen bringt?

Oder dachte irgendwer, wenn er in einem der vielen speziell für Wien so typischen Kaffeehäuser gemütlich seine „Melange“, den „Einspänner“ oder „Kapuziner“ schlürft, dass diese Genüsse auf ein paar vergessene Säcke Kaffee der Muselmanen zurückgehen?

Bereits ein Jahr nach der Metzelei öffnete sich das erste Wiener Kaffeehaus für die aphrodisierenden Köstlichkeiten….

Immerhin versuchte das von Profitgier infizierte Wesen „Mensch“ auch aus dem verheerendsten Schlamassel etwas herauszufiltern, was für ihn von Nutzen ist.

Auch als vor 2000 Jahren Wien, als Heerlager der Römer unter dem Namen Vindobona zu existieren begann, hinterließen die Eroberer einen Schatz, der noch heute auf den von der Sonne beschienen Hängen rund um den Donaustrom grünt und blüht und reift…nämlich den köstlichen Wein, der in zahllosen Heurigenschenken als „Alter“ oder „Heuriger“ für fröhliche Stimmung sorgt.

Und es war ja auch nicht das erste Mal, dass der Machthunger des osmanischen Reiches nach dem Westen und dessen, noch in finsterem Aberglauben steckenden, Abendland griff. Bereits 150 Jahre davor – 1529 – hatte das Riesenheer unter Suleiman erstmals, das von Bastionen ummauerte Wien, belagert. Dem in dumpfen Denkzwängen dahin dämmernden Christentum

weit überlegen, höher entwickelt und modernst ausgerüstet, schien die Lage der Stadt ebenfalls aussichtslos und ihr Untergang besiegelt zu sein.

Wie durch ein Wunder hatte jedoch Wien auch damals dem bereits durch vorzeitigen Wintereinbruch und Versorgungsmängel geschwächten Sturmangriff der Osmanenarmee standgehalten, bis diese schließlich aufgab und sich zurückzog.

Ein teuer mit Menschenleben und unvorstellbarem Leid erkaufter Sieg.

Seit dieser Zeit hing den Türken das Prädikat „blutrünstige Barbaren“ an, die vor keiner Bluttat zurückschreckten. Als Abgeordnete des Teufels beschrieb sie die katholische Kirche – unter ihnen auch Martin Luther – die in dieser Epoche selbst ernstlich um die Macht bangen musste und ihrerseits in eisernem Verteidigungswillen mit den Gefangenen keinesfalls „christlich“ umging. Foltermethoden, wie Daumenschrauben oder Steinigungen gehörten zum gebräuchlichen Ritual.