1922 Wien

Nebelschleier ziehen als grauer Flor über die Dächer der Stadt, flattern um die Straßenlaternen, lassen die dahineilenden Gestalten als fliehende Gespenster erscheinen. Das Pflaster, von Nässe geschwärzt, hallt wider von hastigen Schritten. Aus den Fenstern der Häuser dringt diffuses Licht, verflimmert im Halbdunkel der Dämmerung. Irgendwo miaut eine Katze – wehklagend, unsichtbar.

November…
Auf dem Gottesacker der Stadt wallt der Nebel über schier endlose Gräberreihen. Erdhügel mit behauenen Steinen, auf denen Namen und Daten verzeichnet sind und solche ohne Namen und ohne Kreuze.

Wassertropfen hängen schwer an verwelkten Blumensträußen, hie und da blüht es noch auf dem einen oder anderen Grab. Unter diesen tausendfachen Hügeln sind sie alle gleichgeschaltet, die mit und die ohne Namen, die Armen, die Reichen, die Alten und auch die Jungen. Sie sind gewesen… nur Erdhügel mit Kreuzen oder auch gar nichts künden von ihrem gelebten Leben. Irgendeinmal, irgendwann…

In den Häuserzeilen der Stadt, in den Straßen und engen Gassen pulsiert dagegen das „Jetzt“ wohnt Leben, herrscht Vergnügen, Freude oder auch Not und Leid, Liebe oder Hass, Missgunst und Neid dicht beieinander, verbirgt sich Gutes und Böses, getrennt nur durch Mauern und Türen.

Noch sind die Wunden des großen Krieges nicht ganz vernarbt, sind Hunger und Entbehrung nicht vergessen. Die ausgemergelten freiwilligen und unfreiwilligen Kämpfer, die einst jubelnd und lachend auszogen um einen Feind zu töten, den sie nicht kannten, sind inzwischen zwar aus ihren am Körper schlotternden Uniformen in normale Gewänder geschlüpft und schwören nun statt auf den Kaiser, auf die neue Republik Treue, doch das totale Chaos nach dem Zusammensturz einer ach so gewohnten und scheinbar sicheren Ordnung ist noch immer nicht ganz bewältigt.

Trotzdem, der Drang zum Leben triumphiert wieder übermächtig. Er lodert wie zu allen Zeiten flammend aus der Asche zerstörter Illusionen und Erwartungen.
Die Geburtsstation im größten Krankenhaus der Stadt zeugt von diesem zwanghaften Willen zum Leben, immer wieder neuem Leben.
Als schreiendes, runzeliges Bündel, ahnungslos von sich selbst betritt jedes von ihnen die Bühne dieser Welt.
Hilflose Winzlinge, voneinander kaum unterscheidbar, schlummern sie einer unbekannten Zukunft entgegen.

Eines dieser Mini-Ausgabe „Mensch“ entpuppt sich später als „mein Ich!“
„Ich“ also…ein Mädchen, das behütet und umsorgt in ein gutbürgerliches Milieu des 20. Jahrhunderts n. Ch. katapultiert wurde.
Was wäre gewesen, wenn ich nicht in eine ganz normale, ordentliche, nur von den üblichen Widrigkeiten des Alltags geplagte Familie hineingeboren worden wäre…?
Zu welcher Art würde mein „Ich“ herangereift sein, in einer vielleicht trostlosen, ärmlichen Umgebung… unerwünscht und ungeliebt…?
„Was wäre gewesen, wenn…?
Eine der vielen Fragen, mit denen das Leben in seiner Undurchschaubarkeit die menschliche Spezies – alle „Ichs“, die sich mehr oder weniger gut ausgestattet auf dem Planet Erde herumtreiben – konfrontiert.

Als ich, als solch´ mir noch nicht bewusstes, warm verpacktes Bündel in den Armen meiner Mutter das für mich bestimmte „Zuhause“ bezog, taumelten Schneeflocken als erste Winterboten vom düsteren Himmel. Gleich winzigen, duftigen Federbällchen schwebten sie lautlos über die Dächer. Ihre zauberhaften, glitzernden Kristalle vereinigten sich zu einem schimmernden, weißen Linnen, doch der nasse Asphalt bot den zarten Ankömmlingen keine Bleibe. Er löste sie sogleich auf und zerstörte ihre fantastischen Gebilde.

Über dem verglasten Eingangstor des großen Mietshauses mit 5 Stockwerken, nannte die verschnörkelte Jahreszahl 1901 als Entstehung des Gebäudes. Im obersten Geschoß, direkt unterhalb des Dachbodens, am äußersten Ende des Flurs verbarg sich hinter einer hohen, braunen Holztür mein zukünftiges Domizil.
Vier weitere solcher Türen und ein großes, vergittertes Fenster säumten den länglichen Gang.

In der Mitte prangte eine gusseiserne, romantisch verzierte „Bassena“, die Wasserleitung, aus der sich die Bewohner des Stockwerks das kostbare Nass holten. Vor allem aber war diese „Bassena“ Treffpunkt der weiblichen Mietspersonen, wo sämtliche Neuigkeiten des Hauses, der Gasse, etc. beklatscht und vertratscht wurden.
Der Rahmen, in dem mein Auftritt auf Erden innerhalb einer der 25 Enklaven in dem Mietsgebäude stattfand, setzte sich aus Zimmer, Küche, Kabinett – letzteres ein rechteckiger Schlauch – zusammen.
Ein Blick aus den Fenstern dieser Heimstatt vermittelte eine Art Himmelsnähe, während das Hinabschauen in den abgrundtiefen Hof mit der Teppichklopfstange, Schwindelgefühle erzeugte.

Dachboden, Kellerräume und Waschküche im Untergeschoß wurden von einem Hausmeister fein säuberlich unter den Wohnparteien zur jeweiligen Benutzung eingeteilt. Die Wasch- und Wäschetrockentage am Dachboden ordnete eine Liste.
Von den ersten drei Jahren meines Daseins habe ich naturgemäß nichts mitbekommen, ich existierte sozusagen unbewusst von mir. Was ich dabei trotzdem empfand, gefühlt und erlebt habe, weiß ich leider nicht.

Ausschnitte meiner Aktionen aus dieser Zeit wurden mir später zwar erzählt, klingen in meinen Ohren allerdings eher als für mich nicht zuständig. So kann ich sie auch in keiner Weise beurteilen, rechtfertigen oder bereuen.

Eine für meine Mutter sehr schockierende Handlungsweise hätte zum Beispiel bei einem Spaziergang in einem Park in der Nähe unseres Wohnortes, stattgefunden.
Zu jener Zeit konnte ich bereits recht ordentlich meine Füße benutzen und hätte an einem schönen Frühlingstag einem entgegenkommenden Mädchen – offenbar in einem Anfall aufmüpfigen Übermutes – deren Puppenwagen aus den Händen gerissen, um damit selber voll Euphorie herumzufahren. Vor, zurück…ohne Rücksicht auf das verblüffte Kind.
Weiß der Himmel oder der Teufel, was mich zu diesem Raub verleitet hatte…
Die Wiedergutmachung oder Entschuldigung oblag selbstverständlich meiner Mutter, denn ich konnte für mein undiszipliniertes Verhalten – da unbewusst – nicht verantwortlich gemacht werden.

Als Folge dieses Vergehens wurde mir bei nächster Gelegenheit immerhin ein solches Gefährt samt Inhalt als Eigentum beschert. Ob und wie sehr mich dieses Präsent beglückt hat, ist dem Vergessen anheim gefallen.
Ein wenig verschwommen und schummrig, aber sehr intensiv hat sich ein Ereignis in meinem Gedächtnis festgesetzt, das mir den riesigen Unterschied zwischen meiner Welt und der, der Erwachsenen zeigte…

Schon eine ganze Weile hatte ich beobachtet, dass in dem Zimmer, wo am Fußende der Elternbetten, auch meine Schlafstelle stand, auf einem Stuhl neben dem grünen Kachelofen, der fast bis zum Plafond reichte, immer wieder eine große schwarze Tasche abgestellt wurde. Und zwar immer dann, wenn mein Vater in seiner Ehrfurcht einflößenden, dunkelgrünen Polizeiuniform, sich für den Nachtdienst rüstete.
Ich wusste auch, dass in diesem mit einer Schnalle verschlossenen „Ding“ ein roter Topf versteckt war, aus dem es sehr gut roch.

„Lass es dir gut schmecken…“ sagte meine Mutter jedes Mal und drückte die Tasche dem Vater in die Hand. Darauf folgte ein Kuss…
Natürlich wollte auch ich an dieser Zeremonie beteiligt sein und riss eines Tages alle meine Kraft zusammen, packte das schwarze Monster, um sie ebenfalls meinem Vater zu reichen.

Aber oh je, das Ding war ja so schwer… und patsch, landete es am Parkettboden…
„Jessasmaria, das Kind hat dein Essen heruntergerissen“, schrie meine Mutter Hände ringend, entsetzt und stellte das zur Seite kollabierte Ungetüm wieder auf. „Um Gotteswillen, jetzt schwimmt das gute Gulasch in der Taschen…“
Was für ein Schock und eine Ungerechtigkeit! Ich hatte gar nichts herunter gerissen! Ich wollte doch helfen, aber das Ding war so schwer, heulte ich los und fühlte mich jämmerlich missverstanden.

Es gab keine Schelte, keine Strafe, denn meine Mutter hatte alle Hände voll zu tun, um den Schaden in Blitzesschnelle mittels eines Ersatzessens zu reparieren.
Ein zweites Geschehen, ebenfalls ein wenig nebelhaft und wieder von Miss- und Unverständnis triefend, fand ein wenig später statt.
An einem schönen Spätsommertag fuhr ich mit meiner Mutter mit dem Bummelzug zu ihren Eltern aufs Land.

Draußen zog eine schon vom üppigen Sommer verbrauchte Gegend vorüber und seidige Fäden flimmerten über den Gipfeln der Wälder. In mattem Beige boten sich davor die abgeernteten Felder der wärmenden Sonne dar.
Die Waggons mit den Holzbänken rumpelten und ächzten, schaukelten die wenigen Reisenden durcheinander.

Nach 30 km hielt der Zug an der Station, wo mein Großvater Chef war und in einem kleinen Haus etwas hinter den Gleisen wohnte, während das eigentliche winzige Bahnhofsgebäude direkt beim Bahnsteig lag. Da gab der Großvater die Fahrkarten aus und betreute die Gäste. Wenn viel los war, musste in diesem Häuschen die Großmutter aushelfen und den Dienst übernehmen.

An meine früheren Besuche bei diesen Großeltern habe ich keine Erinnerung, aber dieses Mal ragten Details wie Blitze aus dem diffusen Erscheinungsbild meines Aufenthalts hier.
Zum Haus gehörte ein Hof, in dem Hühner gackerten, Hasen in Käfigen hausten und in einem Holzverschlag ein Schwein grunzte. Auch ein Brunnen, aus dem man mit einem Schwenkhebel Wasser schöpfen konnte, stand da.
Die Küche, wo meine Großmutter das Zepter führte, war schmal und lang und voller Utensilien. Am Herd zischte und spritzte es aus großen Töpfen und Tisch und Stühle waren von allen möglichen Dingen belegt. Besonders attraktiv wirkte aber ein großes Bett, das halb übers Küchenfenster reichte.

An meiner Großmutter interessierte mich besonders der gestreifte Rock, der ihre Beine bedeckte und sich dank mehrerer Unterröcke wie ein Ballon über ihre Hüften wölbte. Von de 13 Kindern, die dieses Milieu bevölkerten, waren nur noch die zwei jüngsten Buben im Haus, alle anderen waren längst in alle Richtungen, vor allem aber nach der Stadt Wien ausgeschwärmt.

Im großen Wohnzimmer saß mein Großvater, den meine Mutter mit „Sie“ und „Herr Vater“ anredete in einem tiefen, von seinem 130 Kilo Gewicht etwas ausgemergelten Lehnstuhl.
Er soll sehr streng gewesen sein und hätte mit eiserner Hand die große Familie durchs Dasein geleitet. Niemand brauchte zu hungern, aber das Regelement ließ keine Sonderwünsche zu.
Die Begleitmusik zu diesem bescheidenen Alltag lieferten die Tag und Nacht vorbeidampfenden
Züge mit ihrem monotonen Rattern.
Immer wieder kamen Menschen mit Pappkartons und Taschen beladen, stiegen ein oder aus, starteten zu irgendeinem Ziel.

Wenn die Signale gesetzt waren, die Kolben sich schnaubend und zischend zu bewegen begannen und Dampf dem Schornstein der Lokomotive entströmte, sie als graue Wolke einhüllte, streckten sich Hände aus den Fenstern der Waggons, flatterten Taschentücher im Fahrtwind und die Kinder meiner Großeltern – meine Cousins und Cousinen – hatten Spaß und winkten lachend zurück, dem entschwindenden Ungetüm nach, das sich wie eine fauchende Riesenschlange um die nächste Kurve wand.
Mit diesen ein- und ausfahrenden Zügen war die kleine Station mit der großen, weiten, fernen Welt verbunden.

Mein Empfang auf der Station war an diesem Spätsommertag so euphorisch, dass ich mir sehr wichtig vorkam…sogar die zwei Buben bestaunten mich und alle meinten, ich sei enorm gewachsen. Auch ich fand das fremde Umfeld sehr interessant und fühlte mich als „Mittelpunkt“ so richtig wohl.

Nach einer Weile bat mich mein Großvater, der zu mir überhaupt nicht streng war, ihm beim Anziehen der Stiefel zu helfen. Na, gern tat ich das, schleifte einen der schwarzen Treter zu einem seiner Füße und kommandierte: „Schlief eine da…“ Die Prozedur gelang zwar nur mit seiner Hilfe, machte aber solchen Spaß, dass auch die zweite schwarze Röhre gemeinsam an der richtigen Stelle landete.
Von diesem Amüsement angeregt, wurde beschlossen, dass ich einige Tage auf der Station in der guten Landluft bleiben sollte.

Für die Nacht bekam ich das große, schöne Bett zugewiesen und während meine Mutter allein die Rückfahrt nach Wien antrat, wurde ich bis zum Schlafengehen angenehm verwöhnt.

Danach schlief ich sofort ein und bald spukten bunte Träume, wirr und grotesk, gleich lustigen Gespenstern, in meinem Kopf herum. Da weitete sich Großmutters Rock zu einem monströsen Luftballon, wollte aber partout nicht fliegen. Dafür schwebten Großvaters Stiefel, wie von Geisterhand emporgezogen durch das Zimmer, tanzten um die Lampe auf dem großen Tisch vis a vis vom Lehnstuhl, schwirrten wie angriffslustige Bienen über ihn hinweg und ließen sich dann gar auf seinem eingedrückten Polster gemütlich nieder. Und als ich nach ihnen greifen wollte, da schrumpfte der schwarze Schaft wie ein Mehlsack zusammen.

So freundlich diese Träume, so fürchterlich war am Morgen das Erwachen!
Zwei fremde Gesichter starrten mich an…

Ich erschrak entsetzlich. Schlaftrunken hatte ich die zwei Brüder nicht gleich erkannt. Die lachten hämisch, schlugen die Decke zurück und deuteten auf das nasse Leintuch. Ich hätte ins Bett gemacht, behaupteten sie.
Ich war empört… Nein, ich hatte nicht ins Bett gemacht, das wusste ich genau!
Den größten Abscheu bereitete mir aber der schwarze Vogel, der am Fußende des Bettes lag – bewegungslos, mit gespreizten Federn. Angeekelt nahm ich das Ungeheuer wahr und fürchtete mich jämmerlich. Und da ich mich gegen den Spuk nicht wehren konnte und nicht wusste, wie dieses Untier in mein Bett gekommen war, fing ich laut zu schreien an.
Dafür, dass die Halbwüchsigen mich verwöhntes Stadtkind, nur necken wollten, hatte ich nicht das geringste Verständnis. Aus Übermut, nicht Bosheit…

Auf mein Geschrei eilte die Großmutter, die mit den nicht enden wollenden Alltagsarbeiten beschäftigt war, herbei, während die Missetäter mitsamt dem toten Vogel inzwischen verschwunden waren. Natürlich vermutete auch sie, dass ich die Nacht nicht durchgehalten, vor allem aber war sie überzeugt, dass mir einfach die Mama gefehlt hätte.
Sie versuchte alles, um mich zu beruhigen, trug mich am Arm überall mit. Vergeblich, ich brüllte so kräftig, wie ich nur konnte. Es war meine einzige Gegenwehr dafür, dass man mir nicht glaubte…die einzige Möglichkeit meinen Zorn über das Unrecht, das mir widerfahren war, kundzutun.

Auch der Herr Großvater versuchte zu trösten, wollte das Spiel von gestern mit den Stiefeln wiederholen… das machte mich nur noch wütender, ich schleuderte die Dinger in die Ecke.

Als abends ein älterer Sohn von der Arbeit heimkehrte, blieb ihm nichts anderes übrig, als mich Schreihals, schnellstens per Bahn nach Hause zu befördern.
Meine Mutter machte sich die bittersten Vorwürfe, mich auf der Station gelassen zu haben und ahnte nichts von meinen tiefschürfenden, aufwühlenden Erlebnissen. Wahrscheinlich hätte sie den harmlosen Scherz als Auslöser der Tragödie ohnehin nicht verstanden. Sie kannte schließlich die Dummheiten ihrer Brüder und war selbst an so manchem Schabernack beteiligt gewesen.

Bei meinem weiteren, sorgfältigen Kramen in meinen frühesten Erinnerungen tauchte auch ein Geschehnis auf, für das ich mich, nach später erlernten Wertmaßstäben, tüchtig zu schämen hatte.

Von den vielen Geschwistern meiner Mutter, war eines ihr besonders ans Herz gewachsen. Eine Schwester, die, wie der Großvater, ein ausuferndes Gewicht mit sich herumschleppte. Diese meine Tante besaß wiederum eine gute Bekannte, die des Öfteren gemeinsam per Straßenbahn besucht wurde.

Da ich alle Wege und Unternehmungen im Schlepptau meiner Mutter miterlebte, entging mir nicht, dass das runzelige alte Weiblein, zu der ich stets höflich zu sein hatte, im geheimen von den Erwachsenen mit dem Kosenamen „alte Hexe“ bedacht worden war. Zwar kannte ich eine solch böse Frau aus dem Märchen „Hänsel und Gretel“, doch der glich sie eigentlich nicht und hatte auch keinen Buckel. Überdies war sie zu mir stets freundlich.

Wie und wodurch es kam, dass ich von dieser so genannten „Hexe“ einen beleidigenden „Ausspruch“ des Tantchens über meine Mutter erfand, ist mir bis heute rätselhaft.
Jedenfalls entfachte ich mit dieser ersten Lüge meines Lebens ein gehöriges Unwetter zwischen den Schwestern.
Es rollten Tränen, Tantchen leugnete hartnäckig jenes angebliche Gerede, meine Mutter war gekränkt und ich…schwieg!

Erst als meine Mutter „mich“ als Überbringerin der üblen Nachrede preisgab, konnte der Verdruss – da man Kindersprüche nicht ernst nehmen darf – beigelegt werden.
Natürlich wusste ich, noch ehe mich die Schule in ihre Zwangsjacke steckte bereits, was man tun durfte und was nicht…wie man sich zu benehmen hatte und was streng verboten war – darunter ganz besonders das Lügen!

Ein faszinierendes Mysterium bescherte mir in meinen Kindertagen der Blick aus dem Fenster unserer Wohnung im 4.Stock.

Über den Dächern der Häuser dehnte sich, soweit das Auge reichte, der Himmel als unendliches, fernes Geheimnis und diese nie endende Kuppel über dem Häusermeer präsentierte sich jeden Tag in anderer Facon. Mal makellos Blau, mal skurril von Wolken gezackt oder auch so, als hätte Frau Holle daunenweiche, weiße Polster über ihn geworfen. Manchmal war er auch drohend verdunkelt. Wenn Blitze gleich glühenden Pfeilen ein schwarzes Gewölk durchbohrten, schloss meine Mutter rasch alle Fenster, sodass der nachfolgende Donner, der von den Turbulenzen im Himmelsgebäude dröhnte, sich nicht gar so beängstigend anhörte.

Ganz begeistert war ich, wenn an warmen Sommerabenden das Firmament von unzählbaren Sternen funkelte.

Denn da irgendwo, weit draußen musste jener „Himmelvater“ beheimatet sein, zu dem zu beten, mir meine Eltern als höchste Pflicht auferlegten.
Das „Dreigestirn“ von Vater, Sohn und Heiligen Geist des christlichen Glaubens wurde mir als wachtumsträchtige Wurzel schon früh in die Seele gepflanzt.
Dass es jedoch mehr Rezepte für Bitten um Schutz, Hilfe und Erfüllung von Wünschen gab, erfuhr ich durch meine einzige Freundin Miriam, die jedes Wochenende bei uns verbrachte und wie später fast die Hälfte meiner Schulkameradinnen einen jüdischen Gott, namens „Jahwe“ verehrte.

So begann ich allmählich zu begreifen, dass auf unserem Globus diverse Religionsmuster kursieren und ein jedes von seinen Anhängern als allein richtig, gültig und wahr proklamiert wurde.

Miriam war die Tochter der Arbeitgeberin meiner Mutter, bevor sie meinen Vater heiratete. Und mit dieser Frau, bei der sie als „Mädchen für Alles“ bald den ganzen Haushalt „schmiss“ verband sie ein sehr anhängliches Verhältnis. Sie war auch zuständig für die Erziehung von Miriams älterem Bruder und bewunderte ihre attraktive und elegante Chefin sehr.

Miriam war 1 ½ Jahre älter als ich und hatte ein paar Gassen weiter ein komfortables Zuhause mit vielen Zimmern und eigenem Bad in der Wohnung. Zwei ihrer Onkel führten große Geschäfte mit Filialen und waren sehr reich.

Bei uns gab es immerhin seit ein paar Jahren ein Waschbecken in der Küche. Ein Privileg, dass zwar Geld kostete, aber uns ebenso wie das eigene Klo am Gang gleich neben der Eingangstür ein wenig von den anderen 4 Etagenbewohnern abhob. Die mussten sich nämlich die beiden anderen „Örtchen“ – ebenfalls im Flur – teilen.
Trotz ihrer wohlhabenden Klientel beneidete Miriam mich, denn ich hatte einen Vater, während ihre Eltern geschieden lebten und sie sich daher vaterlos fühlte.
Mein Vater war auch immer sehr gut zu mir, nur sah ich ihn nicht oft, da er nach den Nachtdiensten tagsüber den Schlaf nachholte.

Wie ich aus Erzählungen erfuhr, war für ihn mit dem Zerfall des österreichischen Kaiserreiches eine ganze Welt zusammengebrochen. Schließlich war sein Vater, der 1918 an der spanischen Grippe starb, einmal kaiserlich-königlicher Hoflieferant für Prunkkaleschen gewesen. Das Leben in seinem Elternhaus war demnach mit der Glorie der Monarchie verbunden und die war nun so unheilig verblichen… dahin, vorbei für immer…

Für Immer? Daran wollte mein Vater nicht glauben…
Zwar musste Großvaters Geschäft wegen des Aufkommens der Automobile aufgegeben werden, Pferde und Droschken gerieten ins Abseits, aber der Nimbus war geblieben.
Nur die Kirche blieb ihm in diesen Zeiten und der war mein Vater stets treu verbunden. Wie üblich im habsburgischen Kaiserreich natürlich die römisch-katholische.
Er suchte seinen Gott nicht irgendwo in einem fernen Himmel, er fand ihn im Schoss der Kirche. Sie offenbarte ihm voll und ganz die Glaubenswelt, es gab nichts zweifelhaftes, kritisierbares, die Wahrheit lag in ihren Aussagen die so unfehlbar waren, wie der Papst selbst.

Selbstverständlich verabscheute er auch die Reformation, betrachtete die Protestanten im Lande – ohnehin nur eine Minderheit – als leider Verirrte. Gutmütig und tolerant wie er war, akzeptierte er sie immerhin als Solche.

Ganz anders die Religiosität meiner Mutter. Zur katholischen Kirche gehörte man einfach von Geburt an dazu, doch deren Rituale interessierten sie herzlich wenig. Natürlich sprach man die Oberhirten dieser Institution demütig mit „Hochwürden“ an, so wie die einstige Chefin mit „gnä Frau (gnädige Frau).

Vom lieben Gott, wo immer er auch sitzen möge, erwartete sie, dass er ihre Bitten und Wünsche erhören und erfüllen möge.

Dass man dafür intensiv an ihn glauben und zu ihm beten musste, war klar. Dasselbe galt auch für die unzähligen Heiligen, die ein andächtiges Verhalten bestimmt belohnen würden.

Auf diese Weise hatte sich meine Mutter schon manches „erbetet“.
Ein kleines Erlebnis aus ihren Kindertagen hatte die Macht von Gebeten einwandfrei bewiesen.

Damals wurde sie nach einer langen Trockenperiode beauftragt, beim Gottesdienst am Sonntag andächtig um Regen zu flehen.

Auf den Feldern war der Boden bereits zu braungrauen Brocken erstarrt, hart und rissig ächzte er unter jedem Schritt, sprühte Staub auf die Füße – man lief ja immer barfuss herum. Auf den Äckern zitterten die langen Blätter der Kukurruzstauden ausgedörrt in der flimmernden Luft. Ihre Kolben waren dünn und ohne Fülle. Auch über die Wiesen war ein Grauschleier gestreut und die Blumen ließen traurig die Köpfe hängen.

Während der Messe betete meine Mutter mit eigenen Worten ganz besonders intensiv und als sie nach dem letzten „Amen“ die Kirche verließ, war der Himmel merkwürdig dunkel und am Heimweg geschah das Wunder: schwer und dumpf lösten sich die ersten Tropfen zögernd aus dem Himmelsgewölbe und fielen auf die dürre, ausgetrocknete Erde.
Meine Mutter war fest überzeugt, dass nur ihr Gebet den Regen herbeigeschafft hatte und ließ sich auch in den folgenden Jahren so manchen Wunsch mittels Gebet vom lieben Gott erfüllen.

Und wenn es mal mit dem Erbetenen nicht so ganz geklappt hatte, dann war ihre Bitte nicht inbrünstig genug zum Herrgott geschickt worden. Ob in der Kirche oder sonst wo gebetet wurde, war für meine Mutter unwichtig – die Heiligen und vor allem der liebe Gott waren schließlich überall zugegen.

Unsere Wohnung im 5. Stockwerk eines Hauses im 9.ten Wiener Gemeindebezirk, dem Alsergrund, war von den Eltern meines Vaters angemietet worden. Nach dem Tod meines Großvaters und der Heirat ihres Sohnes, zog meine Großmutter in das kleine Kabinett und meine Mutter übernahm die Haushaltführung – eine Aufgabe, die ihr im Blut zu liegen schien.

Großmutter war darüber nicht böse…im Gegenteil, sie sonnte sich im Vergnügen des Nichts-tuns, ließ sich mit zarten „Wiener Würstchen“, ihrer Lieblingsspeise, verwöhnen und betonte so ihr Recht auf ein genussvolles Alter.

Im Allgemeinen verlief das gemeinsame Leben ohne große Zwischenfälle, nur die leichtsinnige Ader, die meine Großmutter bezüglich dem Umgang mit Geld an ihren Sohn vererbt hatte, gab des Öfteren Anlass zu Streit. Doch meine Mutter beherrschte jedes Mal souverän die Szene, verstand es sich durchzusetzen und auch mein Vater, der erst spät mit 37 Jahren den Sprung in den Ehestand gewagt hatte, erduldete Vorwürfe in gelassener Ruhe. Er wusste um seine Fehler und da ihm deren Beseitigung allzu schwer fiel, ertrug er die Vorhaltungen mit bedauerndem Achselzucken. Er war eben tolerant, auch zu sich selbst. Akzeptieren musste er letztlich auch, dass ihm von seinem ohnehin schmalen Gehalt nur ein Taschengeld zustand.

Bei aller Wertschätzung meiner Mutter, lebte er, wie er es immer getan hatte, sein eigenes Leben, in das er niemand allzu sehr hineinblicken ließ.

Das tägliche Einerlei spielte sich vor allem in der Küche ab, da wurde gekocht, gegessen, Geschirr gespült…eben gelebt.

Das Zimmer blieb vor allem dem Schlafen vorbehalten. Nur an besonderen Tagen oder im Winter wenn es allzu kalt war, wurde der Keramik-Kachelofen beheizt. Er spendete eine wohlige Wärme und in seiner Mitte klaffte, gleich einer schwarzen Höhle, ein Fach, wo Wasser und andere Dinge aufgewärmt werden konnten. Schlank und hoch verlieh dieser Ofen dem sonst sehr zweckmäßigen Raum mit den Betten, Tisch, Stühlen und zwei schmalbrüstigen Wandschränken, etwas Würdevolles.

Obwohl ich doch ihr Enkelkind war, kümmerte sich meine Großmutter nicht um mich. Sie soll einmal sehr schön gewesen sein, stammte aus einer reichen Familie mit großem Grundbesitz in dem Landstrich, der einmal als Böhmen und Mähren zum Habsburger Imperium gehörte und nun Tschechoslowakei hieß. Leider wurde sie, da sie ihr Erbe schon im Vorhinein „verpulvert“ hatte, enterbt. Zartgliedrig, mit weißem Haar und feinen Gesichtszügen verkroch sie sich meist in ihr Kabinett und ging kaum aus dem Haus, nicht einmal zur Kirche.

Natürlich glaubte auch ich wie meine Eltern an den lieben Gott, auch wenn ich mir gar keine Vorstellung von ihm machen konnte.

Da dieser „mein“ Glaube so schöne Feste wie Weihnachten und Ostern mit geschmückten Tannenbaum oder bunt gefärbten Eiern und Geschenken verbunden war und auch Prozessionen wie zu Fronleichnam mich sehr beeindruckten, hielt ich mich gern an seine Gebote und Regeln.

Nur die in der Schule vom Religionslehrer befohlenen sonntäglichen Kirchenbesuche mit ihren Litaneien und Predigten fand ich immer höchst langweilig. Später empfand ich vor allem das „Muss“ der Beichte zwecks Vergebung der Sünden, das im Gefolge der ersten heiligen Kommunion regelmäßig zu absolvieren war, als Stolpersteine auf dem Pfad zu jenem geheimnisvollen Phänomen „Gott“.

Während meiner gesamten Kindheit führte – trotz einer beträchtlichen Anzahl vor allem jüdischer Mitbürger – wie zu Kaisers Zeiten, die Hierarchie des römisch-katholischen Christentums auch in der „Republik“ Österreich das gestrenge Zepter.
Auch als der „Ernst des Lebens“ in Form der Schule sowohl mir und davor schon Miriam Pflichten auferlegte, gehörten die Wochenenden dem gemeinsamen Spiel oder Spaziergängen mit ihr. Letztere führten oft in Onkels Schrebergarten, der mit Mutters Lieblingsschwester Anna verheiratet war. Der Weg dahin führte durch das Viertel der Cottage, das mit schattigen Bäumen und an gepflegten Villen vorbei, einen erholsamen Spaziergang bot. Auch da war meine Mutter gegenwärtig. Genauso wurde Miriam stets von zu Hause abgeholt und abends dort abgeliefert.

Nie durften wir alleine auf die Strasse hinunter, obwohl es „Gassenkinder“, wie sie in anderen Bezirken der Großstadt oft die Gehsteige verunsicherten, auf dem „Alsergrund“ sowieso nicht gab. Schon der Gedanke da unten mit Gleichaltrigen spielen zu wollen, wäre auf heftige Ablehnung gestoßen.

Meine Schule war nur wenige Minuten von unserer Wohnung entfernt. Man musste einen großen Platz überqueren, der umrahmt von hohen Häusern mit Blumen und Bänken eine winzige Oase im Häusermeer bot und in dessen Gebäuden gut situierte Leute komfortabel wohnen sollten. Von hier zweigten strahlenförmig Strassen ab und direkt um die Ecke auch die, in der sich das Schulgebäude befand.

In den erste Wochen begleitete mich meine Mutter zum Unterricht und holte mich mittags wieder ab. Darnach – ich war ja nun fast 7 Jahre alt – durfte ich allein die paar Minuten absolvieren.

Doch stets folgte sie mir über den Flur – vorbei an den anderen 4 Türen, zwischen denen das Waschbecken geklemmt war – bis zum Treppenabgang, winkte mir nach, bis ich im Parterre hinter der Hausmeisterwohnung verschwunden war.

In die Zeit meines ersten Schuljahres fiel der Tod meiner Großmutter. Ein Schlaganfall raffte sie innerhalb weniger Tage dahin.

Obwohl ich kaum Kontakt mit ihr hatte, war ich von dem plötzlich eingetretenen, unbegreiflichen Vorfall betroffen und irritiert. Meine Eltern schirmten mich aber von allen Zeremonien der folgenden Tage so zielbewusst ab, dass ich das Dilemma, das „Tod“ bedeutet –seine Unwiderruflichkeit, seine Endgültigkeit, nicht richtig begriff.
Auch störte es mich kaum, dass diese schmächtige Frau nicht mehr gegenwärtig war. Sie spendete mir keine Zärtlichkeit, war kein Märchen erzählendes, Strumpf strickendes Großmütterchen, nur ein Mensch der dicht nebenan sein eigenes Dasein lebte.
Außerdem zeitigte das Verschwinden der alten Dame einen sehr positiven Aspekt gerade für mich. Ich erbte das kleine Kabinett als eigenes Territorium.

Es ward beschlossen neue Möbel dafür anzuschaffen…Rosarot mit blauen Leisten sollten sie sein, so recht passend für ein angehendes junges Mädchen.
Meine Mutter holte Erkundungen ein, rechnete immer wieder und fand schließlich den richtigen Handwerker, der in nächster Nähe im Souterrain eines Hauses am großen Platz, eine Werkstatt betrieb. Ein jüdischer Tischler, der solide und zu einem reellen Preis arbeitete.

Als der große Schrank mit einem Glasfenster in der Mitte, darunter 3 Schubladen und zwei geräumigen Seitenteilen angeliefert wurde, schlug mein Herz gewaltige Purzelbäume.
Ein rosa Bett mit blauer Matratze…eine Stehlampe, ein rundes Tischchen – alles in diesen heiteren Farben gehalten – vervollständigten das neue Mobiliar und verwandelten das unscheinbare Kabinett in einen „siebenten Himmel“, in dem ich mich wie eine Königin innerhalb des elterlichen „Schlosses“ im 4. Stock der einförmigen Mietskaserne fühlte.
Nicht nur Miriam war ständiger Wochenend-Gast bei uns im 4.Stock, auch ich besuchte sie manchmal in ihrem vornehmen „Zuhause“ ein paar Strassen weiter. Und so wie ihr wurden dann auch mir die diversen Benimm-Regeln betreffend Respekt, Gehorsam, Lerneifer, etc. in Erinnerung gerufen. Nicht besonders erfreut war ich über die Einladungen bei Kindergeburtstagen, denn die fremden Mädchen und Jungen, die daran teilnahmen, behan-delten mich als Jüngste immer ein wenig herablassend. Außerdem gab es dabei stets so viel Süßigkeiten und wenn ich meine Torte nicht aufaß, musste sich meine Mutter nachher für diese Unart entschuldigen.

Eine große Verführung stellte für mich das Klavier dar, denn im „Salon“ der Wohnung befand sich ein großer brauner Flügel, auf dem Miriam täglich für den Unterricht zu üben hatte. Während sie das ziemlich verdross, versuchte ich zwischendurch dem herrlichen Instrument ein paar Töne zu entlocken. Die gelblich schimmernden Elfenbeintasten wollten mit ein paar Fingern bearbeitet, jedoch keine Melodie ergeben. So blieb meine Sehnsucht nach so einem Wunderding lange ungestillt- bis ich eines Tages Mut fasste und meiner Mutter den Wunsch nach wenigstens einer Miniaturausgabe eines Klaviers vortrug. Sie war gerade dabei, das Essen zum Mitnehmen für meinen Vater vorzubereiten. Der eingebrannte Wirsingkohl mit der dicken Knackwurst brutzelte gemächlich im Topf vor sich hin, stülpte kleine Blasen auf die Oberfläche.
„Ach, ich hätte doch so gern…so sehr gern, ein ganz kleines Klavier…“ gestand ich zögernd.

Nun war es heraus. „Nicht so groß wie das von Miriam, nur ein ganz kleines… ich breitete die Arme ca. 30 cm auseinander, „damit ich darauf auch ein bissel üben kann. Vielleicht kann mir das Christkindl zu Weihnachten ein solches bringen…wirklich nur ganz kleines“ und die Spanne meiner Hände erweiterte sich auf 50 cm.

Meine Mutter traf dieses Ansinnen wie ein Blitz. Die Anschaffung eines Klaviers war in ihren Haushaltsetat nicht vorgesehen. Gleichzeitig setzte sich jedoch der Gedanke es irgendwie doch zu ermöglichen, in ihrem Kopf fest. Natürlich kein Spielzeugklavier, sondern ein echtes Piano müsste es sein…“Na, warte erst einmal ab…“ wich sie aus.
Nach Rücksprache mit meinem Vater und dem Hinweis, dass ich vermutlich sehr begabt wäre und einmal vielleicht sogar eine berühmte Pianistin werden könnte, blieb das Problem Unmögliches möglich zu machen, natürlich meiner Mutter vorbehalten.
Ihr eiserner Wille half dabei. Bei einem einzigen Sprössling lässt sich gar manches durchsetzen, was ansonst nicht ginge.

Natürlich hätte ihr Kind Geschwister haben können, mindestens zwei hatten sich direkt angemeldet, aber meine Mutter wusste sich rechtzeitig zu helfen und blieb ihrem Wahlspruch treu: nur Eines und dem alles bieten! Nicht so wie ihre eigene Mutter, die ein wahres Tollhaus zu versorgen hatte und vor lauter Nachwuchs selbst nie zum Leben kam. Eine Gebärmaschine ohne Rechte mit nur Pflichten.

Wie das Arrangement zustande kam, interessierte mich herzlich wenig. Jedenfalls traf noch lange vor Weihnachten das ersehnte Instrument als rabenschwarze Schönheit mit eingelegter Perlmuttarbeit an der mittleren Vorderfront, im 4. Stock des Miethauses ein.

Heimlich spähten die Nachbarn aus den Fenstern ihrer Wohnungen und den Gucklöchern der Türen. Was wird denn da schon wieder angeschleppt? Was die da oben sich alles leisten können…Na ja, Beamter müsste man sein…
Mit Traggurten hievten 4 Männer das Unikum über die 4 Etagen, wo es sein Plätzchen an einer mühsam freigelegten Wand im elterlichen Schlafzimmer fand. In meinem rosarotem Reich fehlte für den Eindringling der Platz.
Konzert-Pianino stand als Kennzeichen unter der hinteren Deckplatte und „kreuzseitig“ als besonderes Gütesiegel.
Kreuzseitig verliefen also die Saiten, an die, wenn man die weißen oder schwarzen Tasten vorn drückte, rückwärts die Hämmerchen anschlugen. Die Finger lieferten den Schwung dafür…welch´ ein Wunder!
Natürlich kümmerte ich mich nicht so sehr um die inwendige Beschaffenheit meines Instrumentes, sondern freute mich an den Tönen, die es hervorbrachte.
Aber von ein wenig Herumspielen auf der Tastatur, ergab sich noch lang keine Melodie, keine Musik. Daher bekam auch ich Klavierunterricht und war mit großem Eifer bei der Sache.
Doch sogleich ergaben sich Eifersüchteleien mit Miriam…
Wer lernt besser, wer kommt schneller vorwärts…
Am Klavier wurden wir beide zu Konkurrentinnen.
Dabei hatte Miriam nur Angst, dass ich raschere Fortschritte machen könnte als sie selbst und dann Vorwürfe von ihrer Mutter zu hören bekäme. Sie war sowieso immer ängstlich und das meist ohne echten Anlass.
Also wurde ich, wenn es ein neues Liedchen einzustudieren galt, einfach zwei Meter hinter das Klavier gesetzt, damit ich die Noten nicht lesen und das Stück vorwitzig nachvollziehen konnte. Hören und bewundern sollte und durfte ich Miriams Erfolge, aber nicht nachahmen oder gar übertreffen.
Darüber war ich außerordentlich verärgert.
Immer diese Bevormundung…nur weil ich die Jüngere war..
Dagegen wehren konnte ich mich nicht. Miriams Mutteer war schließlich die „gnä` Frau, die ich artig per „küß´die Hand“ zu begrüßen und zu ehren hatte.
Dagegen wurde meine Mutter von allen nur „Leni“ genannt.
War das vielleicht gerecht?
In diesen Jahren bedrängte mich überhaupt ein ganzes Repertoire an Fragen, auf die mir niemand eine Antwort gab. So viel Unbegreifliches stürmte auf mich ein…
„Warum ist alles so wie es ist…und als besonders beängstigendes Fragezeichen tauchte aus den Tiefen meines Bewusstseins als unerklärliches Geheimnis der Gedanke auf „wieso und warum und was bin „Ich“ eigentlich…“
Ich sehnte mich nach dem Erwachsen werden, das mir die Antwort auf alle Fragen und Rätsel bringen würde. Ach, wie langsam doch die Zeit dahin schlich…
Dass Miriam und ich verschiedenen Glaubensgemeinschaften angehörten, wurde vor allem durch den Religionsunterricht in der Schule deutlich.
Nie hatten wir jedoch den Unterschied so recht empfunden…
Im Gegenteil, es machte Spaß die jeweiligen Festlichkeiten gemeinsam und damit doppelt zu erleben. Zu Weihnachten freute sich Miriam am mit Lametta, Kerzen und in buntem Papier versteckten Süßigkeiten beladenen Tannenbaum und mir gefielen wiederum die aus Pappkarton gebastelten Häuschen anlässlich des jüdischen Laubhüttenfestes.
Über die Ursachen und Hintergründe dieser Bräuche machten wir uns dabei kaum Gedanken. Dass das erstere die Geburt Christi symbolisierte und das andere Fest an die Wüstenwanderung der Juden nach dem Auszug aus Ägypten – bei der man in Hütten lebte – erinnerte war für uns nicht wichtig. Es waren einfach schöne Anlässe zum Feiern.
Auch das „Matzen“, das „Brot des Elends“, das während des Passah-Festes gegessen wird – eine Analogie zum christlichen Abendmahl – schmeckte mir ebenso gut wie Miriam.
Ungefähr die Hälfte der Mädchen in meiner Schulklasse bestanden aus jüdischen Mädchen, die andere Hälfte waren christliche Schülerinnen. Wir lernten gemeinsam Lesen, Schreiben, Rechnen und spielten während der Pausen zusammen im Schulhof.
Nur das Fach „Religion“ verlief getrennt. Und nur diese 2 oder 3 Stunden unterschiedlichen Unterrichts in der Woche, schlugen eine gewisse Presche in die Gemeinsamkeiten, erzeugten etwas Trennendes. Wir beteten alle nur einen Gott an, aber es war offensichtlich nicht der gleiche.
Ich wurde durch die Schule auch mit den strengen Gesetzen, Vorschriften und den Sündenregistern meiner Religion konfrontiert.
Zu Hause war zwar der liebe Gott stets als oberster Regent ebenfalls zugegen, doch der Umgang mit ihm wurde ohne Zwang ausgeübt.
Nun wurden uns Kindern festgeschriebene Dogmen diktiert, die es einzuhalten galt. Die Kirche übernahm die religiöse Herrschaft über uns und das katholische Regelement duldete keinen Widerspruch.
Ich hatte immerhin einen sehr sympathischen Herrn Katechet. Er war jung, in würdevolles Schwarz gekleidet, nur den Hals umschloss ein makellos weißer, steifer Kragen. Wenn er langsam durch die Bankreihen schritt – scheinbar desinteressiert und ohne Absicht – wanderten seine dunklen Augen ohne dass wir Kinder es richtig wahrnahmen, über all´ die aufgeschlagenen Hefte, ob da nicht Kritzeleien, Strichmännchen oder sonstige Zeichen gelangweilter Schülerinnen schnell zugedeckt und verborgen wurden. Und diese Augen sahen alles….
Bis zur Schule genügte das „Vater unser“, das ich von meiner Mutter erlernt hatte, für den Glauben…nun kamen die 10 Gebote mit ihren Verpflichtungen dazu und wurden sie nicht erfüllt, dann hieß es „beichten“.
Ich erinnere mich noch gut an meine erste Kommunion, bei der uns erstmals die „leibliche Gegenwart Christi“ in Form einer Hostie verabreicht wurde. Ein Fest, für das mir meine Mutter ein weißes Kleidchen nähte und das intensiv vorbereitet wurde. Bevor diese „Eucharestie“ gespendet wurde, musste allerdings eine Befreiung von allen Sünden durch die Absolution erfolgen. Das heißt sie mussten gebeichtet und durch Gebete abgebüßt werden.
Man hatte dabei jeden Verstoß gegen die 10 Gebote einem „Hochwürden“, der in einem dreiteiligen Holzverschlag thronte, reumütig zu bekennen.
Mit diesem Ritual tauchte damals ganz plötzlich ein großes persönliches Problem für mich auf.
Schuld daran war ein Vorfall, der Jahre zurück in frühe Kindheit reichte und mich in einen tiefen Zwiespalt trieb.
Ich war weder unwillig oder gar ungläubig und hatte keinerlei Schwierigkeiten mit den Neun der 10 Gebote. Mal gelogen zu haben oder ungezogen gewesen sein, das wollte ich dem Hochwürden gerne gestehen. Das würde er mir schließlich auch verzeihen.
Aber da war das verdammte „Sechste“…die Unkeuschheit!
Damals war ich wieder einmal auf der Bahnstation vom Herrn Großvater, nicht mehr als kaum trittsicherer Winzling, sondern mit ca. 5 Jahren schon ein bissel „erwachsener“.
Der Zufall wollte es, dass zur gleichen Zeit auch ein etwas älterer Cousin – der Nachwuchs von einem der vielen Brüder meiner Mutter – ebenfalls „auf dem Land“ die Ferien verbrachte.
Ziemlich heiß war es in jenen Sommertagen…Wir spielten zusammen und da die Sonne gnadenlos vom Himmel brannte, liefen wir selbstverständlich nackt auf dem großväterlichen Gelände herum.
Ja, und da kam es halt einmal im kleinen verglasten Vorbau des Häuschens dazu, dass der kleine Junge mir kleinem Mädchen anschaulich verdeutlichte, dass es auf dieser Erde unterschiedlich gestaltete Menschen gibt.
Ich war über diese Demonstration ein bissel verwundert und geniert, obwohl ich damals bereits wusste, dass Männer und Frauen nicht gleich gestaltet sind. Nur so deutlich mit eigenen Augen hatte ich es noch nie gesehen. Jedenfalls hatte mich diese erste Konfrontation mit den Tatsachen der Natur, nie in Unruhe versetzt… Aber nach Kenntnis der 10 Gebote und der bevorstehenden Beichte vor der ersten Kommunion meldete sich plötzlich ein „schlechtes“ Gewissen. Hatte ich bei dieser Begegnung womöglich gegen die „Keuschheit“ verstoßen?
Mein Gott was würde „Hochwürden“ sagen und von mir denken, wenn ich dieses Geschehen beichtete…
Jedes Mal, wenn ich unmittelbar vor der Erstkommunion an Sonntagen die Messe besuchte, schlich ich danach an den Beichtstühlen vorbei, die sich wie anklagende Sündenpfähle an den Wänden der Kirche eingenistet hatten. Ein faltiger, lila Vorhang verhüllte deren Mittelfenster, rechts und links davon mussten die Delinquenten wie in einer Mini-Zelle knien und warten, bis sich das seitlich Gitter öffnete und sie dran waren, ihre Freveltaten zu gestehen. Bald würde auch ich in einem solch´ dunklen Verließ bekennen und bereuen müssen.
Nein, nein… entsetzte ich mich schon beim Vorbeigehen. Wenn es schon sein musste, würde ich alle passierten Malheure angeben, aber dieses „Sechste“ nicht…
So geschah es dann auch.
Ein wenig nervös schickte ich mich in das Unvermeidliche, zitierte im Finstern knieend mit gefalteten Händen im Geiste die erforderlichen Einleitungsworte der Zeremonie, bis sich das Fenster öffnete und ein schwacher Lichtschein zu mir drang. Das Gesicht des „Hochwürden“ konnte ich zwar nicht erkennen, aber seine freundliche Stimme nahm ein wenig von der Anspannung.
Ohne stecken zu bleiben rasselte ich das vorgeschriebene Sprüchlein herunter und im Anschluss die begangenen Untaten.
Ein paar „Vater unser“ wurden mir als Buße aufgetragen und schon empfing ich die Absolution und den priesterlichen Segen.
Was für eine Erleichterung!
Oder doch nicht?
Mit der feierlichen Kommunion fand eines der sieben katholischen Sakramente einen würdigen Abschluss.
Die pflichtmäßigen Sonntagsbesuche in der Kirche absolvierte ich brav wie immer, war aber stets froh, wenn die Glocken das Ende der Messe einläuteten. Sollte aus irgendeinem Grund dieser Gang einmal versäumt worden sein, mussten die Eltern dafür eine schriftliche Entschuldigung erbringen. Dasselbe galt für Unaufmerksamkeit im Religionsunterricht oder der Nichtbeantwortung einer Glaubensfrage.
Dieserhalb saß ich einmal ganz schön in der Klemme. Ich hatte zu wenig gelernt und wusste auf eine Frage keine Antwort. Um meinen Vater nicht zu enttäuschen, der von mir in „Religion“ eine „Eins“ erwartete, gelang es mir durch einen Trick seine Unterschrift zu ergaunern. Mit einiger Anstrengung war bei Schulschluss die „Eins“ im Zeugnis gerettet.
Das Erbe von meiner Mutter: „sich zu helfen wissen“, hatte funktioniert.
Die gemeinsamen Wochenenden mit Miriam blieben auch in den folgenden Jahren bestehen, dazu kamen allerdings auf beiden Seiten auch andere Freundinnen.
Es war dies die Zeit des zögernden Erholens vom unseligen ersten Weltkrieg, die jedoch immer wieder von Unruhen gestört wurde. Nach dem Zerfall des Kaiserreiches war noch kein endgültiger Weg zur Stabilität gefunden worden.
Die Sozialdemokraten, die vor allem die Hauptstadt Wien regierten, bemühten sich zwar um Fortschritt und versuchten gleichzeitig die konservative Dominanz der Kirche, die das Umland prägte, einzudämmen, doch der Kampf um die Macht schwelte auf beiden Seiten bedrohlich. Außerdem gab es viel Armut in der Republik. Eine Menge Bettler zogen von Haus zu Haus, von Tür zu Tür und baten um Almosen. In den Hinterhöfen der Mietshäuser spielten oftmals Musikanten in der Hoffnung, dass ihnen aus den Fenstern ein paar in Papier gewickelte Groschen zugeworfen würden. Es waren fröhliche oder auch wehmütige Lieder, die sie ihren Instrumenten entlockten und manchmal durfte auch ich ein, von meiner Mutter gestiftetes, zusammen gewickeltes Knäuel vom 4. Stock in den Hof flattern lassen.
Einmal in der Woche betreute meine Mutter auch einen „hauseigenen“ Bettler mit einer warmen Einbrennsuppe. Serviert wurde ihm das karge Mahl auf dem Fensterbrett am Gang, wo er auf dem bereit gestellten Küchensessel dankbar die bescheidene Gabe auslöffelte.
Eines Tages, als er zur gewohnten Stunde an die Tür klopfte, war meine Mutter gerade nicht zu Hause. Da ich die Gepflogenheiten anlässlich dieses Besuches kannte, suchte ich rasch nach einem Suppenersatz. Ich wusste, dass im untersten Fach der Kredenz ein großer Topf mit Schmalz stand, holte ihn hervor und säbelte mühevoll eine Schnitte Brot vom Laib, der ebenfalls im Küchenschrank sein Plätzchen hatte. Das etwas krumm geratene Stück beschmierte ich mit der gestockten weißen Paste, in der sich noch ein paar knusprige Grammeln, d.h. Grieben versteckt hatten. Natürlich beförderte ich auch einen Stuhl auf den Flur hinaus und verhalf so dem „Stammgast“ zu einem Ersatzmahl.
Auf diesen ersten Einsatz in punkto Hilfsbereitschaft war ich hinterher gehörig stolz.
Eine Pleite für das errungene Selbstvertrauen und herben Rückschlag gab es allerdings kurze Zeit später.
An einem kalten Wintertag stapfte ich mit meiner Mutter zu Fuß zum Zahnarzt im 20. Gemeindebezirk. Eine gute halbe Stunde war es bis dahin. Ein scharfer Wind wirbelte Staub in die Häuserzeilen und der Straßenlärm verursachte ein Durcheinander von Geräuschen. Es war kein schöner Weg, der grau und trist an Geschäften vorbeiführte, deren Türen wegen des unfreundlichen Wetters, dicht geschlossen waren. In Abständen bimmelten immer wieder die rot-gelben Straßenbahnen vorbei und erinnerten daran, dass es eigentlich ihre Aufgabe ist, Passanten zu ihren Zielen zu befördern.
Im winzig kleinen Wartezimmer der Zahnarzt-Praxis saßen schon eine Menge Patienten. Der Kleiderständer quoll über vor Mäntel, wir hängten die unseren dazu…
Während ich mich langweilte und ungeduldig wurde, widmete sich meine Mutter ausgiebig den auf einem runden Tischchen ausgelegten Zeitschriften. Den Luxus, derartige zu kaufen, leistete sie sich nie, war aber andererseits begierig zu erfahren, was sich unter den Reichen und Prominenten dieser Erde tat, welche Skandale sich die hohen Herrschaften leisteten.
Zufällig musste meine Mutter dabei auch auf einen Artikel gestoßen sein, der am gleichen Abend für mich recht unangenehme Folgen herauf beschwören sollte.
Mir war die lange Wartezeit bis wir an die Reihe kamen, unerträglich, doch meine Mutter nickte bei der Lektüre immer wieder zustimmend mit dem Kopf und schien beeindruckt.
Nachdem auch die Prozedur der Behandlung endlich überstanden war, marschierten wir unbeeindruckt von der Winterkälte neben der einladend klingelnden Bahn, zu Fuß nach Hause.
Und da der Vormittag doch recht anstrengend und frostig war, entschloss sich meine Mutter abends den grünen Kachelofen, der wie eine selbstbewusste Säule das Zimmer beherrschte, zu beheizen. Natürlich wurde die Nische hinter dem Eisentürchen wieder zum Erwärmen des Wassers für die abendliche Waschung genutzt.
Als ich wie gewohnt in solchen Fällen die Mutter bat, mir das Requisit zum Waschbecken in die Küche zu befördern, kam die bisher nie geforderte Aufgabe, dieses selbst dahin zu transportieren mit der Bemerkung, ich sei ja nun schon groß genug dafür.
Ein wenig verwundert, aber durchaus bereitwillig öffnete ich das Gitter, ergriff vorsichtig den Topf mit dem langen Stil, hob ihn heraus, ging ein paar Schritte und dann… passierte es. Das Geschirr glitt mir aus der Hand und sein Inhalt ergoss sich zischend und klatschend auf den blanken Parkettboden.
Mein Gott, welch´ ein Jammer…hatte ich das Gefäß zu kurz am Ende gefasst, zu wenig festgehalten, oder sonst etwas verkehrt gemacht? Jedenfalls nahm das heiße Wasser, das eben noch leise vor sich hingesummt hatte, ehe es am Fußboden landete, den Weg über meinen rechten Fuß.
„Jesses Maria“ schrie meine Mutter entsetzt, als sie den Krach von der Küche aus hörte und rannte ins Zimmer. Aber das Unglück war leider schon geschehen.
Ich war total verdattert. Was hatte ich denn schon wieder falsch gemacht?
Der Strumpf klebte fest am Bein und beim Ausziehen ging da, wo die heiße Brühe darüber gelaufen war, gleich auch die Haut mit ab. Was für ein maßloser Schreck!
Meine Mutter verfluchte den Artikel, der sie zu dem Experiment verleitet hatte. Es ging darin um die Kindererziehung und guten Ratschlägen dafür. Man sollte die Kinder von klein an selbständigem Handeln animieren, hatte es darin geheißen.
Nun machte sie sich bittere Vorwürfe, mir diese kleine Arbeit aufgetragen zu haben, wo sie doch wusste, wie ungeschickt und unpraktisch ich sei und eben – wie der Vater – zwei linke Hände hätte.
In den Tagen nach dem Unfall wurde ich liebevoll umsorgt. Zur Schule konnte ich nicht gehen, denn der Fuß hatte sich entzündet und passte in keinen Schuh. Ich genoss das Nichtstun ausgiebig und gab mich meiner Lieblingsbeschäftigung – dem Lesen – hin.
Dass mein Vater mit den angeblich „zwei linken Händen“ sehr wohl in der Lage war kritische Situationen zu meistern, bewies er eines Tages während seiner Dienstzeit.
Er regelte auf einer stark frequentierten Kreuzung gerade den Verkehr, als eine junge Frau mit verzerrtem Gesicht, keuchend auf ihn zustürzte.
Herr Inspektor, Herr Inspektor…stammelte sie, „bitte helfen Sie mir…“ und legte eine Hand auf ihren aufgequollenen Bauch. „Das Kind, das Kind…es kommt…sie krümmte sich vor Schmerz.
Mein Vater war zwar auf erste Hilfe auch in derartigen Fällen in einem Schulungskurs vorbereitet worden, aber die nötigen Sofortmaßnahmen erforderten geistesgegenwärtige Entscheidungen. Und er handelte…und zwar blitzschnell, wie es meine Mutter ihrem Ehegemahl nie zugetraut hätte.
In Minutenschnelle organisierte er einen Ersatz als Verkehrsposten, eilte mit der Frau dem nächstgelegenen Haustor zu, befahl – ganz Autorität – dem Hausmeister, abzuschließen, ein sauberes Leintuch zu holen, Krankenwagen und Arzt zu bestellen.
Dann bettete er die geplagte Frau sorgsam auf das in diesen Häusern im Parterre oft sehr breite Fensterbrett. Als Arzt und Krankenwagen am Tatort eintrafen, schrie ihnen bereits ein winziges, glücklich aus dem Leib der Mutter geschlüpftes Kind entgegen.
Mein Vater hatte seine Pflicht getan und meine Mutter war eine ganze Weile sehr stolz auf ihn.
Überall in den Mietshäusern der Stadt war die „Bassena“ auf jedem Flur ein beliebter Treffpunkt der Frauen – auch derer, die in Selbstregie einen solchen Wasserspender in die eigenen 4 Wände installiert hatten.
Hier wurden alle Neuigkeiten ausgeweidet, Gehörtes, Gesehenes, Vermutetes diskutiert, Beschlüsse gefasst und manchmal auch gestritten. Man musste schließlich informiert sein, was sich hinter den Türen oder in deren Umkreis tat.
So konnte es in der Hitze der Gefechte schon mal passieren, dass der Stehkonvent beim Erscheinen des „Herrn Inspektor“ noch tagte. In solchem Fall nahm er gelassen, wie es seine Art war, ein paar Stühle und trug sie auf den Gang, damit die Damen ihre Schwätzchen in bequemerer Position absolvieren konnten.
Manchmal ging es dabei ja auch um recht konkrete Dinge.
„Da stimmt doch etwas nicht…“ empörte sich z.B. einmal die Bewohnerin der Wohnungstür Nr. 19 und erinnerte meine Mutter damit an ihr direktes Gegenüber Nr. 21. „Haben Sie noch nicht gemerkt, dass da immer wieder fremde Herren zu den Damen vis a vis kommen…
„Ja, ja „ pflichtete meine Mutter bei, die allerdings zu den Beiden von Nr. 21 ein freundliches Verhältnis hatte. Sie waren sympathisch und umgänglich, auch wenn niemand wusste, wie sie ihr Dasein fristeten.
Die eine, die sich „Molly“ nannte, machte ihrem Namen Ehre; sie war füllig, vollbusig, trug fast immer ein loses, Kaftan ähnliches Gewand und ihre Augen strahlten Gutmütigkeit aus. Die andere, Nelly gerufen, gab sich sehr selbstbewusst, war blond und blauäugig mit blassem Teint und versuchte eher Abstand zu halten.
„Da muss etwas geschehen..“ meldete sich nun auch die Frau aus Tür Nr. 18, eine Jüdin ungarischer Abstammung. „Das ist doch sonnenklar, was die heimlich treiben. Immer wieder tauchen in unserem soliden Haus fremde Männer auf…und zwar diverse!“ Sie holte tief Atem. Ich bin selbst einmal einem derartigen „Herrn“ im Treppenhaus begegnet.“
„Ihr Mann ist doch Polizist, der kann so etwas doch nicht dulden,“ mischte sich nun auch die Bewohnerin von Nr. 17 ein, die ansonst recht friedfertig war und sich nur ab und zu, der Bassena-Runde zugesellte.
„Wir müssen auch den Hausmeister informieren…“ ereiferte sich abermals Nr.19. „Diese beiden Huren bringen sonst noch das ganze Haus in Verruf…“
„Na ja, wir müssen etwas unternehmen,“ pflichtete meine Mutter kleinlaut bei, der es im Grunde egal war, was sich hinter der Tür der zwei Verfemten abspielte. Immerhin waren sie freundlich und taten niemand etwas zuleide.
Und den Hausmeister, der mit seiner alten Mutter das Haus mehr schlecht als recht betreute und am liebsten seine Ruhe hatte, dürfte das Problem schon gar nicht interessieren. Er stammte aus Böhmen und bei Gesprächen mit ihm, die nicht allzu häufig stattfanden, klang noch die ganze österreichisch-ungarische bzw., tschechische Sprachsymphonie, die dieses einstige Großreich prägte, melodisch mit.