Unterfranken
Das so unverständliche Phänomen „Zeit“ lief unerbittlich vorwärts….ein Vehikel ohne Rückwärtsgang, das auch uns rigoros weiter beförderte…
Sein steter, unaufhaltsamer Fluss hatte uns eine gehörige Portion an Turbulenzen beschert, mit freudigen Phasen, aber auch solchen, die durchzustehen, unsere ganze Kraft erforderte.
Nun hofften wir nach dem halben Jahrhundert, in dem unser „ICH“ bereits auf Erden lustwandelte, einem erholsameren zweiten Teil entgegen zu steuern.
Das Plätzchen, das wir dafür gewählt hatten, lieferte immerhin den perfekten Rahmen.
Sechs riesige, alte Eichenbäume beschirmten den kleinen Bungalow, der im Fertigbau-Verfahren zwischen diesem Rest einstigen Waldes innerhalb von 4 Tagen, auf ein davor gefertigtes Fundament mit Keller, gesetzt wurde.
Ein kuscheliges Nest zum Ausruhen von den Eskapaden des bisherigen Lebens.
Hatten wir mit diesem eigenen Logis das Ziel unserer Wünsche erreicht?
Würden wir hier tatsächlich sesshaft werden?
Zumindest schien es so…
Aber gab es überhaupt ein Ziel?
War „Ziel“ vielleicht nur eine Illusion der Menschen?
Hatte uns die Schöpfung lediglich den „Weg“ zugedacht und das Ziel als ewiges Geheimnis im Kosmos festgeschrieben?
War nicht ständige Veränderung das Prinzip des Universums?
War es Übermut oder der Drang nach Neuem, noch Besserem, dass wir trotz gesichertem Lebensstandard, das Siegerland gegen einen freundlicheren Wohnsitz eintauschen wollten…?
Ob klug oder nicht, wir taten es; Kurt wagte noch einmal einen Wechsel zu einer anderen Firma im Süden von Deutschland.
Glückstrahlend landeten wir ein zweites Mal in der schwäbischen Metropole.
Hier stimmte zwar der Privatsektor mit hübschem Zuhause direkt am Killesberg, doch das Klima im neuen Betrieb, verlor für Kurt bald seinen schönen Schein und zeigte sich zunehmend von Wolken verhangen.
Das geschmähte Siegerland hatte sich mit einer kräftigen Ohrfeige an ihm gerächt.
Trotzdem fügte dieses zweite Stuttgarter Intermezzo eine Reihe positiver Puzzles ins Mosaik unseres Daseins. Theater, der Tierpark Wilhelma und Reisen, entschädigten für manche Widrigkeiten.
Das besondere Ereignis des Jahres 1969 bescherte während des „Kalten Krieges“ auf dem – vorläufig – unblutigen Schlachtfeld des Weltraums einen sensationellen Sieg, der per Fernsehen allen Ländern der Erde direkt als Show geliefert wurde:
Die Landung von Menschen auf unserem guten, alten Begleiter – dem Mond.
Jede Nacht grüßte er mal voll, mal als mehr oder weniger große Sichel vom Himmel.
Alle fantastischen Spekulationen über sein Antlitz, das mit den merkwürdigen Schatten als „Gesicht mit Augen und Nase“ gedeutet worden war, wurden damit seiner zauberhaften Mystik beraubt.
Auf nichts, als nacktem Geröll und Gestein hopsten da plötzlich zwei grotesk vermummte Gestalten in einer öden Wüste herum. Mit der amerikanischen Flagge nahmen sie unseren ehrwürdigen Trabanten, für ihre Nation in Besitz.
Nur eine kleine Weile währte das kuriose Manöver, das da über die Bildschirme in den Wohnzimmern der Erdenbewohner herum tänzelte.
Das in so vielen, alten Kulturen hoch verehrte Objekt „Mond“ ,zeigte erstmals einen winzigen Ausschnitt seines wahren Aussehens.
Ernüchternd zwar und doch atemberaubend, bewies es nach dem anfänglichen Schock, dass Realitäten durchaus mit Illusionen konkurrieren können und ihre komplexe Faszination alle märchenhaften Einbildungen korrigieren und dennoch übertreffen konnten.
Der Himmel hatte seine Schleusen um einen winzigen Spalt geöffnet und seiner fremden, gigantischen Welt, die dabei erahnbar wurde, konnte nunmehr mit umso größerem Staunen und Ehrfurcht begegnet werden.
Den Höhepunkt privater Freude bot uns eine sehr persönliche, sehr bedeutende Festlichkeit – die Hochzeit unserer Tochter Karin, die nach dem Medizinstudium mit ihrem Arztpartner Frieder, ihr eigenes Revier in der Nähe von Nürnberg aufzubauen, begonnen hatte.
Die Kulisse für dieses schicksalhafte Geschehen lieferte, wie bei allen Festen oder außergewöhnlichen Anlässen, das Schulstädtchen Feldkirch mit seiner Schattenburg.
Nach der Zeremonie in der gotischen Stadtpfarrkirche am 3.10.1970 zogen das Brautpaar samt illusterer Gesellschaft zum Burghügel hinauf.
Ein trüber Oktoberhimmel empfing die kleine Gruppe, die sich unter einem grünen Baumriesen vor dem Eingang, zu einem ersten Foto versammelte. Da glucksten verschämt und liebevoll ein paar Glückstropfen auf das schützende Geäst hernieder und wünschten, wie einst bei meiner Hochzeit auf ihre feuchte Art und Weise, alles Gute für die Zukunft.
Natürlich gab wieder der Rittersaal dem Brautpaar und seinem Gefolge mit einem Festmenue die Ehre.
Als Ovation für die „alten Haudegen“ stattete man am Nachmittag deren Museum eine Visite ab.
Sehr korrekt einander, fanden sich hier in ein paar Räumen, die gesammelten Relikte als anschaulich hübsche, aber leblose Zeugnisse der Vergangenheit.
Staubpartikelchen von Jahrhunderten schwebten über Dingen, die nicht mehr atmeten, nicht mehr sprachen. Im Museum waren ihre Geister verstummt, spukten nicht mehr herum.
Dafür taten sie es umso intensiver am Abend, beim großen Treffen in der Hubertusstube im Erdgeschoss.
Sie gehörte an diesem Abend allein unserer heiteren Runde.
Da erwachten die einstigen Herren Ritter aus ihrem Schlaf und sangen und lachten mit uns, wie sie es in diesen intimen Mauern so oft getan hatten.
Ihre kreuzweise an den Wänden hängenden Lanzen mit blanken Klingen und Waffen aller Art, schienen die fröhliche Gemeinschaft zu beschützen und die Symbiose zwischen Vergangenheit und Gegenwart funktionierte wieder.
Völlig unerwartet und unorganisiert, tauchte dann zu mitternächtlicher Stunde auch noch eine Trachtengruppe aus dem Montafon auf und überraschte das Brautpaar und seine Gäste mit einem feierlichen, stimmungsvollen Ständchen.
Noch Tage später erzählten die Feldkircher von dieser Hochzeit auf ihrer Schattenburg.
Nur einer fehlte bei unserer Familienfeier – mein Vater!
Er hatte an einem 2.Februar, dem Fest der Mutter Gottes, in einer Dekade, wo anderswo Jubel, Trubel, Heiterkeit unter Prinz Karneval herrschte, ganz still und ohne Aufhebens, von einer Minute zur anderen, diese Erde verlassen…
Irgendwann verdüsterte sich der berufliche Himmel in Stuttgart für Kurt derart, dass der Eklat unvermeidlich geworden war, sodass noch einmal ein anderes Kapitel in unserem Lebensbrevier aufgeschlagen werden musste.
Aber…wie ein „Patschen“ an einem Autoreifen ausgetauscht wird, musste auch eine „Pleite“ im Dasein wieder repariert werden und Kurt schaffte es, dank seiner guten Kontakte noch aus Kriegszeiten in einer der großen Firmen in Schweinfurt ein Betätigungsfeld für den neuen Anlauf zu finden.
Zunächst in der Stuttgarter Filiale, sodass uns noch eine Galgenfrist blieb und ich in dieser Zeit ebenfalls wieder in den Beruf einstieg. Glücklicherweise in die gleichen Firma, die ich wegen Übersiedlung ins Siegerland, vor Jahren verlassen hatte.
Umzüge gehörten inzwischen zu unseren Routine-Übungen, sodass es uns keinen Kummer brachte, als es eine Zeitlang später hieß: Alle Habe zusammenpacken und auf ins Land der Franken!
Zunächst begnügten wir uns mit einer Mietwohnung nahe Schweinfurt und begannen sofort diese hübsche Perle Unterfranken , im deutschen Juwelenkästchen, zu erforschen.
Erdverbunden und standhaft behauptete dieser Distrikt mit den von Fachwerkhäusern geschmückten Dörfern, den Wein umrankten Bildstöcken am Wegesrand, seine spezifische Eigenart gegenüber allen Nachbarn. Sanfte Rebhänge umrankten den windungsreichen Main Fluss und waren Markenzeichen dieses Gebietes.
Also ebenfalls eine sympathische Etappe auf unserer Wanderschaft.
Unter einem hellen Himmel strahlte sie Behaglichkeit aus.
Die bauchigen Flaschen des Bocksbeutels, in die die gepressten Trauben als goldglänzende Wahrheit hineingepackt wurden, kündeten symbolträchtig von Gottvertrauen und positiver Gemütsverfassung der Bewohner.
Ein wenig herb, aber klar und rein labte sein Inhalt in Klöstern, Kellereien und Gasthöfen, durstige Einkehrer.
Ohne Trubel, in stiller Heiterkeit, gemächlich wie die vielen Schleifen des Flusses, verlief hier der Alltag des Lebens.
Kein Wunder, dass sich in Kirchen und Kapellen auch erlesene Kunstwerke verbargen, scheu, die Augen der großen Welt meidend.
Würzburg, ein leuchtender Diamant, die „sonntägliche Stadt“, in der die „Madonnen lächeln“, hatte sich nach der grauenvollen Bombennacht im März 1945, in der sie als „Grab am Main“ betrauert wurde, voll Energie daran gemacht, dieser alten, historischen Stätte, wenigstens einen Teil ihres Fluidums zurückzugeben.
Die Marienburg und die barocke Residenz mit Tiepolo`s Deckenfresko im Stiegenhaus, waren aus Schutt und Asche wieder erstanden.
Vor allem Tilman Riemenschneider, der Holzschnitzer aus dem Norden war es, der den Kunstwerken der Gotteshäuser so manchen Edelstein hinzufügte.
Zwischen 1455 und 1460 geboren, war seine Familie in durchaus weltliche Konflikte verwickelt, doch sein Onkel gehörte der um diese Zeit in Würzburg absolut herrschenden Bischofsclique an und förderte den begabten Neffen, der sich selbst „Handwerker“ nannte und ebnete ihm den Weg zum begnadeten Künstler.
So waren es auch vor allem Altäre, sakrale Bildnisse, die sich verstreut in Kirchen und Museen der Stadt und ihrer Umgebung als Wunder der Schnitzkunst verbargen.
Eines davon, die „Madonna im Rosenkranz“, die sich im kleinen Wahlfahrtskirchlein „Unserer lieben Frau im Weinberg“ oberhalb des bildhübschen, seit 1258 „ Stadt „ genannten Volkach, im Brennpunkt der „Mainschleife“,, versteckte, erlangte trotzdem Weltruhm.
Sie wurde nämlich 1962 geraubt, konnte aber gottlob wieder gefunden werden und restauriert auf ihren alten Platz zurückkehren.
Nun hängt das grazile Alterswerk Riemenschneiders wieder über dem Chorbogen, in dem Maria von Engeln umflattert, in einem Rundbogen von mit Rosen geschmückten Medaillons, steht.
Nur einmal – während des Bauernaufstandes 1525 – geriet der inzwischen zu Ruhm und Ansehen gelangte Künstler, der zu dieser Zeit auch Bürgermeister der Stadt war und angeblich auf Seiten der Bauern stand, in Kollision mit der bischöflichen Obrigkeit und wurde sogar kurzfristig in der Marienburg in Haft genommen und gefoltert.
Das düstere Mittelalter hatte in Würzburg auch um das Jahr 1630 kräftig zugeschlagen und traurige Geschichte mit der besonders zahlreich durchgeführten Hexenverbrennungen, geschrieben. 900 sollen es im Stift gewesen sein.
Eine weitaus erfreulichere Bilanz bot dagegen die Historie des Weines, dessen Reben auf den Hängen um die Stadt – zum Beispiel die des berühmten Würzburger „Stein“ – bereits um 780 gegrünt haben sollen.
Natürlich durfte bei Besuchen dieser Hauptstadt Unterfrankens die Einkehr in einer der berühmten Weinkellereien nicht fehlen. Am liebsten wählten wir dafür das „Bürgerspital zum Heiligen Geist“. Hier konnte man sich nicht nur mit den edelsten Sorten zuprosten, auch das Ambiente des großen Saales, lockte durch seine gemütliche und spezielle Atmosphäre, zum Verweilen.
So war es auch an einem Samstag Nachmittag, als wir müde nach dem Besuch des Mainfränkischen Museums auf der Marienburg, nach einer Stärkung verlangten. Wir erwischten gerade noch einen eben frei gewordenen Platz in einer etwas vom Saal abgeschirmten Nische, denn dieses alte, traditionelle Haus gehörte neben dem Juliusspital zu den renommiertesten und beliebtesten Weinlokalen der Stadt und war stets stark frequentiert.
Mit platt gedrücktem Bauch und langem Hals, stand bald darauf die wunderlich geformte Flasche fränkischer Extravaganz mit zwei Römern, auf dem Tisch.
„Hm. Bocksbeutel…“ überlegte ich und schob das in Franken übliche Kuriosum, nachdem eingeschenkt worden war, näher an mich heran. „Woher stammt der komische Name und warum wird eine solche Absonderlichkeit, ausgerechnet hier verwendet?“ schüttelte ich überlegend den Kopf.
„Erstens gibt es diese Form auch anderswo, zum Beispiel in Portugal und sogar vereinzelt im Badischen; aber zum Markenzeichen für die edelsten Weine und später auch allgemein für Frankenweine, hat sie sich nur bei uns hier eingebürgert.
Vor über 200 Jahren, 728, hatte der Stadtrat von Würzburg beschlossen, den „Bocksbeutel“ für den „Stein“, die beste Rebsorte des Bürgerspitals, zu verwenden, sozusagen als „Gütesiegel“ für eine besondere Spezialität“, erläuterte Kurt ausführlich.
„Ja, gut und schön, aber wie kam es überhaupt zu einem solchen Flaschenmuster“, wollte ich wissen.
„Was es mit dieser Gefäßform auf sich hat, darüber streiten sich die Gelehrten, aber, dass sie dem Hodensack eines Bockes ähnelt, kann niemand leugnen. Doch prüde, wie man nun einmal im Mittelalter war, passte diese Identifizierung vielen nicht, sodass man alle möglichen anderen Deutungen erfand.
Klar scheint zu sein, dass früher in solchen Behältern allerlei Flüssigkeiten aufbewahrt wurden. Einleuchtend ist auch, dass diese flache Form als „Feldflasche“, da leicht am Körper zu tragen, sehr praktisch war“… erklärte mir Kurt weiter, der sich offenbar ebenfalls Gedanken über dieses fränkische Kuriosum gemacht hatte.
„Dann hat diese „Schöpfung“ also direkt Geschichte….“
„Wie der Frankenwein auch…“ ergänzte Kurt „Seit dem 8. Jahrhundert wird in Franken Wein angebaut und die Sage behauptet, dass die frommen Männer von St. Benedikt die Begründer davon gewesen wären, während eine andere Legende die Benediktinerinnen – also ein Frauenkloster – für den geregelten Weinanbau verantwortlich macht“ berichtete Kurt, stolz über sein Wissen, weiter.
„Na bitte, die Frauen sind´s die den Ausschlag gaben“, musste ich schließlich das letzte Wort in der recht einseitigen Diskussion haben, der angesichts der hervorragenden Qualität des Weines, kein Kommentar mehr folgte.
Unseren Bedarf an „edlen“ Getränken für den hauseigenen Keller deckten wir allerdings bei einer weniger berühmten und daher preiswerteren Quelle – dem ehemaligen „Zehnthof“ in Nordheim, am anderen Ufer des Main-Knick. Dieser dreiflächige Renaissancebau von 1660 war von der Winzergenossenschaft übernommen worden und in seinen mit Giebeln und Erkern geschmückten Saal ließ es sich nach Herzenslust probieren und auswählen. Der Ort selbst konnte ebenfalls auf eine erste Benennung im Jahr 918 stolz sein und wartete auch mit vielen Sagen und Legenden, über seine Bildstöcke und vor allem seine Reben, auf.
Im ihm gegenüber liegenden Escherndorf verleitete eine Anzahl verlockender Titel wie „Escherndorfer Lump“, die „Eulengrube“, der „Hengstberg“ oder der Sommeracher Katzenkopf“ ebenfalls zum verkosten und bewerten.
In die Zeit, wo wir rings um Schweinfurt die Dörfer nach einem geeigneten „Plätzchen“ für ein eigenes, endgültiges Domizil durchsuchten und dabei auch die sie umschließenden Wälder durchstreiften, ereilte ein sehr trauriges Geschick die Mutter von Kurt in Berlin. Sie war in ihrer Wohnung gestürzt, erst zwei Tage später von Nachbarn gefunden worden und danach unfähig sich selbst zu versorgen.
Mit einem Krankenwagen holte ich sie ins Frankenland, wo sie in einem evangelischen Pflegeheim, bestens versorgt, nach wenigen Jahren verstarb.
Die Ironie des Schicksals wollte es, dass, als wir sie ihrem ausdrücklichen Wunsch gemäß, in Berlin neben ihrem Mann bestatten ließen, dieser Friedhof einige Zeit danach aufgelassen wurde und ihr die ewige Ruhe an dem Platz ihrer Wahl damit versagt blieb.
Sie hatte den Einzug in unser „Knusperhäuschen“ unter hohen Eichen, die den kleinen Bungalow um etliche Meter überragten, nicht mehr erlebt.
Dieser alte Baumbestand war es vor allem, der uns dazu bewog, sich hier nieder zu lassen.
Das dazugehörige Dorf „Hambach“, 6 km von Schweinfurt entfernt, erfreute sich seiner Existenz ebenfalls bereits seit 1264, war also seit langem im fränkischen Boden verwurzelt, hatte die „Volkssänger“, die es sogar ins Fernsehen schafften und auch berühmte Rennfahrer, hervorgebracht. Sein Spielfeld und Zentrum ballte sich jedoch unten um die Hauptstraße und die, ebenfalls altehrwürdige Kirche, zusammen.
Unser Domizil am äußersten Zipfel der Anhöhe am Waldesrand, nahm in der Gemeinde eher eine einsame Außenseiter-Rolle ein.
So erlebten wir so manchen alten Brauch, wie z.B. das „Göckeles Ausschlagen“ nur vom Hörensagen.
Zum Kirchweihfest wurde dabei über alle Schandtaten, die im Laufe des Jahres passiert waren, Gericht gehalten.
Ein Wagen zog durch das Gelände und verkündete sie überall öffentlich.
Auf dem Gefährt befanden sich ein prächtiger Hahn, der Henker in rotem Mantel, mit einem Beil bewaffnet, die auf das Urteil des „ Hohen Gerichtshof“ warteten. Nachdem alle Moritaten verlesen worden waren, wurde der Gockel als „Schuldiger“ entlarvt und vom Henker enthauptet. Nachdem er im Kochtopf des Dorfes für seine Sünden gebüßt hatte, wurde er in fröhlicher Runde verspeist.
So hatte fast jedes der schmucken Dörfer, seine eigenen Sitten und Traditionen und einige dieser Marktflecken zeigten dabei geradezu das Aussehen von Bilderbuch-Schönheiten, wie zum Beispiel Prichsenstadt. Bad Kissingen wiederum, hatte das gepflegte Ambiente eines modernen Kurbades zu bieten und auch die Industriestadt Schweinfurt war bemüht gewesen, die tiefen Wunden des Krieges wenigstens einigermaßen zu kaschieren. Mit einem Theater versuchte es auch ein wenig Kultur in seine etwas abseitige Ecke zu holen.
Abwechslung gab es also genug im Lande der Franken.
Trotzdem konnten wir das „Reisen“ nicht lassen. Immer wieder zog es uns in die weite Welt hinaus….nicht zur Erholung, die fanden wir in unserem Privatwäldchen reichlich.
Was uns wegzog, waren die Schönheiten und Geheimnisse unseres gesamten, so herrlichen „Mutterschiffs“ Erde, das letztendlich unsere eigentliche „Heimat“ war.
Noch von Stuttgart aus, hatten wir 1973 gemeinsam mit Karin und Frieder dem afrikanischen Kontinent einen 4-wöchigen Besuch in einem gemieteten, gestreiften VW-Bus abgestattet und die herrliche Tierwelt der Serengeti und die der Naturparks von Tansania bewundern und schätzen gelernt.
Nun 1981 – die Jahre vergingen wie ein Hauch…schon präsentierte der Kalender die 80 hinter den 1900 – versuchten wir bei einem „Nahtrip“ mit eigenem Auto dem fast vergessenen Volk der Etrusker, ein wenig nachzuspüren.
Dort, wo heute die Glanzlichter der italienischen Renaissance schillerten, die millionenfach Verehrer schöner Künste in ihren Bann zogen…wo schlanke Zypressen, liebliche Hügel und Matten als stolze, tiefgrüne Säulen, übertrumpften – in der schwelgerischen Landschaft der Toskana um Florenz –tanzte, sang und lachte vor 2500 Jahren ein frohes Volk…die Etrusker!
Kometenhaft aus unbekannten Gestaden hervor geschnellt, trieb es ein paar Jahrhunderte – von 700 bis 400 vor Christi Geburt gigantische Blüten, schuf eine Zivilisation, einen Boden, der Rom heranreifen ließ – uns verschwand schließlich wieder im Dunstkreis der Geschichte.
Ein Staat, der wie Griechenland aus zahlreichen, unabhängigen Stadtstaaten bestand und weit über das eigene Territorium hinaus strahlte, während das übrige Europa noch im tiefsten Dornröschenschlaf lag.
Nur in Museen und Nekropolen fand man ihre Spuren und in diesen wollten wir dem geheimnisvollen Volk begegnen…
Ihre Schüler und Nachfolger – die Römer – hatten sie aufgesogen und sie sich samt ihrem Wissen und Können „einverleibt“.
Im Koloss des römischen Imperiums verwehten ihre letzten Atemzüge. Als hätte es sie nie gegeben.
Gras wucherte auf ihren Totenstätten, ihre Gedanken, von den Winden davongetragen, blieben unausgesprochen und übermittelten uns dennoch wundersame Botschaften aus dem Repertoire ihres Daseins auf Erden.
Das Unternehmen, zu dem wir im Juni aufbrachen, gestaltete sich also zu einem Pendeln zwischen dem Heute und jener rätselhaften Epoche, die in grauer Vorzeit, in Mittelitalien blühte.
In der ehemaligen Etruskerstadt Chiusi tauchten wir im dortigen Museum erstmals tief in deren Vergangenheit hinunter.
Auf den Deckeln und den Seitenwänden der Sarkophage erzählten Reliefs von der Vorstellungswelt dieses längst verstummten Volkes.
Da ruhten halb sitzend, halb liegend lebensgroße Gestalten auf weißem Stein – der Arm des Mannes hielt die Schulter der Frau umschlungen und ihre Gesichter verklärte ein überirdisches Wissen, völlig entspannt lächelten sie uns zu.
Lose und leicht falteten sich die Gewänder über ihre vereinten Körper.
Daneben feierte eine Gruppe von Jünglingen auf einer marmornen Seitenfläche, als wollten sie uns beweisen, wie heiter sie ihr Leben mit den Gefährtinnen zu meistern wussten und wie sehr sie überzeugt waren, dass dieses auch nach dem geheimnisvollen Ereignis des Todes, unbeschwert weiterlaufen würde.
Ein glücklicher Glaube und tief wie bei keinem anderen Volk, war Religiosität in ihrem Inneren verankert. Allerdings…mit der Beimischung einer gehörigen Portion Aberglaube.
Zwar verehrten sie, vielleicht von den benachbarten Griechen, mit denen sie regen Kulturaustausch pflegten, beeinflusst, eine Anzahl von Göttern, doch könnte ihre Offenbarungs-Religion im Ursprung nur einem einzigen Gott gegolten haben und erst später zu einem ganzen Pantheon angeschwollen sein.
Ihre Wahrsager deuteten die Zukunft unter anderem in feierlichem Ornat, nach schwierigen Riten und Regeln, aus der Leber von gesunden Tieren. Für die Etrusker verkörperte die Leber den Mikrokosmos, der den Makrokosmos des Himmels abbildete. Artefakte bezeugten es.
Ein Ausspruch des Römers Seneca – Lehrer Kaiser Neros – beleuchtete das Dogma des Etruskerglaubens:
„Wir (Römer) glauben, dass der Blitz durch zusammenstoßende Wolken verursacht wird, während sie (die Etrusker) glauben, die Wolken stoßen zusammen, um den Blitz zu erzeugen.
Da sie die Götter für alles verantwortlich machen, sind sie davon überzeugt, dass Ereignisse nicht deswegen etwas bedeuten, weil sie stattgefunden haben, sondern, dass sie stattfinden, um etwas zu bedeuten.“
Sogar manch` römischer Patrizier konsultierte einen etruskischen Priester für die Vorhersage der Zukunft.
44 v. Chr. soll ein solcher „Haruspex“ – Wahrsager – Caesar vor den Iden des März gewarnt haben, mit dem lapidaren Zusatz, dass alle Vorsicht doch nichts nütze, da sein Schicksal von den Göttern unwiderruflich bestimmt worden sei.
Hatte dieser Fatalismus Mitschuld, dass die Etrusker sich so bedingungslos den Römern unterwarfen und in ihnen buchstäblich aufgingen?
Bestärkten sie die Niederlagen, die sie im Krieg mit ihnen erlitten….oder Zwistigkeiten und möglicherweise Schwierigkeiten im eigenen Bereich….im Glauben, dass ihre Zeit abgelaufen sei.
Hätten die Etrusker als Rom arg im Clinch mit Karthago lag, sich vielleicht mit Hannibal verbünden sollen?
Wäre die Weltgeschichte anders verlaufen, wenn sie es getan hätten?
Noch intensiver wie in Chiusi berührte uns der Lebensstil dieses Volkes in Tarquinia, das damals ein bedeutendes Kulturelles- und Wirtschaftszentrum war und sich etwas nördlich des heutigen, freundlichen Städtchens erstreckte und in dem wir uns für zwei Tage einquartiert hatten, um dessen ausgedehnte, antike Nekropole zu besuchen.
Von den 2000 Grabanlagen können ca. 25 besichtigt werden, ein paar davon offenbarten uns den Blick in die Vergangenheit, der einer Sicht in eine paradiesische Welt gleichkam.
Wieder spiegelten sich Heiterkeit und Frohsinn – jene köstlichsten Gaben, die das Dasein zu verschenken hat – an Malereien der Grabinnenwände leuchtend wider.
Sinnenfreude bei Musik, Gesang und Wein im Umkreis üppiger Gastmähler, die zur Teilnahme einladen!
In kniekurzem, bunt gestreiften Gewand schwebte ein Jüngling, die Doppelflöte (Aulus) blasend, über die Bildfläche. Melodien aus fernen Zeiten erklangen dabei auch in unseren Ohren und beschenkten uns mit dem Hauch der Ewigkeit.
Tanzende Paare…Vögel…Delphine…Sportveranstaltungen…Wettkämpfe…all das belebte anmutig, voll Grazie oder voll Kraft strotzender Vitalität, die Mauerfläche.
Jedes Grab enthüllte in einer anderen Szenerie den Genuss des „süßen Lebens“, in dessen Realisierungar die Etrusker scheinbar Meister waren und dem auch der Tod nichts anhaben konnte.
Es fiel auf, wie selbstverständlich die Frauen an diesen Festen teilnahmen, gleichberechtigt als Partnerinnen, die sie offenbar waren.
Sehr wohl ein Grund zur üblen Nachrede für die prüden Regeln, die damals für Griechen und Römer, Gesetz waren.
Natürlich präsentierten sich in dieser Nekropole vor allem die Totenhäuser der Aristokratie, aber Musik, vor allem Flöte und Lyra soll auch die Alltagsarbeiten der Bevölkerung begleitet haben.
Die unterirdischen Grabkammern wurden aus dem vulkanischen Boden heraus gemeißelt, das Innere mit Gips überzogen, die Wände mit einer neutralen Farbe gestrichen, die Umrisse der Figuren gezeichnet und danach mit Farben aus verdünnten, gemischten Naturstoffen ausgemalt. So gaukelte eine Regenbogen aus verschiedenen Farbtönen, einen bunten Reigen fröhlichen Treibens, vor.
Wer waren sie, ein Volk, das man Etrusker taufte?
Ihre Sprache fiel bereits 89 v. Chr. der Vergessenheit anheim.
Eine unter vielen Vermutungen besagt:
Um 1200 v. Chr. fanden im Mittelmeerraum erhebliche Umwälzungen statt, viele Völker begaben sich auf Wanderschaft.
Unbekannte Invasoren eroberten das Hethiterreich, in Griechenland erlebte die mykenische Kultur ihren Niedergang, selbst Ägypten war durch die „Seevölker“ bedroht.
Man nahm an, dass die Philister – Goliaths Volk – die späteren Widersacher der Israeliten, ebenfalls zu diesen „Seevölkern“ gehörten.
Könnten die Etrusker auch mit ihnen in Verbindung gebracht werden?
Tatsächlich existierte bereits im 10. Jhdt. v. Chr. eine voretruskische Kultur – Villanova – in Italien. Bestand ein Zusammenhang zwischen ihr und den Etruskern?
Die Visitenkarte der Etrusker konnte sich mit berühmten Töpfern, Metallarbeitern und Goldschmieden ausweisen. Ingenieure verstanden die reichen Metallvorkommen zu nutzen und sie waren geschickte Seefahrer und… gefährliche Piraten.
Südlich von Tarquinia beeindruckte uns noch einmal eine andere weitläufige Ruinenstätte: Cerveteri – das ehemalige Caere – eine der ältesten und größten etruskischen Städte. 40 km nördlich von Rom mit ehemals 3 Häfen und einer riesigen Nekropole.
Es war heiß und wir spazierten durch wild wuchernde Vegetation auf ausgetretenen Pfaden, die manchmal noch die eingefahrenen Spuren von Leichenwagen konserviert hatten.
Eine Unzahl, von Gras bewachsenen Hügeln in allen Größenordnungen umgab uns. Steinumrahmungen bildeten meist ihr Fundament, darüber stapelten sich die Erdaufschüttungen.
Nur das Summen von Insekten störte die Stille, denn kaum jemand begegnete uns bei dem Gang durch diese „Häuser für die Ewigkeit“.
In manche konnten wir hinabsteigen, bzw. wenigstens hinein sehen.
Ihre Einrichtung war spektakulär:
Alle Gegenstände des Lebens waren fein säuberlich als Reliefs aus dem Tuffstein, als Säulen und Bänke heraus gemeißelt.
An den Pfeilern hingen Töpfe, Pfannen, Seile, alle auch im Wohnhaus benötigten Gegenstände. Selbst nützliche und geliebte Tiere fehlten nicht in diesen verlassenen Haushalten.
Alles Gerät des „Diesseits“, sollte, als bequemes Ambiente das Weiterleben des Verstorbenen, begleiten.
An Abenden, die dem unmittelbaren Zusammentreffen mit den beschwingten Vorfahren der Römer folgten, diskutierten wir stets bei Wein und Pizza in einer der gemütlichen Trattorias vor Ort, über das Erlebte und webten eigene Fäden ins Netz der Spekulationen.
Auf die Frage nach dem „Woher“ ,fanden wir dabei eben so wenig eine endgültige Antwort wie über das „Warum“ des Niedergangs, dieser großartigen Kultur.
Denn, noch ehe, die Etrusker nach den gescheiterten Kriegen, als römische Staatsbürger ins Imperium eingegliedert wurden, fand bereits ab dem 4. Jahrhundert ein Wandel in ihrer Gesinnung statt.
Es ging offensichtlich mit ihnen bergab.
Die freundlichen Szenen wichen einem eher düsteren Kolorit, verloren immer mehr die frohe Zuversicht…Kampf statt Lachen, Gewalt statt Tanz, bildeten sich nun auf ihren Kunstwerken ab.
Blieb also auch dieser Kultur nach dem „Himmelhoch jauchzen“ das „zum Tode betrübt“ nicht erspart?!
Hatten die immer stärker expandierenden Römer ihre Heiterkeit und das „dolce vita“ beendet, noch bevor die Lehrmeister demontiert wurden.
Kannten auch die Etrusker, ob von den Römern abgeschaut oder als eigenes Ritual – wie fast alle Völker des Altertums – die Opferung von Menschen zu speziellen Anlässen und Zwecken?
356 v. Chr. sollen 307 römische Gefangene solch makaberen Praktiken zum Opfer gefallen sein…
Wie verträgt sich dies mit der hinreißenden Schwerelosigkeit der Zeugnisse aus ihrer Glanzzeit?
Unversehens verstrickten wir uns bei diesen Gesprächen in das verworrene Gestrüpp uralter Auswüchse, die Religionen auf Kosten des Glaubens erfanden und die in Brutalität und Gewalt ausarteten.
Wir fanden keinen gemeinsamen Nenner und trösteten uns schließlich mit den unwiderlegbaren Errungenschaften, die dieses Volk den Römern und damit auch uns bescherten.
Ein weiteres Glas Chianti stimmte uns wieder friedlich, denn was so oft den Römern zugeordnet worden war, entpuppte sich als Erbe jenes stolzen Volkes, das viel zu kurz, aber sehr nachdrücklich, dem erwachenden Europa seinen Stempel aufgedrückt hat.
Dass unser Alphabet, trotz seines griechischen Namens nicht mit Alpha, Beta, Gamma, sondern mit A., B., C., beginnt, dürfte ihrer Modifikation der von den Griechen erlernten Schrift zu verdanken sein. Und die etruskische Schrift wiederum, schien sogar über die Alpen gelangt zu sein und dort schon im 2.Jahrhundert v. Ch., zur Entwicklung der Runen geführt haben.
Der Sumpf, auf dem das spätere Forum Romanum entstand, war von den Etruskern entwässert worden, sie legten die Fundamente für das Kanalsystem der Stadt Rom, begannen mit Steinbauten, wie z.B. dem Jupitertempel, dem Wahrzeichen der alten Stadt.
Die Toga, die römischen Zahlzeichen, die Vorliebe für monumentale Kunst und Kultur, all´ das war im Ursprung etruskisch!
Und als „non plus ultra“: die ersten Kaiser Roms waren Etrusker!
An vielen Relikten, die uns dieses Volk hinterlassen hat, mussten wir vorbei fahren oder konnten sie nur flüchtig registrieren, denn allzu reich und weit verstreut war deren Erbe.
Die zweite Etappe unserer Reise brachte uns in Italiens sprudelnde Gegenwart zurück…
Das heißt nicht ganz, denn das Spektakel, das uns in Siena erwartete, beschwor wieder eine, allerdings jüngere Vergangenheit herauf – das Mittelalter!
Das jährliche Ereignis des „Palio“ – verkörpert ein Pferderennen von einmaligem Bravour.
Es hypnotisierte eine ganze Stadt und auch uns!
Dabei bot Siena als solches schon ein Panorama, voll gepackt mit Kunst und Kultur.
Doch leider blieb kaum Zeit für die prächtigen Paläste, den wundervollen Dom – Siena als Konkurrenz zu Florenz gilt als „gotischer“ Traum!
Ein undefinierbares Fieber knisterte um diese Zeit in den Gassen um die Piazza del Campo, die halbkreisförmig auf der einen Seite amphitheatralisch hochsteigt, um die Mitte leicht abfällt und daher wie eine Muschel wirkt.
Diese besondere Bodenform war hier geschickt genutzt worden und es entstand ein technisch-künstlerisches Meisterwerk.
Für den rasanten Lauf der Pferde, wurde nun zum Fest eine breite Bahn mit feuchtem Sand präpariert und für das Publikum, vom Platz abgegrenzt. Hier sollten die Tiere innerhalb von 3 Minuten den Sieg für ihr Stadtviertel erringen.
Auf dieser großen Muschel also, an der Vorderfront vom prächtigen Rathaus – dem Palazzo Publico – gerahmt, würde das Schauspiel ablaufen, das seit fast 500 Jahren am 2. Juli die Bürger der Stadt und ihre Gäste in eine Art Trance versetzt.
Der Ursprung dafür ging sogar ins 13.Jahrhundert zurück…damals waren es Wettkämpfe mit Stieren und Büffel, seit 1356 sind Pferde die Stars des Mammut-Festes.
Siena quoll über vor Menschen.
Auch wir schwelgten im Nervenkitzel mit, bei dem jedes der 17 Stadtviertel – Contrades – in die Siena aufgeteilt ist, einen eigenen Namen (Delphin, Schnecke, Panther, Eule, Wald, etc.), trug, eine eigene Fahne und eigene Pfarrkirche besaß. Zehn von diesen Stadtvierteln wurden jeweils für das Rennen, lange vorher ausgewählt. Am pompösen Festzug würden jedoch alle 17 Contrades teilnehmen.
Wir versuchten verzweifelt noch irgendwo einen günstigen Aussichtsplatz für dieses berühmteste Volksfest der Toskana zu organisieren…vergeblich…es blieb nur die Chance vom Campo über Tausende und Abertausende von Köpfen hinweg, einen Blick auf den Umzug mit den Fahnenschwingern und dem Rennen, zu erhaschen.
Am Morgen des 2.Juli waren bei Gottesdiensten Reiter und Pferde gesegnet worden. Proberennen hatten bereits stattgefunden und ein letztes startete auch noch an diesem Tag, bei dem die „Schnecke“ ins Ziel gegangen war.
Wer würde der endgültige Sieger sein?
Die Spannung stieg ins fast Unerträgliche…
Ein Trostpflaster für die vermutlich schlechten „Aussichten“ zum Ereignis selbst, bescherte uns der Bummel am Nachmittag, durch die engen Gassen hinter dem Campo. Hier begegneten wir den Teilnehmern in ihren bunten, alten Trachten, als sie zum Sammelplatz für den Umzug zogen.
Nie waren wir dem Mittelalter näher….
Um 6 Uhr abends umrundete dann zuerst die exklusive, von Farben schillernde Prozession den Platz. Ihr Vorbeimarsch dauerte zwei Stunden!
Stabträger, Trompeter, Musikanten, Reiterknechte und Fahnenträger zogen neben den Persönlichkeiten, die die einst Regierenden versinnbildlichten, über den Campo, diesem wunderbaren Schmuckstück der Stadt.
Fahnenschwinger warfen ihre Embleme in die Luft, fingen sie im Flug geschickt gleich wieder auf: gleich bunten Riesenvögeln flatterten sie ein paar Sekunden gegen den Himmel, zeichneten farbenfrohe Muster auf sein strahlendes Blau.
Zum Schluss folgte der Festwagen, auf dem der Preis für den Sieger des Rennen hin- und her wehte: ein Seidenband – das Palio – mit dem Bildnis der Muttergottes. Welches Pferd würde es erringen?
Es war vor allem das wirbelnde Spiel der Wimpel, das wir – eingekeilt, in eine unzählbare Menschenmenge – über uns in der Luft bewundern konnten.
Danach stürmten die 10 Pferde als wilde Meute mit ihren Reitern über den Platz, lautstark angefeuert von den Menschen die den Parcours säumten. Ungesattelt und ohne Steigbügel versuchten sich die Reiter bei diesem Höllentempo, auf ihren Rücken zu halten.
Ohrenbetäubendes Klatschen und Schreien ließ den Campo erzittern.
Wir konnten nicht erkennen, welches Stadtviertel der Favorit war, hörten nur immer wieder „Aquila…Aquila…und schrieen mit „Aquila…“ ein Name, der aus unzählbaren Kehlen aus der Menge am Platz, aus Häusern, Fenstern und Dächern hinaus in den Abend schallte!
Hatte tatsächlich „Aquila“, die Contrada mit dem Doppeladler, gesiegt….“?
Entscheidend war das Pferd, das als erstes durchs Ziel gegangen war – auch dann, wenn es während des Teufelsritts seinen Reiter abgeworfen hatte…was vorkommen konnte, denn Unfälle waren nicht gerade selten.
Aber an diesem Tag störte kein Missklang den überdimensionalen Jubel.
Bis spät in die Nacht wurde gefeiert und die Contrada „Aquila“ wird wohl mehrere Tage der Freude registrieren können.
Am 15.8. würde Siena, wie alljährlich, noch einmal in einer Wiederholung zu Ehren der Jungfrau Maria, das Mittelalter enthusiastisch wieder auferstehen lassen.
Die Nacht war mild und voll Heiterkeit und Frohsinn…wie einst zu Zeiten der Etrusker!
Die Piazza del Campo hallte wider von Gelächter und Ausgelassenheit, die heute Freunde und Fremde als große Familie vereinte.
Am nächsten Morgen winkten wir ein wenig müde, aber glücklich zurück zur Stadt:
Servus Toskana…ade Italien, du Nachbar, der Europa mit so viel Kunst und Kultur beschenkt.
Wie hatte sich doch das Leben seit meiner Jugend und dem Krieg verändert!
Computer waren erfunden worden, die beim Rechnen und anderen Arbeiten halfen. Die Technik begann die Welt zu beherrschen, eröffnete ungeahnte Möglichkeiten, veränderte auch das Dasein der „kleinen“ Leute, gestaltete es leichter und angenehmer.
Die neue, lukrative Branche Tourismus, hatte längst den Markt erobert.
Wohin einst nur Abenteurer oder Forscher strebten, stürmten nun alljährlich Menschenmassen per Auto oder im Jumbojet, zu fremden Gestaden.
Preisgünstige Angebote in den Süden waren die besonderen Renner. Dort huldigte man stunden- und tagelang dem Sonnenkult, denn nicht wie einst, vornehme Blässe, sondern möglichst dunkel gebräunte Haut zählte heute zu den wertvollsten Mitbringseln vom Urlaub.
Der Tourismus…ein Gewinn für Ansässige und Fremde??
Wer riskierte schon einen flüchtigen Blick hinter die blendende Kulisse der Gastländer?
Die Exoten der fremden Welt, blieben meist ebenso unter sich wie die Besucher, die ihre Meeresküsten haufenweise besiedelten.
Das neue Vergnügen hatte einen Januskopf geboren, dessen zwei Gesichter in verschiedene Richtungen wiesen.
Auch Kurt und ich waren natürlich an Exkursionen zu anderen Kulturen äußerst interessiert; allerdings versuchten wir dabei zumindest eine vage Ahnung von der unbekannten Gedankenwelt, der dort Lebenden oder einst dort sesshaft gewesenen Völkerschaft, zu gewinnen.
1982 wagten wir einen ganz weiten Sprung und begaben uns – da Kurt inzwischen als Rentner das Leben genießen durfte – für 2 Monate in den Westen der USA und auf eine Tour durch Mexiko….alles in eigener Regie mit gründlicher Vorbereitung, teils per Mietauto, teils per Flug.
Zurück brachten wir unvergessliche Erinnerungen und manch´ korrigiertes Vorurteil über die Lebensart der verschiedenen Völker und Stämme, der auf unserer Erde wandelnden Spezies Homo sapiens.
So war zwar unser Idyll unter den 100-jährigen Eichen stets Rastplatz vom Nomadentum geworden, bereitete uns aber oft bei längerer Abwesenheit arge Gewissensbisse.
Sesshaftigkeit passte halt schlecht zum Wandertrieb, der in uns rumorte.
Endlich erwirtschafteter Besitz, stellte auch eine Art Freiheitsberaubung dar.
Er verpflichtete, musste gepflegt werden, verlieh zwar Sicherheit und stolze Befriedigung, forderte aber auch Fürsorge und Anwesenheit. Trotz aller Sehnsucht nach einer irdischen Heimat, blieb er für uns letztendlich ein Phantom.
Zunächst verlief das folgende Jahr 1983 für uns ohne wesentliche Besonderheiten.
Aber als es seinen Höhepunkt langsam zu überschreiten begann, packte uns plötzlich wieder die Lust nach Ausbruch, nach Neuem…
Durch die Medien, vor allem das Fernsehen, hörte und sah man alles von den Geschehnissen und Landschaften auf unserem Planeten, so dass uns gar nichts mehr fremd zu sein brauchte.
Informationen liefen pausenlos über die Bildschirme, man erlebte die Erde in allen Variationen, vom bequemen Wohnzimmersessel aus.
Aber es war ein vorgekautes Portrait von ihr, vergleichbar dem Brei, der Kleinkindern als Nahrung eingeflößt wird.
Eine Zeitungsanzeige erweckte Ende des Monats August meine Neugier:
„Große Mutter Ägypten – eine Reiseakademie!“
Welch` großartige Gelegenheit, noch vor den tristen Wintertagen eine der spektakulärsten und ältesten Kulturen auf unserem Globus kennen zu lernen!
Kurt war entsetzt über meine Idee, als quasi „Sommerschlussverkauf“ für knapp 3 Wochen, eine von anderen Leuten „organisierte“ – von ihm verpönt – Tour zu unternehmen.
Doch es gelang mir, ihn umzustimmen…unter dem Hinweis, welche Probleme in einem arabischen Land für uns, ohne Anleitung, auftauchen könnten, wie viel Zeit für eigene Vorbereitungen nötig wären und dass schließlich eine „Akademie“ ein Extraangebot an Verständnis und Wissen erbringen würde…willigte er schließlich ein.
Wir buchten in aller Eile: bis zum Starttermin blieben uns gerade noch drei Wochen, für eine notdürftige Einstimmung, auf das ungewöhnliche Ziel.
Als letztes Rad am Wagen der 24 Reiseteilnehmer, landeten wir am 29.9. ohne Visum, in Kairo, wo uns dieses, dank der Routine der Veranstalter, am Flughafen besorgt und die DM 18,–Gebühr, erlassen wurden.
Ein merkwürdiges Gefühl für uns Globetrotter, plötzlich so enthoben aller Mühen und Sorgen für den weiteren Verlauf, Verpflegung und Unterkunft, den Orient auf uns wirken zu lassen.
Und dieser wirkte mächtig, erschlug uns geradezu mit seinen zwiespältigen Profilen.
Gleich zwei Reiseleiter bestimmten die Regeln der Durchführung des monströsen Programms.
Der Eine war zuständig für die Sehenswürdigkeiten und das Wohlbefinden, der Andere für die „Akademie“, die uns in diversen Referaten, das Gestern, Heute und sogar eine Vorschau auf das Morgen, dieses ehrwürdigen Landes, vermitteln sollte.
So frisch aus dem geordneten Europa importiert, versetzte uns die Millionenstadt Kairo den ersten Dämpfer, hinsichtlich einer eventuell erwarteten, schönen und freundlichen Stadt.
Ihr Gesicht starrte erst mal vor Schmutz, Hektik und Lärm.
Nichts an ihr ließ die glorreiche Zeit der Pharaonen ahnen. Hoffnungslos überfüllt, zermahlte sie im Getriebe des Alltags auch die leiseste Erinnerung an jene große Vergangenheit, zeigte ein nacktes, ärmliches Antlitz voller Wunden und Narben, die ihr die Existenzkämpfe der Jahrhunderte, zugefügt hatten.
Doch sie hatte auch ein zweites Profil, das unter der chaotischen Oberfläche, ein wenig von ihrem Inneren offenbarte.
Im Bazar, dem eigentlichen Pulsschlag arabischen Lebens, da brillierte zwischen Läden und Ständen ein prall buntes Dasein, wo die Männer befreit vom Druck der Zeit ihre Wasserpfeifen anzündeten, um genüsslich daran zu saugen…die Frauen in langen Gewändern und Kopftüchern, gemächlich und aufmerksam, alle angebotenen Waren kritisch prüften.
Es hämmerte und klopfte aus allen offenen Buden, ohne Hast und Scheu übten die Handwerker ihr Metier aus.
Aus einem der Seitenwege – der „krummen Gasse“ – strömten verschwenderisch und betörend, die Düfte der verschiedensten Gewürze in unsere Nasen.
Einen ganzen Tag hier durchstreifen…ja, das wäre ein Vergnügen; aber nein, lediglich 2 Stunden waren dafür vorprogrammiert und die Uhr avancierte damit zum wichtigsten Requisit dieser Reise.
Doch was uns diese Zeitmaschinerie, in die wir bei dieser Fahrt als Rädchen eingebunden waren, alles erschloss, übertraf immerhin jegliche Erwartung.
Unsere Gehirnwindungen wurden dabei zu gewaltigen Sprüngen angeregt…
Kaum aus dem Bazar raus, ging es ins Archäologische Museum, der weltberühmten Stätte, wo Vergangenheit gesammelt und aufbewahrt wurde.
In den von Artefakten voll gestopften Räumen, führte man uns nur an die wesentlichsten Schätze heran – aus Sicht der Reiseleiter, versteht sich – und…waren davon geblendet: am meisten natürlich von den aus Tutenchamuns bis jetzt einziger, ungeplünderter Grabanlage, die der Brite Evens, dem ägyptischen Boden als Weltsensation, entrissen hatte.
Nicht genug von diesen verwirrenden, ersten Bekanntschaften nach unserer Ankunft in der Millionenstadt, folgte am Abend als Einführung auch noch das Referat über die „große Mutter Ägypten“, wonach das Land am Nil nicht nur auf die Griechen und das Christentum, sondern auch auf den Islam nachhaltig eingewirkt hätte.
Brav hörten wir zu, während draußen ganz in der Nähe unseres Hilten-Hotels, unbeeindruckt von allen Geschehnissen, der schicksalhafte Strom seine uralten Fluten vom südlichen Nubien ins Nildelta bei Alexandrien und das Rote Meer, transportierte.
Dass von nun an jeder Morgen bereits um 6 Uhr, mitunter gar 5 Uhr, einmal sogar um 2 Uhr nach Mitternacht begann…dieser Prozedur hatten wir uns schließlich freiwillig unterworfen und nahmen sie anlässlich der außergewöhnlichen Faszination, die vor uns während der nächsten 2 ½ Wochen in voller Breite und Länge entfaltet wurde, Gott ergeben, hin.
Es war wirklich alles „drin“ an Informationen, Sehenswürdigkeiten, Referaten, Prognosen…nichts wurde uns vorenthalten.
Ganz Ägypten auferstand sozusagen – angefangen vom Alten, übers Neue Reich, einschließlich Gegenwart und Zukunft, vor unseren Augen, gleich einer flimmernden, viel versprechenden, Fata Morgana.
Übermächtig präsentierten sich uns in Gizeh die drei Pyramiden aus dem Alten Reich – Cheops, Chefren und Mykarinos. Davor, von den Jahrtausenden leicht lädiert, thronte als steinernes Monster die riesige Sphinx, deren Erbauer, sowie Sinn und Zweck immer noch Rätsel aufgeben.
Das Ensemble ließ in seiner Majestät all´ den Staub, die Händler, die um Kunden gierenden Kameltreiber mit ihren Tieren, die stoisch in die heiße Sonne blinzelten, schlichtweg vergessen. Ebenso die Fliegen, die hier ein El Dorado an Opfern fanden.
Auch das Umfeld der baufälligen Hütten, die schmutzigen, Bakschisch heischenden Kinder, die im Wüstensand hausten und das heute vorführten, verblasste in seiner Endlichkeit vor diesen Monumenten der Ewigkeit.
Ein Besuch im Goethehaus samt Referat, ein Empfang beim Patriarch der Koptischen Kirche, die sich als einzig prädestinierte Nachfolgerin Christi fühlte, stopften uns zusätzlich mit Wissen voll.
Zu nächtlicher Stunde beförderte uns das Flugzeug nach Assuan, wo uns in den Morgenstunden das größte Wunder des Neuen Reiches und gleichzeitig ein Bravourstück heutiger Technik, erwartete.
Der gewaltige Tempelkomplex von Ägyptens berühmtesten, mächtigsten Herrscher – Ramses II. – infolge des neuen Nil-Staudammes von Überflutung bedroht, war abgetragen, in Einzelteile zersägt und auf höherem Niveau neu zusammengesetzt, wieder aufgebaut worden.
Es überwältigte uns also hier nicht nur die Schönheit der überdimensionalen Anlage des Bau wütigen Regenten, sondern auch die Kühnheit der Versetzung, deren meisterhafte Präzision wir hinter der Kulisse des Giganten, ehrfürchtig bestaunten.
Eine Bootsfahrt am Nil beförderte uns zu einer ganzen Reihe anderer, riesenhafter Tempel aus verschiedenen Epochen – jede ein Augenschmaus für sich.
Prall angefüllt prasselte das Programm dieser 18 Tage auf uns nieder, unaufhaltsam, wie eine Broschüre gebündelter Seiten, die das Halteband zu sprengen drohte.
Luxor – das einstige Theben – dessen großartige Tempelanlage wir nur im schummrigen Lichterglanz der Nacht erlebten, die alle Reliefs und Symbole in eine unwirkliche, mystische Atmosphäre tauchten.
Sein Gegenstück – der Tempel von Karnak – durch eine Sphinx-Allee mit ihm verbunden – entführte uns am nächsten Morgen noch tiefer in den überirdischen Traum ägyptischer Glaubensvorstellungen. An seinen von Reliefs übersäten Säulen konnten wir uns kaum satt sehen und nur schwer davon losreißen.
Aber auch die Busfahrt durch die Dörfer Nubiens, in denen sich das Leben unkompliziert und freundlich abspielte, forderte eindringlich nach einem Halt und Zeit, um es kennen zu lernen.
Viel mehr Zeit….
Aber die hatten wir nicht…
Beneidenswert die Fellachen, die an den Ufern des großen Flusses wie vor Urzeiten mit Ochse und Pflug ihre Felder bearbeiteten und nicht ahnten, wie tyrannisch fehlende Zeit, drangsalieren konnte.
Im „Tal der Könige“ drangen wir schließlich in die, sich tief unter der Erde ausbreitenden, prächtig bemalten Grabpaläste der Pharaonen ein.
Trotz größter Schutzmaßnahmen wurden sie, bis auf den des Tutenchamun, all´ ihrer Kostbarkeiten beraubt, oft sogar einschließlich der vergöttlichten Mumien.
Paradox und unvorstellbar mag uns nach Jahrtausenden diese Religion mit ihren Jenseitsvorstellungen erscheinen…für die Ägypter und ihre Gott gleichen Herrscher war er der eigentliche Sinn des Lebens. Jeder, der nur irgend die finanzielle Möglichkeit hatte, sorgte für sein schönes und bequemes Weiterleben. Nur darauf konzentrierte er sich und das komplizierte Ritual der Mumifizierung stand im Mittelpunkt allen Strebens.
Doch warum wurden dann, trotz frommen Glaubens und der Heiligkeit der Pharaonen, deren Gräber ausgeraubt?
Alles, was an Schätzen in den Totenstädten aufgehäuft worden war, stammte von der Elite, den Würdenträgern Ägyptens…
Wie immer und überall und zu jeder Zeit existierte die große Schar der Bauern, Arbeiter, der schuftenden Handlanger anonym und vergessen im Dunkel ihrer Namenlosigkeit. Von ihnen zeugte nichts, sie blieben verschollen und konnten sich kein teueres Domizil für das „Nachher“ leisten.
Ihnen gehörte nur das „Jetzt“ und um das zu verbessern, nahmen sie den Fluch der Gottlosigkeit, wohl in Kauf.
Wenn auch Gold und Kunstwerke aus den unterirdischen Totenhallen verschwunden waren, der Glanz der bemalten Wände und Decken leuchtete auch nach Äonen noch in farbenfroher Üppigkeit.
Zurück von einer der Besichtigungen in der „Unterwelt“, entdeckte ich, abgestellt in einer Ecke, eine verschrumpelte Mumie.
Als unbedeutendes Objekt, mit dem scheinbar niemand etwas anzufangen wusste, lehnte sie hier als Müll der Zeit und dämmerte in ewigem Schlaf vor sich hin.
Welcher lebendige Leib steckte wohl irgendwann, in dieser präparierten Hülle? Fragte ich mich..
Die meisten unserer Gruppe bemerkten das runzelige Relikt gar nicht, zogen eilig weiter zum nächsten Eingang in die Tiefe.
Ägypten – ein Land vom Nil gespeist und am Leben erhalten – dahinter Wüste, nichts als Wüste!
An seinen Ufern blühte das Leben auf, sein Wasser befruchtete die Erde, schenkte auf schmalem Streifen üppige Vegetation, ließ eine einzigartige Kultur entstehen.
Ein Schicksalsfluss, nach dessen Ursprung gesucht und geforscht wurde, bis man seine Quelle endlich im Innern Afrikas entdeckte.
In unserem Jahrhundert durch den Staudamm vergewaltigt, bringen seine Wasser, Segen und Fluch zugleich…
In einer der spärlichen Ruhepausen, die uns für wenige Stunden auf der Nilinsel Elephantine genehmigt worden war, träumten Kurt und ich im wundervollen Hotelareal davon, noch einmal dieses Land besuchen zu dürfen – ohne Uhr, ohne abendliche Referate.
Über uns im dichten Blattwerk der Bäume versteckt, zwitscherte ein Heer von Vögeln ihr fröhliches Lied.
Die Wüstenberge im Hintergrund, in denen auch Aga Khan sein Haus hatte, glühten rötlich in der untergehenden Sonne, während auf der anderen Seite des Flusses, sein monotones Gemurmel die friedliche Melodie zum Garten Eden, beisteuerte.
Zurück in Kairo gehörte der vorletzte Tag unseres Aufenthaltes den Zentren des Islam, vor allem der Al Azhar-Moschee und der ihr angeschlossenen Universität.
Die Moschee, Keimzelle der Hochschule wurde 970 begonnen und immer wieder erweitert, nahm mit 5 Minaretten und 6 Portalen einen gewichtigen Platz im Wirrwarr der Stadt ein.
Vom großen Hof betraten wir sie barfuß und befanden uns danach in einer Art „heiligen Hain“ von schlanken Säulen. Sie waren die Hauptattraktion in diesem Weltzentrum islamischer Traditionen. 140 Marmorsäulen – etwa 100 davon stammten aus der Antike – trugen die fast 3000 m große Holzdecke des Sanktuariums.
Fast jeder Regent in Kairo hatte dieser „Blühenden“ – so der Beiname des Gotteshauses – eine Knospe zugefügt.
Nach gebührender Bewunderung verließen wir diese stille Oase durch das „Tor der Barbiere“ – früher ließen sich hier Studenten rasieren – kämpften uns zu Fuß durch ungepflasterte Straßen voll Unrat und Schmutz, die zudem wegen des ständig einfallenden Wüstenwindes mit Wasser besprengt worden waren, zu zwei weiteren Zeugen des Islam durch.
Als krönender Abschluss des Programms empfing uns dann, die zur Moschee gehörende Universität, die sich im Stadtviertel Nasser-City ausbreitete.
Sauber, gepflegt, mit breiten Straßen und Gehsteigen, eleganten Geschäften, Banken, etc. ausgestattet, wies dieses Viertel neben dem orientalischen Kunterbunt, Kairo endlich auch als moderne Metropole aus.
Der Rektor, ein einflussreicher Scheich des Institutes, das mittlerweile zum geistigen Mittelpunkt des Islam herangewachsen war, gewährte uns in seinem Gemach ein würdevolles Interview. Dazu wurden wir Damen der Gruppe mit Kopftüchern versehen und ein Dolmetscher übersetzte Fragen und Antworten.
Am Nachmittag ging es nochmals ins Goethe-Institut zu einem letzten Referat über den „Islam und die Wissenschaft“, denn letztere wäre dieser Religion als „heilige Pflicht“ auferlegt worden.
Was hatten demnach die Araber alles erfunden….
Seekarten, Algebra, erste selbständige Apotheken, arabische Zahlen, die Null, Dezimalzahlen, Logarithmen…
Schließlich wurde auch das Thema „Frauen“ angesprochen und da hieß es, dass gerade der Islam für deren Rechte gesorgt hätte, sie wären nämlich das „Oberhaupt“ der Familie, während man Mädchen in vorislamischer Zeit oft lebendig begraben hätte.
Und an diesen Idealzustand im Islam sollten wir glauben??
Zwar hatten auch die Christen keine reine Weste, doch haben sie sich in der Neuzeit gemäßigt, während die Moslems wie vor Urzeiten ihr Patriarchat gegenüber den Frauen, wie ihren Augapfel hüten. Parolen wie „Blutrache“, wenn Frauen unfolgsam sind, „heiliger Krieg“, „Ungläubige“ gehörten auch heute noch zum Vokabular dieser Religion.,
Am letzten Tag durchstreiften wir dann noch Alt-Kairo, das einstige Fustat, aus dem sich die heutige Stadt entwickelt hatte.
Beim Besuch des koptischen Museums, das interessante Relikte barg und der Sergiuskirche, mussten wir wieder Steine und Baustellen queren, stolperten an herum lungernden Menschen vorbei und waren deprimiert über das verwahrloste Viertel, das dem Verfall preisgegeben schien. Hier traten auch die negativen Folgen des Staudamm-Baues – durch Grundwasser beschädigte Fundamente – ans Tageslicht.
Damit war dann unser Pensum ordnungsgemäß komplett abgehakt und der Nachmittag durfte, ohne Reue, verbummelt werden.
Wir weihten ihn dem Ägyptischen Museum und dessen grandiosen Kostbarkeiten.
Manches entdeckten wir bei diesem nochmaligen Streifzug neu, anderes zeigte sich nun unter anderer Perspektive.
Plötzlich tippte uns ein Polizist auf die Schulter, animierte uns, in einen per Vorhang abgedeckten Raum hinein zu spähen und lüftete diesen sogleich um einen Spalt. Hier läge nämlich die Mumie des großen Ramses II.
Obwohl in diesem abgedunkelten Gemach, das einer Rumpelkammer glich, nichts auf die Anwesenheit des verblichenen Pharao hindeutete, forderte die Amtsperson ein ägyptisches Pfund als Bakschisch.
Für ¼ Pfund wurden wir den Polizist schließlich los.
Beim anschließenden Drink im Hotel – Bier zählte in Ägypten zu einer Luxusstärkung – stellten wir bei Bezahlung fest, dass sich der Ober sehr zu seinen Gunsten „verrechnet“ hatte, was eine unliebsame Diskussion nach sich zog.
Vielleicht war es also doch angebracht, dass wir uns dieses Mal unter die Fittiche einer „Organisation“ begeben hatten. Nur wenige Flugstunden von Europa entfernt, blieb uns halt der so schnell zu erreichende „Nahe Osten“ trotz seiner Faszination, recht fern und fremd.
Nichtsdestoweniger plädierte Kurt für unsere nächste, große Reise – die nach Indien führen sollte – wieder für einen Alleingang unter eigener Regie.