1954 Feldkirch/Vorarlberg

Gemächlich wälzte sich der Fluss ILL, immer wieder über Gestein stolpernd, vom österreichischen Vorarlberg dem Land der Eidgenossen – der eigenwilligen, eigenbrötlerischen Schweiz – zu, die ihr Alpenterritorium geschickt und sogar Gewinn bringend, aus dem jämmerlichen Kriegsspektakel herauszuhalten, vermochte.

Stolz und ein wenig herablassend blickte die Bergkulisse des „Hohen Kasten“ auf das „Ländle“, diesem, sich hinter dem Arlberg ausbreitenden westlichsten Anhängsel, der ehemaligen Donaumonarchie.

Nicht mehr ganz österreichisch, aber auch noch nicht der Schweiz zugehörig, führte es ebenfalls ein eigensinniges, etwas widerborstiges Dasein innerhalb der alten und neuen Republik, blieb ebenfalls zumindest von den äußerlichen Verwüstungen, des Krieges einigermaßen verschont.

Genau an einer dieser Verbindungsstraßen zum hochmütigen Nachbarn, wo vor dem Damm des Flusses ein schwindsüchtiges Wäldchen seine Existenz behauptete, hatten wir in einem neu gebauten, noch nicht ganz fertigen und unverputzten Haus unser Übergangs- – für meine Eltern das Hauptquartier, aufgeschlagen.

Nicht in Bregenz und nicht durch die lieben, unbekannten Verwandten, sondern durch einen simplen Makler, dem wir außer einer angemessenen Bezahlung, zu nichts verpflichtet waren.

In einer großen Wohnküche und 3 kleinen Zimmern spielte sich nun für unsere Familie nach dem Aufbruch aus Wien, der 1. Akt der zweiten Hälfte dieses so arg geschundenen Jahrhunderts ab.

Während der Fluss – sein ursprünglich keltischer Name bedeutete so viel wie „eilig“ – sich nach seiner Geburt in den eisigen Höhen der Vorarlbergischen Silvrettagruppe – nach 72 km dem Rhein einverleibt, folgten wir fast täglich seinem Lauf nach rückwärts zum nahen Städtchen Feldkirch – dem unser Distrikt eingegliedert war – und das uns von den Jahrhunderten unangefochten – ein perfektes mittelalterliches Antlitz präsentierte.

Als „Schulstädtchen“ klassifiziert, wurde es auch nach der ersten Grundschulklasse in Wien, für Töchterchen Karin der Hort beginnender Gelehrsamkeit.

Also spazierte sie – zunächst in Begleitung – pflichtgemäß den halbstündigen Fußweg durchs schüttere Wäldchen neben der Strasse, wo der Fluss, dessen Kraftquelle durch 2 Stauseen im Hochgebirge und 6 Wasserwerke genutzt, noch gemütliche Begleitmusik lieferte, zur von mächtigen Felsen beherrschten Illbrücke. Da entfaltete er plötzlich tosend sein gewaltiges Potential, wehrte sich gegen die Barrikade dieser Schlucht aufmüpfig brausend und beruhigte sich erst wieder an der Peripherie der Stadt. Ein letztes Hindernis, das ihm von der Berglandschaft auf seinem Lauf von der Gletscherwelt zum Vater Rhein auferlegt worden war.

Vor seinem Ziel am Illspitz, verdichtete sich der Wald, Auen dehnten sich an seinen Ufern und die Weite der Rheinebene drängte die Gebirgsketten als Rahmen-Erscheinung, ein wenig in den Hintergrund.

Wie Puppenstuben hatten sich kleine Dörfer in das nun flachere, freundliche Porträt eingenistet und jedes von ihnen wartete mit seiner eigenen oft Jahrhunderte alten Geschichte auf. Wie z.B. ganz in unserer Nähe Tosters, das als Toste oder Tosti bereits 1045 in den Annalen auftauchte und zu dem auch die wenigen Häuser – wie das „unsere“ an der Straße zu zählen waren.

Weite Landschaft, wenige Menschen – welch´ Unterschied zu Großstädten!

Ein Eldorado für Karin, mit Kindern aus der Umgebung hier herumzutollen.

Auch meine Eltern empfanden das freie Leben im unteren Stockwerk eines Zweifamilienhauses als äußerst bequem und angenehm und da die glorreiche Geschichte der alten Stadt eine Zeitlang eng mit dem Habsburgerreich verbunden war, fühlte sich auch Vater hier wohl und zufrieden.

Pfiffig wie stets, hatte Mutter unsere zwei Wiener Wohnungen meistbietend an gute Bekannte verschachert und so den Grundstock für ein Logis im westlichen Bundesland geschaffen, sodass uns beiden, zum Ärger von Kurt, nicht einmal Zeit für eine zünftige Abschiedsfeier in von Wien blieb. Ehe ein neues Domizil gefunden war, hatte auch Vater bereits meine umfangreiche Bibliothek und anderes Inventar umzugsbereit verpackt.

Wir hatten uns also zu sputen und benutzten jedes Wochenende für die dieserhalb schleunigst zu tätigende Wohnungssuche. Ich verbrachte diese Zeit bei Kurt in seinem möblierten Zimmer, wieder war es dabei ein wenig eng, aber das hatten wir ja während der ersten Monate unserer Ehe, in meinem Kabinett, bereits trainiert.

Eine kleine Extra-Episode hätte Mutters raffinierten Clou dann beinahe zum Scheitern gebracht.

Der kaufmännisch versierte Kurt hatte mit dem etwas schludrigen Vermieter der Neubauwohnung ohne Bad und großem Komfort, einen ihm angemessen erscheinenden Mietpreis, in Anrechnung der Kaution per Vertrag ausgehandelt, der mit beiderseitiger Unterschrift besiegelt worden war.

Doch der dickschädelige, bauernschlaue Vorarlberger, nicht gerade ein Genie in schnellem Denken, schockierte plötzlich, als das gesamte Mobiliar bereits Richtung „Ländle“ unterwegs war, uns Umsiedler, mit einem kategorischen „Nein“ und verweigerte die Herausgabe der Schlüssel.

„Nicht zu diesem Preis, höher müsste er sein…“

Nach einer schlaflosen Nacht für mich, die ich von Seiten Kurts für das ganze Abenteuer die Verantwortung aufgehalst bekam, fand alles doch -zu einem höheren Preis – ein Happy-End.

Wir zogen in die Parterre-Wohnung am Ill-Fluß ein und glücklicherweise blieb das Einzugs-Debakel für viele Jahrzehnte der einzige Streitpunkt zwischen uns und dem Vermieter-Paar, mit dem sich später sogar eine Art Freundschaft entwickelte.

Kurt und mir bescherten indessen die verflossenen Jahre ein bunt schillerndes Nomadenleben.

Zwischen dem Einzimmer-Heim in Feldkirch und einer Mietbude in Ulm war besonders Kurt laufend und ich fallweise unterwegs.

Strapaziös manchmal, doch abwechslungsreich, öffnete es unseren Blick für Menschen anderer Mentalität, für eine andere Welt, dessen Kulisse mit einer überwältigenden Großartigkeit ausgestattet war und daher auf dem Atlas unseres Planeten, einen Fleck der Spitzenklasse darstellte.

Vielleicht genossen wir nach Wien, gerade diesen ersten Akt „Vorarlberg“ auf der Bühne unseres Lebens ausgiebig und erhoben ihn zu einer prägnanten und besonders einflussreichen

Szene im Verlauf allen weiteren Geschehen. Kurt hatte bald nach Eintritt in die alte Berufssparte in Ulm erkennen müssen, dass alle die Telegramme mit ihren Angeboten und Versprechungen nicht das bieten würden, was er erwartet hatte und daher Ulm kaum ein „Sitzplatz“ auf Lebenszeit werden dürfte.

Trotzdem musste nach 3 Jahren Pendelbetrieb zwischen Ulm und dem Ländle wieder an Sesshaftigkeit – wenn auch nur auf Zeit – gedacht werden, schon im Hinblick auf Karins schulische Karriere. Dem einen Jahr Grundschule in Wien, konnten getrost drei weitere in Feldkirch folgen, aber die Oberschule sollte sie in Deutschland absolvieren, denn an ein endgültiges „Zurück“, war trotz österreichischer Staatsbürgerschaft nicht zu denken. Man kann Berufe nicht wie Hemden wechseln und daher musste Kurt versuchen, den gewählten Pfad kontinuierlich weiter zu wandern.

Natürlich würde diese Dreiländerecke Vorarlberg – das Mammutgewässer Bodensee teilten sich offiziell Österreich, die Schweiz und Deutschland – mit dem Mini-Staat Liechtenstein waren es sogar Vier, ganz gleich, wo es uns einmal hin verschlagen sollte, als Standbein bestehen bleiben. Verschiedene Wege führten von Feldkirch sowohl nach Liechtenstein wie in die Schweiz und die Grenze war jeweils zu Fuß erreichbar. Für uns so lang Isolierte, höchst vergnüglich, dahin zum teilweise zollfreien „Hamstern“ zu spazieren.

Von diesem Dreieck öffneten sich die Tore zu Europas Vielfalt und der Mythos Feldkirch würde für uns nie etwas von seinem schwerfälligen Charme, den seine Türme, Tore und vor allem die Burg ausstrahlten, verlieren. Trotz allen Stürmen der Zeit, wie z.B. Pest, Feuer, Überschwemmung, die Schrecken der Inquisition und Hexenwahn, Kriegen etc. auch an seinen Mauern rüttelten, die Stadt hatte überlebt und ihre Atmosphäre an nachfolgende Generationen weiter gegeben.

1390 wurde die Schattenburg, der Sitz der Grafen von Montfort, an das Haus Habsburg verkauft…

Von einer Wanderung über den Ardetzenberg, dessen grüner Höhenrücken die Stadt wie ein Schutzwall bewachte, stiegen Kurt und ich an einem der gemeinsamen Wochenenden hinunter in die Gassen der Stadt, um uns in dem alten Gemäuer der Festung noch einen „Schoppen“ zu genehmigen. Wie ein Magnet zog uns diese Burg immer wieder an.

Still und friedvoll, ohne den lebhaften Betrieb der Gegenwart erzählten an solchen Samstagabenden die alten, wehrhaften Patrizierhäuser der Neustadt – der ältesten Strasse Feldkirchs – und der Marktgasse von ihrer Vergangenheit. Die mächtigen Quadern der Mauern reichten über die Arkaden hinweg bis zum Kopfstein gepflasterten Fahrweg und auch die attraktiven Geschäfte, die sich in den Erdgeschoßen dieser „Lauben“ installiert hatten, waren dann verschlossen, offerierten aber in den Schaufenstern ein durchaus modernes Warenangebot.

Ehe in der Neustadt der Blick das mächtige Portrait der Schattenburg auf einer Anhöhe einfing, deutete ein Brunnen mit Ritterstandbild auf Zweck und Bestimmung der trutzigen Feste auf dem Hügel hin.

Ein besonders attraktiver Erker in der Neustadt, kunstvolle Wirtshausschilder und immer wieder kleine Steinfigürchen, Zeugen christlichen Glaubens in der Marktgasse, an deren Ende ebenfalls ein von Blumen überquellender Brunnen sprudelte, gestalteten den Bummel durchs Städtchen zur Augenweide.

Die Grafen von Monfort, die diese im 11. Jh. erbaute Burg als Stammsitz gewählt hatten, rückten den mächtigen Baukomplex und die Stadt zu ihren Füßen ins Licht der Geschichte.

In freudiger Erwartung erklommen wir dieses Wahrzeichen, das zugleich Schutzheilige der Stadt geworden war, an jenem Samstag, würdigten aufatmend den prächtigen Blick auf die Schweizer Berge vor dem Eingang und betraten den idyllischen kleinen Hof, der als geschlossenes Ensemble, jeden Ankömmling entzückte.

Eine Holztreppe führte zu den oberen Stockwerken, die sich zu Balkonen weiteten.

Altes Mauerwerk mit schmalbrüstigen Fenstern und Holzeinlagen veredelte anheimelnd und warm den Beton und vereinigte sich so zu einem harmonischen Gemälde.

Dazu plätscherte aus 4 Röhren eines Brunnens in der Mitte, die ewige Melodie der Zeitlosigkeit. Grünpflanzen belebten rundum den Hof und die Mitte des Wasserspenders.

„Welch´ ein friedliches Milieu“, bewunderte ich das mittelalterliche Flair. Die alten Ritter verstanden zu leben!“

„Leider nur die. das einfache Volk hauste in weniger komfortablen Ambiente…“ dämpfte Kurt meine Begeisterung und öffnete das schwere Tor zum großen Rittersaal.

„Ach, zerstör´ mir meine Träume nicht! Wer käme da nicht ins Schwärmen, wo soviel sichtbare Vergangenheit die Gegenwart verdrängt…“ verteidigte ich meine nostalgischen Anwandlungen als wir an den schweren Balken vorbei, zwischen holzgeschnitzten, behäbigen Stühlen und Tischen hindurch, zielbewusst „unserer“ Nische zustrebten. Glücklicherweise war sie nicht besetzt…

Es handelte sich um die mittlere, 3 m tief in die Burgwand eingelassene Nische, die sich zu einem schmalen Fenster mit Butzenscheiben hin, verengte. Zwischen den eingearbeiteten Bänken fand gerade noch ein langer Tisch Platz und von der gewölbten Decke baumelte als Maskottchen ein ausgestopftes Krokodil . Ein gemütliches, zur Saalmitte hin, offenes Separee also, von dem aus man das ganze Lokal und sein ungewöhnliches Fluidum, als Zuschauer überblicken konnte… die verwitterten Balken, auf denen Inschriften und Symbole aufgemalt waren… Geweihe, Lanzen, ein Leuchter mit eingearbeiteter Gottesmutter und den monströsen Ofen mit leuchtend grünen, von Reliefs geschmückten Kacheln, dem eine ebenso voluminöse weiße Haube, mit dunklen Noppen aufgesetzt war…eben die ganze originale Ausstattung, die die Ritterherrlichkeit dem Heute plastisch übermittelte.

Der Wirt, der uns gut kannte, da die gesamte Familie sich an vielen Sonntagen zum „Schnitzelessen“ hier einfand – sie waren herrlich dünn, groß wie der Teller und die besondere Spezialität der Schlossküche – stellte uns gleich 2 Schoppen Wein auf den Tisch.

„Was wäre Feldkirch ohne die Schattenburg“, seufzte ich und warf einen Blick hinunter auf die etwas verschwommene Silhouette der Stadt.

„Dabei war es nur ein glücklicher Zufall, der sie vor dem Verschwinden bewahrte und zum Wahrzeichen und der Schutzpatronin erhob“, erinnerte Kurt an das Geschick, das dieses prächtige Monument Anfang des 19.Jahrhunderts bedrohte.

„Ich weiß, ich weiß…“ unterbrach ich ihn.

„Damals unter der bayrischen Regierung war sie so verkommen, dass man sie durch Versteigerung loswerden wollte und dem Käufer sogar gestattete, sie samt und sonders abzureißen. Und nur weil bei einem Abbruch, die verbleibenden Materialien, den Kaufpreis nicht gedeckt hätten, blieb sie vom Untergang bewahrt…“ ergänzte ich stolz über meine Information darüber. „Darnach kaufte sie 1825 die Stadt Feldkirch…“

„Für 833 ½ Gulden…“ fügte Kurt hinzu.

„Schon schicksalhaft, wie die Dinge oft verlaufen und niemand weiß, ob wirklich nur der Zufall als Dirigent des Daseins fungiert oder andere unbekannte Kräfte seinen Lauf regulieren…“

„Ein wirklich „gläubiger“ Mensch, hat damit keine Probleme“, mahnte Kurt, hob sein Glas, in dem golden glänzend ein Wein aus den sonnigen Hängen der Donau in der Wachau, funkelte. „Und denk´ daran, wie Du beim Umzug unserer Möbelage nach Ulm vorzugehen hast, damit kein Ausreisevermerk im Pass aufscheint und der daher weiterhin gültig bleibt. Auch wenn er in Zukunft nur in der Schublade herum gammelt und wir als Deutsche durch die Welt pendeln, ist es beruhigend ein zweites Pferd in Österreich stehen zu haben, das jederzeit auf Trab gebracht werden könnte…

„Ja, ja“, bestätigte ich, obwohl mir ganz schön angst und bange beim Gedanken an das Unternehmen „Umzug“ wurde.

Die neue Wohnung in Erbach bei Ulm, mit 4 Zimmern und einem Bad – das allerdings beheizt werden musste – in einem Zweifamilienhaus, wartete bereits auf Inbetriebnahme.

Eine Menge Anschaffungen würden notwendig sein, um das Vakuum, das uns der Krieg aufgezwungen hatte, zu füllen und so war auch für mich in Ulm wieder Berufstätigkeit angesagt.

„Spazieren wir Morgen wieder einmal auf die „Egg“, lenkte ich von den bevorstehenden Veränderungen ab, denn diese kleine Wanderung gehörte außer der Stadt Feldkirch, zu unseren bevorzugten Wochenend-Ausflügen. Zu Hochtouren, wie sie z.B. zu den „Drei Schwestern“, konnten wir uns bisher nicht aufraffen. Als schroffe Felsgruppe präsentieren sie einen der pittoresken Hintergründe der Stadt und waren ebenfalls ein markantes Wahrzeichen.

Kurt nickte. Auch ihn verlockte diese Alm, auf der ein einziges kleines Anwesen mit Gasthof, zu einem zünftigen Frühschoppen einlud und Hänge voll saftig grüner Wiesen vor dem majestätischen Gebirgspanorama der Schweiz, friedvolle Beschaulichkeit ausstrahlte. Keineswegs so abgelegen, aber doch weit weg von allem städtischen Betrieb war sie so recht geeignet, um auf dem Balkon eines einsamen, kleinen Kapellchens den Blick über die Rheinebene zum Hohen-Kasten-Massiv wandern zu lassen oder in dieser weltfernen Stille, eigenen Gedanken nachzuhängen…oder vielleicht auch den schmalen Pfad nach Liechtenstein zu verfolgen, dessen Grenze früher streng bewacht, sich jetzt mehr und mehr im Umfeld verlor.

Und nicht nur die „Egg“ selbst bot Natur pur, auch der Weg dahin führte über Zeugen der Vergangenheit, wie z.B. das uralte Kirchlein St. Corneli mit einer 1000-jährigen Eiche als Nachbarschaft…oder ein Stück weiter Richtung Tosters, wo der Bergfried, der dort einst vorhandenen Burg der Grafen Montfort, als mächtiger Klotz einsam, inmitten von Wäldern, von früheren Zeiten träumte. Gerüchte erzählen von einer unterirdischen Verbindung dieses

zugewachsenen Geländes, in dem nur noch der Turm sein Dasein fristete, zu der in Luftlinie gegenüber liegenden Schattenburg, doch genaues darüber, wusste niemand zu berichten.

Als der Tag sich langsam zu verabschieden begann, die Sonne sich auf ihren Untergang vorbereitete, rüsteten auch wir uns für den Heimweg…hinunter in die Stadt… durch die Lauben…durchs Churertor zur Illbrücke, wo uns der Fluss wie stets seine aggressive Schulter zeigte und durchs schüttere Wäldchen zum Haus Nr. 61, unserem bescheidenen, aber gemütlichen „Übergangsquartier“, für das sehr bald die Abschiedsstunde schlagen würde.

Natürlich nur für Karin und uns, doch meine Eltern, die sich im Pensionsalter für eine neue Heimat entschieden und sie gefunden hatten, würden trotzdem in Erbach bei Ulm als sehr geschätzte und benötigte Stammgäste einziehen. Eine lebendige Klammer also auch für uns, zum so liebenswerten „Studierstädtle“, in Zukunft. Dieses bescherte Karin allerdings noch einen recht beschwerlichen Abschied.

Um in Ulm die Oberschule besuchen zu können, war eine Aufnahmeprüfung vorgeschrieben und da auch die Schulen in Deutschland und Österreich nach der Liquidierung des Deutschen Reiches getrennte Wege gingen, hieß es für Karin, bereits nach 3 ½ Jahren Grundschule, ins Gymnasium zu wechseln. Eine Mammutaufgabe für unsere Tochter : statt Ferien genießen, lernen, lernen und nochmals lernen…und da außer Karin auch die Schule in Feldkirch ehrgeizig war und ihren Stolz hatte, half die Feldkircher Klassenlehrerin mit beim „Pauken“, sodass auch diese Hürde mit Bravour genommen werden konnte und Karin als Jüngste im Ulmer Klassenmilieu gnädige Aufnahme fand.

Ein Ereignis vor dem Start in einen neuen Lebensabschnitt, das wie alle Festlichkeiten in unserer Übergangsheimat stattfand, muss unbedingt erzählt werden : Karins Firmung, verbunden mit einer ersten großen, gemeinsamen Reise.

Kurt besaß zu dieser Zeit bereits einen zwar betagten, aber gut funktionierenden VW-Käfer, nach dem das vorherige ebenfalls uralte Vehikel aus Gründen drohenden Zusammenbruchs, aufgegeben werden musste. Schließlich lebte man in Zeiten des Aufbruchs und die Wochenend-Bahnfahrten Ulm – Feldkirch waren bald durch ein etwas ausgemergeltes Motorrad ersetzt worden, was sich aber vor allem im Winter als höchst strapaziös und etwas gefährlich erwies.

Zu jener Zeit war man also bereits ziemlich beweglich!

Ein Unternehmen zu Ehren Karins, das aber uns alle und besonders meinem Vater, einen lang gehegten Wunsch erfüllte.

Rom… die ewige Stadt…das Symbol der Christenheit – es zu besuchen, war jedem Katholik ein inneres Verlangen, ähnlich wie die Pflicht der Moslems nach Mekka zu pilgern.

Bei Kurt und mir nicht ganz so ausgeprägt, aber dafür bewahrte diese Stadt, die schon lange

bevor der Mann aus Jerusalem seine Friedensbotschaft über die Welt ausstreute, auch eine große Menge Zeugen ihrer einstigen Macht und Größe bot.

Nach dem in der gotischen Pfarrkirche in Feldkirch, nach katholischem Ritus vollzogenen Sakrament der Firmung, wurde die Familie in das in hellem Grün, wie die Frühlingswiesen rundum hoffnungsvoll strahlende, Statussymbol Auto, bestmöglich verstaut und los ging es…, der Arlberg, der Brenner wurden mit Elan überrollt und für die erste Überachtung empfing uns das von Hitler so schmählich an Mussolini verschenkte Südtirol; eine Region, die zwar schon durch den 1. Weltkrieg abhanden gekommen war, der aber die Wiener Zentrale und die Bevölkerung immer noch als zweiten Teil eines Ganzen nachtrauerten. Inzwischen kämpfte diese südliche Hälfte verbissen, um wenigstens eine akzeptable Autonomie.

Erst nach dem Verlassen der Alpenketten und Eintritt in die sonnenüberfluteten Gefilde des ureigenen italienischen Territoriums, verebbte die Empörung über den Verlust und auch mein Vater vergaß angesichts der zauberhaften Landschaft, in die wir immer tiefer hinein glitten,

den Verrat der „Katzelmacher“ im ersten Weltkrieg.

Als Rom erreicht war, sprudelten bei ihm – zwar kontrolliert – die Emotionen besonders hoch, doch er musste sich gedulden, denn zuerst waren die Ruinen, Säulen und traurigen Überbleibsel einer heroischen Zeit und dessen Sinnbilder für den Herrschaftsanspruch des römischen Imperiums über fremde Völker, an der Reihe.

„Herren…Herrschaft… wohlbekannte Vokabel, die noch verhängnisvoll in unseren Ohren klangen und wohl nie aufhören würden, über den Erdball zu rotieren.

Um sich das Zentrum des alten Rom – das Forum Romanum – zu vergegenwärtigen, wurde unsere Phantasie arg strapaziert. Das Kolosseum dagegen, trieb auch als ausgehöhltes Mauerwrack kalte Schauer über den Rücken.

Sein Zerfall legte die 7 m hohen Kellerräume frei, in denen das Material an Mensch und Tier für eines der blutigsten Spektakel der Geschichte deponiert war.

Blut klebte an den Steinquadern, Blut war die fließende Delikatesse, an der sich die 45.000 – 50.000 Zuschauer auf den Sitz- und den zusätzlichen Stehplätzen bei den 100-tägigen Spielen ergötzten. Töten als amüsanter Wettkampf!

Man meinte noch die Schreie der Gemarterten, den gröhlenden Jubel des Publikums zu hören….

Bis ins 6. Jahrhundert hinein wurde diese Arena der Grausamkeiten benutzt…

Welchen Kontrast dazu, boten dagegen die erhabenen Kunstschöpfungen, die diese Stadt Jahrhunderte nach dem Untergang des römischen Weltreichs hervorbrachte: über 600 Kirchen als Werk der Päpste!

Alle mit hervorragender Ausstattung.

Ein neues Imperium, nach dem Niedergang des Alten!

Von diesen Zeugen christlichen Eifers konnten wir natürlich nur eine winzige Kostprobe absolvieren…Schwerpunkt war dabei der Vatikan mit dem Petersdom.

Ein Gigant an Größe und Pracht!

Seit 1924 verkörpert der Vatikan einen völlig unabhängigen Staat im Staate und wird mit allen Befugnissen einer absoluten Monarchie, vom Papst regiert. Zentrum des Katholizismus!

Die Schätze in den Museen blendetenn und verwirtren durch ihre Vielfalt und Pracht; waren Augenweide und weckten gleichzeitig ein seltsames Gefühl der Beklommenheit gegenüber so viel Reichtum und Prunk.

Als letzter Höhepunkt auf dieser Reise stand uns die ferne Begegnung mit dem Papst bevor.

Jeden Mittag um 12 Uhr spendete er hoch oben vom Fenster seines Palastes, den Gläubigen am Petersplatz, den Segen.

Sehr klein wirkte die sichtbare Gestalt dieses Oberhirten von unten, dessen Worte über Lautsprecher die versammelte Menge in unverständlichem Latein erreichte…und wie hypnotisiert lauschte ihm die Pilgerschar, als wäre e r der wahrhafte Bote des Himmels.

Auch wir ließen uns vom Fieber der allgemeinen Verehrung innerhalb der Menschenmenge anstecken und ich versuchte ebenfalls, einen Augenblick des Hochgefühls zu erleben.

Klammheimlich und gegen meinen Willen schlichen sich danach kritische Gedanken in das Mysterium, der von Kind an erlernten, Glaubenswahrheiten…

Was wäre gewesen, wenn jener Mann aus Nazareth vor 2000 Jahren nicht den so erbärmlichen Tod am Kreuz erlitten hätte…Wäre seine Heilsbotschaft dennoch, als eine von zu jener Zeit häufig auftretenden Predigern, in das Bewusstsein der Menschheit eingedrungen und hätte ihre Welt verändert?

Bereits 324 n.Ch. wurde auf dem Areal eines frühchristlichen Friedhofs, auf dem man das Grab des Apostel Petrus vermutete, eine große Kirche errichtet, aber erst zu Beginn des 10. Jahrhunderts wurde mit dem Kolossalbau des heutigen Petersdomes begonnen, der unter den besten Künstlern und Baumeistern, zur größten Kirche der Christenheit heranwuchs.

Rom, die ewige Stadt, inspirierte unsere Gedanken für lange Zeit, weckte Bewunderung für die erhabenen Werke, die Menschenhände zu schaffen vermocht hatten, waren aber auch Anlass zu Fragestellungen für die Bedeutung von Glaube und Religion in unserer Welt. Dass der Katholizismus die allein selig machende Institution darin wäre, wie die Kirche uns lehrt, will mir nicht in den Kopf gehen…ich sehe vielmehr j e d e Religion als einen Hort, der jene höchste Instanz, die Gott genannt wird, hütet, um nicht im unendlichen Kosmos, verloren herumirren zu müssen.