1984 Eltville am Rhein

Rheingau

Auf einer Anhöhe, nicht weit vom Städtchen Eltville, breitete sich das Weindorf Rauenthal aus. Fast am Ende, bevor die Straße hinunter in die Ebene und linker Hand nach Schlangenbad verlief, hatten Karin und Frieder ein schönes, von einem großen Garten umgebenes Haus erworben, in das mich Frieder am 8. Juni, dem wohl denkwürdigsten Tag in meinem Leben, von Hambach abholte.

Dieser Tag begann wie jeder andere, nichts deutete auf eine radikale Veränderung meines weiteren Lebens, hin.

Ich war morgens mit Kurt nach Schweinfurt gefahren, wo er am firmeneigenen Tennisplatz mit einem Kollegen die vorbestellte Spielstunde absolvieren wollte, da ich wegen eines verletzten Fingers dafür ausgefallen war.

Ich wollte während dieser Zeit ein paar Besorgungen für das bevorstehende Pfingstfest erledigen.

Wir vereinbarten einen Treffpunkt um die Mittagszeit vor dem Eingang des größten Kaufhauses der Stadt.

Das Wetter war ein wenig trübe und kühl und erweckte keine Hoffnung auf ein, dem Frühling entsprechendes, Fest.

Pünktlich fand ich mich vor dem Kaufhaus ein und wartete….

Eine Stunde, noch länger…

Ich wunderte mich zwar, wo Kurt denn so lange blieb, hegte aber keinerlei bösen Verdacht…

Bis ein Anruf mich ins Büro des Hauses rief, wo ich die schier unfassbare Nachricht hören musste: Kurt war tot…Herzinfarkt!

Ein Schock…ich konnte lediglich noch bitten, unsere Tochter in ihrer Praxis in Eltville zu verständigen…

Alles was weiter geschah, lief irgendwie ohne mein Zutun und ohne meine klare Wahrnehmung ab…

Nur eines war mir instinktiv bewusst geworden: ich wollte nicht allein in Hambach wohnen bleiben.

So wurde der Rheingau die nächste Station in meinem Wanderleben und meine Tochter und mein Schwiegersohn halfen mir sehr geduldig, diesen einschneidenden Schicksalsschlag langsam…sehr langsam, zu bewältigen.

Der Tod, obwohl er unumgänglich zum Leben gehört, war und ist seit Urzeiten in seiner Endgültigkeit, die unverständlichste, nie begreifbare Konsequenz eines jeden Daseins.

Mein neuer Wohnsitz – der Achte nach Wien – befand sich in einer Art privilegierter Region Deutschlands – dem Rheingau.

Auch meine Mutter war im respektablen Alter von 85 Jahre aus dem „Ländle“, von Karin und Frieder hierher geholt worden.

So war die Familien-Villa, bereichert durch die schwarze Katze Mori und die pfiffige, bildschöne Wolfsspitz-Hündin Puma, ziemlich voll besetzt.

Der Fluss Rhein, schon immer ein Verbindungsglied von Völkern und Interessen, schwang nahe bei uns sein beherrschendes Zepter über die liebliche Landschaft, speicherte alle Wünsche, Hoffnungen, Nöte, Plagen und Träume, die Menschen ihm seit Generationen zugeflüstert hatten, um sie nach 1320 Kilometern Lauf in die Nordsee auszuschütten, in der sie sich in mitleidloser Gleichgültigkeit verloren.

Von Bingen bis Koblenz war ihm das härteste Los beschieden, denn auf diesen 60 km musste er sich durch enge Klippen und widerspenstige Felsen zwängen, die ihn arg zusammen drückten.

20 km davor jedoch öffnete ihm auf seiner rechten Seite das idyllische Städtchen Eltville mit schmucken Fachwerkhäusern, bereitwillig und freundlich ihre Pforten.

Trotz ihrer Kleinheit bereits 1332 zur Stadt erhoben, war es als Schauplatz menschlicher Aktivitäten, jedoch bereits um ein paar Jahrhunderte älter.

Genau oberhalb dieses hübschen Fleckchen Erde, spielte sich nun mein Alltag ab und er war so reizvoll, dass ich auch „daheim“ die Zeit nützte, um die Geheimnisse meiner Umgebung ein wenig zu lüften.

Seit Menschengedenken war der Fluss als „Strasse“ benutzt worden und die verschiedenen Bistümer, Burgherren und Bischöfe des Mittelalters, hatten kräftig Zoll für seine Befahrung kassiert.

In heutiger Zeit beförderte eine ganze Flotte weißer Schiffe ein vergnügungssüchtiges Publikum auf seinem Bett, das sich wie ein silbergrauer Schlangenleib durch die Landschaft wand.

Adrett und gepflegt schmiegten sich Millionen von Weinreben die Hänge hinauf, um sich auf den Höhen mit dem dunklen Grün der Wälder zu vermählen.

Und wie drohende Zeigefinger reckten an jeder Biegung und Kehre die Ruinen einstiger Burgen und Schlösser ihr gespenstisches Gerippe gegen den hellen Himmel, gemahnten an Schicksale, die hier heroisch, fröhlich oder auch tragisch gelebt wurden.

Immer wieder startete ich gern mit einem dieser Schiffe, um verborgene Geschichten dieser weinseligen Gegend aufzuspüren und den Märchen und Sagen zu lauschen, die die Wellen leise wispernd zu erzählen wussten.

Für das flüssige Gold der Reben besonders gerühmt, erschien gar bald, rechter Hand, die erste Attraktion – Rüdesheim.

Es waren die Römer, die die edlen Tropfen den Flussufern vererbten.

Zwar wussten bereits die Sumerer vor 4000 Jahren, dass im Wein verborgene Wahrheiten ihr Unwesen trieben, aber erst über die Phöniker, Griechen gelangte die frohe Kunde zu uns in nach Europa.

Bis zum 11. Jhdt. war das „Binger Loch“, auf der schräg gegenüber liegenden linken Rheinseite, mit seinen Riffen und Stromschnellen ein unüberwindliches Hindernis für Schiffe gewesen, so dass ihre Fracht auf der alten Keltenstrasse weiter transportiert und erst in Lorch wieder auf den Fluss verladen werden konnte.

Reger Verkehr und entsprechende Einnahmen waren also Vorboten des heutigen Touristenbooms, der das Städtchen Rüdesheim nunmehr lawinenartig überrollte. Und zu jeder Jahreszeit wird darin ausgiebig gezecht, gelacht und geschunkelt.

Das nächste, sehr düstere Objekt, dem der Dampfer sich auf dem Rheininselchen „Binger Loch“ näherte, nennt sich „Mäuseturm“ und seine zierliche Eleganz straft die schauerliche Legende, die es brandmarkt, Lügen.

Im 13. Jh. als „Spähturm“ für die Zollburg Ehrenfeld gebaut, soll der hartherzige und herrschsüchtige Bischof Hatto, den seine Untertanen verflucht hatten, vor einer gierigen Mäuseschar, die ihn zur Strafe für seine Untaten verfolgte, hierher geflüchtet sein. Doch die Rachedämonen schwammen ihm nach und fraßen ihn in dem wehrhaften Gebäude einfach auf.

Immerhin, dieser Turm war ursprünglich von einem mit Gewehr ausgerüsteten Wachposten besetzt gewesen, der ein „Muserie“…das altdeutsche Wort für Geschütz, besaß.

Der Dampfer schipperte weiter und da braute sich am linken Ufer ein auffallend schmuckes Häusergewirr zusammen, über dem die Burg Stahleck thronte, die im 11. Jh. ein Besitz der Pfalzgrafen war, die durch den „Rheinzoll“ einträglich im Geschäft lagen. Im 14.Jhdt. hatte das zugehörige Städtchen eine Befestigung mit 7 Türmen erhalten, die alle Unbill der Zeit bis heute überdauerten.

So überaus spektakulär herausgeputzt, schmeckte schon sein Name nach dem köstlichen Erbe der Römer und dem ihm zugeordneten Gott Bacchus.

Tatsächlich lag unterhalb dieser Stadt Bacherach, eine grüne Insel im Rhein und rechts von ihr ein Stein, der den Namen Ara Bacchi oder „Altar des Bacchus“ trug – sichtbar allerdings nur bei Niedrigwasser.

Sollte der sinnenfrohe Gott wirklich Namensgeber gewesen sein, so dankt es ihm sein „Kind“ jedenfalls durch besonderen Liebreiz.

Und schon drängte sich rechts, ebenfalls auf einer Insel, ein mächtiges Kastell an unserem Schiff vorbei, so nahe, dass wir es beinahe mit Händen greifen konnten.

Die Inselfestung der „Pfalz Grafenstein“ und ihr gegenüber, am Ufer, das Städtchen Kaub mit der Burg Gutenfels.

Ebenfalls höchst bejahrt, 983 dem Erzstift zugehörig, dann Besitz der Herren von Falkenstein und bereits 1277 an die Rheinpfalz verkauft, womit die Geburtsstunde für das wuchtige, Ehrfurcht gebietende Bauwerk im Fluss, geschlagen haben dürfte.

Diese Pfalz hatte ihrem Zweck, als Vorposten des Städtchens samt Burg, Ehre gemacht…eine Belagerung überstanden und an dieser Stelle hatte auch der preußische Marschall Blücher mit seinen Mannen 1813/1814 den Rhein überschritten, um die Verfolgung Napoleons aufzunehmen.

Ganz schön turbulent, was der Fluss an Strapazen nicht nur durch die Umklammerung von Riffen auszuhalten hatte, auch die Menschen machten ihn durch ihre ständigen Gemetzel und Kriege zum Mitwisser unsinniger, oft gemeiner Machenschaften.

Burgen und Städte gehörten mal diesen, mal jenen Kleinstaaten und Burgherren. Auch Raubritter benutzten ihn für ihre Diebeszüge und sein zauberhaftes Panorama blieb weder von den Wikingern, noch den Hunnen und anderen wilden Herden verschont.

Aus dem Bordradio erklang plötzlich, ein wenig krächzend, aber wehmütig und zu Tränen rührend ein Lied, das seit Heinrich Heine, als rheinischer Bestseller, aller Welt bekannt geworden war.

Die traurige Mähr von der überirdischen Schönheit der Jungfrau Lore Ley, die auf jenem Felsen, den wir eben passierten, ihr goldenes Haar gekämmt hatte.

132 m und fast senkrecht erhob sich dieses Schiefermonster aus dem Fluss und die Schiffer, betört von der schönen Maid und ihrem lockenden Gesang, achteten nicht mehr auf die Gefahren des hier zu seiner schmalsten und tiefsten Stelle zusammen gepressten Wassers und wurden von seiner furiosen Kraft und den Klippen in den Tod gerissen.

Bis ins 19.Jh. hinein galt diese Passage als Abenteuer, vor dem die Schiffsmannschaft durch drei Glockenschläge, zum Gebet aufgefordert wurde.

Schon im frühen Mittelalter schallten „Geisterstimmen“ von dem mysteriösen Felsen, da sein vorzügliches Echo sich als „Spuk“ weithin verbreitete.

Ach, es gäbe noch so viel zu erzählen von diesem größten Fluss Deutschlands und seinen Schlössern, Burgen und seinem Wein, von denen Dichter inspiriert und Wanderer an seinen Ufern, zu schwärmerischen Träumereien verleitet wurden .

Doch unsere Erde, eines der vielen winzigen Staubkörner im All, ist ja so groß, dass zumindest einen kleinen Teil davon zu erkunden, für mich immer wieder eine große Verlockung darstellte, die mich auch an diesem schönen Fleck, förmlich zum Reisen zwang…..

So unternahm ich manche anstrengende Tour in ferne Länder, versuchte Einblicke in das Dasein ihrer Menschen zu gewinnen und ahnte nicht, dass auch die Jahre im Rheingau nur eine der Etappen in meinem Leben sein würden.