Einleitung

BLICKPUNKTE
aus einem geschundenen Jahrhundert

von Margarete Kalbe

© Margarete Kalbe 2010

Kreta 1999

Ein stürmischer Wind fegt aus dem Norden über den sonnenüberfluteten Süden der Insel Kreta hinweg.

Er wirbelt Staubwolken von den Berghängen bis an die Küste hinunter, peitscht die Meereswogen wie mit einem Dreschflegel durcheinander, sodass die weißen Schaumkronen irr-lichternd auf der flimmernden Oberfläche einen chaotischen Tanz vollführen.

Wie unsichtbare Nadeln treffen die aufgescheuchten Sandkörner die nackte Haut der Strandurlauber, fressen sich durch die dünnen Hüllen der Badekleider, zausen die Haare und dringen gewalttätig in Ohr und Auge.

Der Wind treibt Schindluder mit den Ästen der Olivenbäume, rüttelt und schüttelt sie, als wären sie Kinder, die eine Extratracht Prügel verdient hätten. Nur die knorrigen, mit zerfurchten Auswüchsen bestückten Stämme halten stand. Selbst die majestätischen Zypressen ächzen unter der Attacke und schwanken wie trunkene Missetäter von einer Seite zur anderen.

Auf der Terrasse der kleinen Taverne über der malerischen, von Felsklippen gerahmten Bucht schweben Plastiktüten durch die Luft. Achtlos liegen gelassene Utensilien und Essensreste werden in Sekundenschnelle von den Tischen gefegt.

Als einziger Gast harre ich in diesem Inferno mutig aus, halte mein Glas Retsina, dem speziellen griechischen, geharzten Wein mit beiden Händen fest, währende die leere, halbe Flasche bereits irgendwo im Gestrüpp des überwucherten Abhangs in die Tiefe taumelt.

Seit über einem Jahr lebe ich mit Tochter Karin und Schwiegersohn Frieder auf der Insel, die mittlerweile vom Tourismus überschwemmt wird. Aber dieses hinter hohen Bergen versteckte Fleckchen Natur träumt noch weltenfern, unentdeckt als verwunschene Kostbarkeit vor sich hin. Noch…denn die Besitzgier des Menschen spürt wie eine nimmersatte, gefräßige Krake auch die verborgensten Paradiese auf, um sie für sich zu nutzen.

Noch sind es nur 2 Tavernen, die sich auf schmalstem Raum unterhalb der Felsen eingenistet haben und um Kundschaft werben.

In einer davon habe ich mich für zwei Wochen einquartiert.

Als „Mama Eva“ führt in dem weiß gekalkten Haus eine resolute ältere Frau Regie, die ein paar ihrer Zimmer nun den Feriengästen zur Verfügung stellt. Noch aber überqueren nur Wenige auf kurvenreicher Bergstrasse das Kedrosgebirge und verirren sich in die Einsamkeit der unberührten Schönheit. Außer den beiden Tavernen und einzelnen auf den Anhöhen verstreuten Häusern gibt es nichts in diesem Idyll. Keine Läden und nur das winzige irgendwo auf einer Bergkuppe in die Landschaft gesetzte weiße Kapellchen verleiht der Schönheit einen Namen: Agios Pavlos – heiliger Paulus.

Heute allerdings zeigt dieser Edelstein seine aggressive, gewalttätige Kehrseite, wie eine Strafmaßnahme für des Menschen Hochmut.

Mich fasziniert auch dieses andere, gegensätzlich Portrait der Insel, die nach Jahrzehnten des Herumirrens zu meiner Heimat geworden ist.

Unterhalb, am steinigen Strand, wehrlos dem aufgewühlten Meer ausgeliefert, ankert ein Boot, droht vom Wasser verschluckt zu werden. Mit ihm holt an ruhigen Tagen der Fischer und Ehemann von Mama Eva, Beute aus dem Meer, die leider von Jahr zu Jahr weniger wird.

Heute Nacht hat plötzlich das tobende Spektakel eingesetzt, hat an Türen und Fenstern gepoltert, als wollte es alles Menschenwerk wütend zerstören…hat mich aus dem Schlaf gerissen und will nun gar nicht mehr aufhören.

Kreta – seine zerfurchte Oberfläche rekelt sich wild zerklüftet und lang gestreckt aus dem Wasser, nachdem vor 3 Millionen Jahren das Mittelmeer den riesigen Gebirgsbogen vom Peloponnes bis in die Türkei überflutet hat. Es ist der größte und höchste Rest der einst gigantischen Landmasse, den der gefräßige Eindringling verschlang. Seine elementaren Kräfte formen Kretas Küstenlinie und gestalten sie bis heute immer wieder neu und um.

Und ausgerechnet dieses viel gepriesene Eiland, über dem ein Hauch von Afrika und dem Orient schwebt – durchaus eine eigene Welt und zugleich Bindeglied für drei Kontinente – wurde zur Wiege Europas.

Denn… da hat irgendwann in alter Zeit, als neben den Menschen auch Götter auf der Erde lustwandelten, ihr oberster Chef, der Schwerenöter Zeus seine ewig verliebten Augen auf eine kleinasiatische Prinzessin geworfen, die Europa hieß. Sie war so schön und um ihrer habhaft zu werden, hat sich der göttliche Casanova in einen weißen Stier verwandelt und die heiß Begehrte auf seinem Rücken über das Meer nach Kreta entführt.

Nach der Landung in Matala am südlichen, lybischen Meer fand sogleich die Hochzeit wenige Kilometer weiter unter einer Platane im antiken Gortys statt, der ein Sohn – Minos – entspross.

Mit der semitischen Königstochter Europa wurde also unser Kontinent auf die Bühne der Erde gerufen. Und Minos fiel die denkwürdige Aufgabe zu, auf der Insel seiner Geburt ein mächtiges Imperium zu gründen – die erste und älteste Zivilisation unseres Kontinents. Nach Jahrtausende währendem Dornröschenschlaf sind ihre Überreste von Archäologen aus den Tiefen des kretischen Bodens ans Licht der heutigen Tage befördert worden. Zumindest ein Teil davon, denn unter so manchen Dörfern und Städten schlummert die Vergangenheit unentdeckt noch weiter.

Immerhin künden ihre Ruinen von riesigen Palästen, erlesenen Kunstwerken, raffiniertem Lebensstil, von einer Gesellschaft in der die Frauen eine bedeutende Rolle spielten. Von einer Macht und Kultur, die einst das ganze Mittelmeer beherrschte.

Aber seltsam…keine pompösen Tempel wie in Ägypten und keine wuchtigen Festungsanlagen tauchten auf.

Kamen die ersten Europäer tatsächlich ohne Kriege aus…? Lebten sie in Harmonie und Frieden mit Göttern, die ihnen in allen Varianten der belebten Natur erschienen… in Bäumen, Pflanzen, Vögeln, denen sie auf Berggipfeln und in Höhlen huldigten…?

Längst sind die alten Götter vom Christentum von ihren Sockeln gestoßen worden und dessen streitbares orthodoxes Modell waltet und schaltet besonders streng über seine heutigen Schäflein, aber immer noch grüßen die Kreter ihren einstigen Göttervater als „schlafenden Zeus“, dessen felsiges Abbild der 811 m hohe Juchtas in den Horizont zeichnet.

Auch die Höhle im Ida-Gebirge – abwechselnd und in Konkurrenz dazu gilt auch ein solcher Unterschlupf im Dikti – als Ort, wo das Zeus-Knäblein versteckt und von Kureten bewacht, zum allmächtigen Gott heranwuchs.

Welch` geheimnisvolles, aufreizendes, provozierendes Eiland!

Und an seinen Gestaden hat nun meine Lebensreise ihr faszinierendes Ziel gefunden!

Die Äste der Tamarisken treiben in schaukelndem Rhythmus ihre zitternden Schattenspiele auf den Kieswegen, Tischen und Stühlen der Terrasse. Ihre Blättchen so fein und spitz gleichen Nadeln, die vibrierend aus ihren hölzernen Kissen ragen. Trotz der heftigen Turbulenzen leuchtet unter mir in tiefem Blau von der Sonne aufgeheizt, das Meer empor.

Draußen zeigt sich kein Schiff, alle bleiben während solchen Debakels im sicheren Hafen. Auch der Fährverkehr von Iraklion nach Piräus ist eingestellt und Kreta und die anderen Inseln und Inselchen der Ägäis sind vom Festland abgeschnitten. Auch das Ausflugsboot von Agia Galini, das einmal täglich Agios Pavlos besucht, ist heute ausgeblieben. Nur die Silhouette der zwei Felseninseln Paximadia, die von hier ein gemeinsames Ganzes vortäuschen, schwimmen auf den Weiten des Horizonts.

Nachdem Staub und Wind mich gehörig durchgebeutelt haben und die Augen trotz Sonnenbrille zu brennen beginnen, entschließe ich mich, die so idyllische Terrasse zu verlassen und bringe das leere Glas zurück in Mama Evas Küche.

Wohlgenährt, mit glatt zurückgekämmten. grauem Haar, das am Hinterkopf zu einem Knoten geformt ist, hantiert sie gerade am Herd und nickt mir freundlich zu. Unbestimmbaren Alters verkörpert sie die „Seele“ der Taverne und ihr rundliches Gesicht mit den frischen, roten Backen und den hellen , blauen Augen spiegelt allerdings auch eine gehörige Pfiffigkeit wider.

„Der Meltemi..“ seufzt Mama Eva und deutet hinaus. „Panagia, heute bläst er ganz arg, aber Morgen wird’s besser“, tröstet sie, wischt sich an ihrer Schürze die Hände trocken und nimmt mir das Glas ab.

„Man sagt, er bläst drei Tage lang und alle fürchten ihn“, erwidere ich. „Muss nicht sein“, beschwichtigt die Mama, die immer nur das Beste hofft und glaubt.

Die Küche wirkt groß, aber ein wenig schummrig durch den überdachten Vorbau, der keinen Sonnenstrahl eindringen lässt. Er sperrt die Sommerhitze aus und kühlt so den Raum, in dem gekocht und auch das reichhaltige Geschirr von Hand gewaschen wird. Alles bewältigt Mama Eva allein, denn ihr Gemahl sitzt, wenn seine Arbeit als Fischer beendet ist, meist im ebenfalls schattigen Vorhof mit dem traditionellen „Komboloi“ zwischen den Fingern. Damit vertreiben sich die kretischen Männer bei einem Kaffee oder einem Raki genüsslich die Zeit. Das „Komboloi“ ist eine mit Perlen bestückte Schnur, die mit flinken Händen hin und her geworfen, angeblich beruhigend wirkt.

Ein kleiner, wenn auch beschwerlicher Plausch, da ich Mühe habe den ausgeprägt kretischen Dialekt zu verstehen, freut mich trotzdem, denn die Mama Eva in ihrem gestreiften, weiten Kittel mit der weißen Schürze darüber, erinnert mich intensiv an meine eigene Mutter. Die gleiche Vitalität, gepaart mit lebensfroher Zuversicht aber auch einem Hauch von schalkhafter Raffinesse, war auch ihre Visitenkarte.

Erst kurz vor unserer Übersiedlung nach Kreta ging meine Mutter im Methusalemalter von fast 100 Jahren friedvoll in die Ewigkeit ein. Daseinsfreudig, wie sie war, schien es fast, als wolle die Natur bei ihr eine Ausnahme von der unerbittlichen Regel des Sterbens praktizieren.

Nun treibt auch ihre Seele wie ein hinweg gewehtes Sandkorn irgendwo im Universum. Vielleicht…vielleicht auch nicht…

Keinem noch so schlauen Kopf gelingt es den Geheimcode des Kosmos und seiner Schöpfung zu entschlüsseln.

Zurückgekehrt in mein Zimmer, versuche ich noch ein wenig auf dem kleinen Balkon zu sitzen, denn gerade die Abende sind es, die so stimmungsvoll die malerische Bucht verzaubern.

Wenn die untergehende Sonne den gegenüberliegenden Felsklotz wie ein gigantisches Gemälde aufleuchten lässt und andererseits den Dünenhang mit der abschließenden Felswand als dunkle Schattenrisse gegen das verblassende Blau des Firmaments zeichnet, dann lässt dieses Schauspiel die eigene Existenz mit den Elementen der Landschaft verschmelzen.

Während am Tage Helios mit seinem Sonnenwagen den Strand und die Steine glühend aufheizt, gleißendes Licht über Meer und Berge sprüht, verabschieden sich die Tage in milder Sanftmut.

Doch wieder muss ich nach kurzer Zeit aufgeben, Sand weht durch die offene Tür und schlüpft in alle Ritzen. Also mache ich es mir vor dem kleinen Schreibtisch, dem ein Spiegel aufgestülpt wurde, bequem, ziehe ein Buch aus der Lade und hole eine Flasche „Domenico“ aus dem Schrank – seit meiner Ankunft in Kreta bevorzugtes Feierabend-Getränk. In hellem Rose schimmert der Wein im Glas, findet seinen funkelnden Widerschein im gegenüber liegenden Spiegel. Benannt nach dem auf der Insel geborenen, berühmten Maler El Greco, der allerdings seine Karriere im spanischen Toledo aufbauen musste, verspricht schon der Name eine Köstlichkeit.

Ich bemühe mich die bereits begonnene Lektüre weiter zu verfolgen, in die Atmosphäre der darin geschilderten Episode einzudringen, mich von ihr einfangen zu lassen…es gelingt nicht.

Die Böen, die draußen ihr Unwesen treiben, lenken immer wieder meine Gedanken in andere Bahnen, die über die Erzählungen im Buch dominieren. Kaum einen Absatz begonnen, steuern sie störrisch andere Wege an, vollführen ein chaotisches Spiel mit dieser und jener plötzlich auftauchenden Idee.

´Wird ja doch heute nichts` tröste ich mich mit einem Schluck des rötlichen Lebenselixiers und lege das Buch beiseite. Das Rumoren am Balkon dringt gedämpft auch durch die geschlossene Tür ins Zimmer.

Eigentlich bin ich müde…

Das Dunkel der Nacht hat inzwischen alle Farben ausgelöscht. Nur die par Lampen, die wie verschreckte Fackeln um Mama Evas Taverne herumpendeln, streuen einen matten, irr-lichternden Schein ins Zimmer.

Mit dem Schlafen wird’s vorerst aber auch nichts. Außer der Störmusik von außerhalb hat sich der geschlossene Raum so erwärmt, dass selbst das weiße Leintuch als Ballast auf den Körper drückt.

Wie langsam heute doch die Stunden vergehen….

Irgendwann verschmelzen aber doch die Geräusche von draußen mit im Halbschlaf produzierten skurrilen Fantasiegebilden zu einer Mixtur ohne Sinn und Zweck. Ein seltsam wirres Konzert erklingt im Kopf. Melodien angereichert mit Dissonanzen, die schemenhafte Bilder aus den Tiefen des Erinnerns erzeugen.

Die Insel Kreta versinkt plötzlich in einem Häusermeer, aus dem sich wie ein Phantom ein hohes, graues Haus aus der Reihe anderer, eng aneinander gedrängter Gebäude herauslöst und wächst und wächst und immer größer wird…