Kalte Winde fegten durch die Straßen, als ich den Anhalter-Bahnhof in Berlin verließ und das für mich, für eine Nacht reservierte, Hotelzimmer, aufsuchte.
Wie immer hatte die Organisation bestens geklappt und ich verbrachte diese erste Begegnung mit der deutschen Hauptstadt in einem fast luxuriösen Milieu.
Am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg zu meiner neuen Arbeitsstelle, die etliche Kilometer außerhalb des Stadtgebietes lag und eine sehr frühe morgendliche Anfahrt erfordern würde.
Man empfing mich freundlich und teilte mir einen Arbeitsplatz in der Rechtsabteilung, innerhalb des Personalbereichs zu.
Voll Zuversicht freute ich mich auf die neue Tätigkeit und fand auch durch Vermittlung sofort ein möbliertes Zimmer, das ich mir mit einer Gleichaltrigen teilen musste, die es irgendwo vom Norden des Reiches ebenfalls hierher verschlagen hatte.
Wir verstanden uns auf Anhieb und beschlossen, das Leben in Berlin kräftig unter die Lupe zu nehmen.
Gelegenheit dazu gab es genug!
Das riesige „Haus Vaterland“, in dem auf verschiedenen Etagen Varietes, Kabaretts und Unterhaltungen aller Art stattfanden, war die erste Adresse, die wir aufsuchten und uns begeistert in den Strudel des Vergnügens stürzten.
Musik klang aus den verschiedenen Sälen…
Welch´ ein Angebot, welch´ eine großartige Weltstadt!
Ebenso lockten die Theater mit anspruchsvollen Programmen und es gab kaum einen Abend, den wir in unserer winzigen, mit nicht viel mehr Inventar als zwei Bettgestellen, zubrachten.
Die Arbeit im Büro stellte sich ebenfalls als angenehm, leicht zu bewältigend heraus und nachdem auch die Nächte momentan nicht durch Fliegeralarm gestört wurden, empfand ich den Wechsel als äußerst anregend und interessant.
Nichts erinnerte daran, nichts verlautete davon, dass weit im Osten, deutsche Söhne und Männer kurz vor der Metropole des riesigen russischen Reiches, den Winter unter Entbehrungen, in Eis, Schnee und Kälte zubringen mussten.
Nichts erinnerte mich auch daran, dass ich in einem Rüstungsbetrieb arbeitete, der Waffen für den Krieg fertigte. Weit entfernt von meinem Gesichtskreis befanden sich die Hallen, in denen nach neuester Technik jene Mordinstrumente am Fließband und im Akkord hergestellt wurden, die keinem anderen Zweck, als zu töten, dienten.
Mein Alltag, in dem der Personalabteilung eingegliederten Rechtsbüro verlief ausgesprochen gemächlich. Unter anderem war mir aufgetragen, die zeitweilig den Fremdarbeitern zugestandenen und auf Antrag gewährten Urlaubs-Heimfahrten, auf ihre Rechtsmäßigkeit zu überprüfen. Eine Arbeit nach festgelegtem Schema, bei der lediglich die gesetzlich bestimmten Ansprüche zählten, nicht die Menschen, die davon betroffen waren.
Sie kamen zu mir mit Hoffen und Bangen, legten stumm, ohne Kommentar ihre Anträge vor.
Menschen aus einer unbekannten Welt, deren Sprache man nicht verstand und sich nicht um sie, nur um ihre Papiere kümmerte.
Nichts von deren Nöten, Sorgen und Ängsten drangen in mein Bewusstsein. Korrekt verrichtete ich die mir aufgetragenen Arbeiten und registrierte nicht, dass diese Fremden unter Zwang standen…
Wie letztendlich wir alle im gepriesenen Dritten Reich…nur die auf der siegreichen Seite Platzierten, merkten es nicht und fühlten sich schon als Herren der Zukunft.
Zu meinen neuen Kolleginnen fand ich schnell Kontakt, obwohl diese meist älteren Jahrgängen angehörten. Junge männliche Angestellte waren deutlich in der Minderheit. Vor allem alte Büro-Veteranen tummelten sich in den weit verzweigten Räumen des Gebäudetraktes. Nur an exponierten Stellen fungierten ausgesuchte Fachkräfte.
Auch mein unmittelbarer Vorgesetzter in der Abteilung saß seit Jahren im Alltagstrott die Zeit ab und wartete nur auf baldige Pensionierung. Das Büro war ihm ein vertrautes Zuhause geworden und durch Überstunden versuchte er sein Gehalt aufzubessern. Immer wieder animierte er auch mich für derart zusätzliche Tätigkeit, von der ich mich möglichst drückte, um mit meiner Zimmergenossin den Abend auswärts zu verbringen.
An einem klirrend kalten Januartag wurde ich von einer der neuen Kolleginnen in ihre Wohnung außerhalb des Stadtgebietes eingeladen, wo ich wegen der weiten Entfernung auch die Nacht verbringen musste.
Es war bereits dunkel, als wir gemeinsam die Arbeitsstätte verließen und mit dem Zug in die ebene Landschaft, die die Hauptstadt umgab, eintauchten. Von der Bahnstation hatten wir noch einen gut halbstündigen Weg bis zu dem einsamen Domizil der jungen Frau zurückzulegen. Ein eisiger Wind verschlug uns dabei fast den Atem.
Der Schnee, der weiß glitzernd den gefrorenen Boden überlagerte, knirschte ächzend unter unseren Tritten und hinterließ Spuren des Schuhwerks.
Ich zog den Mantel enger um den Körper, versteckte die trotz Handschuhe klammen Finger in dessen Taschen und bereute schon, diese Einladung angenommen zu haben.
Dunkle Tannenwälder durchbrachen da und dort in dichten Gruppen das eintönige Schneefeld. Dann mit einmal stießen wir auf ein niederes Holzhäuschen als tröstende Zuflucht in dieser einsamen, lautlosen, finsteren Nacht.
Es war das Plätzchen, das sich meine Kollegin und deren Mann als Wohnort in dieser Einöde ausgesucht hatten. Nur der Hausherr selbst war nicht anwesend; weit weg hatte er wie die vielen Anderen fürs Vaterland zu kämpfen.
Die etwa 30-jährige Kollegin – eine schlanke, zierliche Frau – merkte meine Verstörtheit und entzündete rasch in der kleinen Küche ein wärmendes Feuer im Kanonenofen. Wir rieben uns beide die starren Hände darüber. Dann bereitete die Kollegin ebenso hurtig ein bescheidenes Abendessen zu und servierte es auf dem kleinen Tischchen, das gerade nur 2 Personen Platz bot.
Aufgewachsen in den Gassen einer dicht bebauten und bevölkerten Großstadt, hatte ich noch nie die weite und grandiose Erhabenheit eines kaum bewohnten Landstrichs erlebt. Diese unendlich erscheinende Ebene, über die sich schwarz das Firmament wölbte, in der nur ein paar Sterne Lichtpunkte setzten, bedrückte mich irgendwie. Ich war dankbar für die schützenden Wände der kleinen Behausung, denn draußen in dieser unwirtlichen Umgebung hatte ich mich verlassen, fast bedroht gefühlt.
Ja, überlegte ich in Gedanken…so musste es in Russland aussehen, kalt und feindlich.
„Na, haben wir es hier nicht wunderschön und gemütlich,“ schwärmte indessen die junge Frau und stieß die Tür zum Wohnzimmer auf, von dem sogleich ein Schwall kühler Luft in die Küche wehte.
Liebevoll eingerichtet, ein kleines Schmuckkästchen, musste ich zugeben.
„Ja, wirklich“, bemühte ich mich, meine düstere Stimmung zu verbergen.
Nach einer kleinen Weile spendete das winzige Öfchen tatsächlich angenehme Wärme und wir waren beide bemüht der frostigen Winternacht draußen, einen freundlichen Abend drinnen, abzutrotzen.
Auf einer Stellage mit allerlei hübschen Keramikfigürchen befand sich als Blickfang in der Mitte eine gerahmte Fotografie. Ein Soldat in Uniform lächelte uns entgegen.
„Ihr Mann…?“ wendete ich mich an die Gastgeberin und betrachtete das Bild aufmerksam.
Die nickte stolz.
„Haben sie keine Angst um ihn, jetzt im Krieg?“ fragte ich zögernd.
„Natürlich“, seufzte diese. “Aber wir haben Hoffnung und Vertrauen. Hoffnung auf den baldigen Sieg und Vertrauen auf den Führer!“
„Aber der Krieg dauert nun schon über 3 Jahre und immer neue Schauplätze kommen dazu. Jetzt auch noch Amerika… war das notwendig?“
Meine Kollegin schien anderer Ansicht zu sein.
„Wie lange sollte der Führer noch warten? Amerika hat doch der englischen Flotte immer wieder Schutz geboten und so, offensichtlich unsere Feinde unterstützt“, erwiderte sie in sehr bestimmten Ton.
Ich schwieg. Zwar war diese Frau sicher keine aktive Anhängerin der Partei, aber ihr Glaube, ihr Vertrauen auf die Person des Mannes, der momentan den größten Teil Europas beherrschte, erstaunte mich doch sehr. Was machte diesen „Führer“ so faszinierend, dass ihm ein ganzes Volk blind vertraute.
„Der Führer tut alles für uns, er will nur unser Bestes, aber die Anderen wollen nicht, dass wir zu unserem Recht kommen. Deshalb muss er Krieg führen“, klärte mich die Kollegin voll Engagement auf. „Er wollte keinen Krieg…“ und nach einer kleinen Pause, „waren Sie denn schon einmal bei einer seiner Kundgebungen?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Schade! Ich kann ihnen nur versichern, dass alles was er sagt, überzeugend klingt. Man kann sich auf ihn verlassen, sonst würden seine Soldaten nicht so treu zu ihm stehen…
Denken Sie doch, was er für uns alles bereits getan hat… Die Jugend hat Möglichkeiten wie nie zuvor. Sport, Spiele, Unterhaltung. Gemeinsame Erlebnisse und sogar Reisen. Das gab es doch in dieser Form noch nie!“
Ich sagte kein Wort mehr, hatte bei aller Sympathie das Gefühl, dass kein befriedigendes Gespräch zustande kommen könnte und wir irgendwie aneinander vorbei redeten.
Ich war Gemeinschaftsunternehmungen, Massenaufläufen, Massenveranstaltungen absolut abgeneigt und konnte mich gottlob bisher davon distanzieren. Allerdings verachtete ich andererseits aber nicht, die sich bietende Chancen für individuelle Angebote und nutzte sie.
Wieder einmal hin- und her gerissen zwischen eigenen Anschauungen und der von der Allgemeinheit vertretenen Meinung, schlüpfte ich danach ziemlich ratlos in das von meiner Gastgeberin bereitete, etwas klamme Bett.
Es nutzte ja nichts anderer Ansicht zu sein, Gedanken und Überlegungen Einzelner zählten eben nicht im Orchester der Masse. Das Soloinstrument hatte das zu spielen, was die Gesamtpartitur vorgab.
Als Franz im Februar in Berlin eintraf, vertauschte ich die Unterkunft zu Zweit im Stadtzentrum, mit einem möblierten Zimmer im vornehmen Bezirk Lankwitz, von dem aus ich eine kürzere Verbindung zu meiner Firma hatte und auch Besuch empfangen durfte.
Gemeinsam durchstreiften wir nun in der Freizeit immer wieder die Stadt. Der Frühling eröffnete uns neue Perspektiven und verlockte uns zu Exkursionen in die Umgebung. Einige Seen luden außerhalb des Häusermolochs Berlin zu Spaziergängen ein, in Potsdam erwartete uns mit dem Sommerschloss Friedrich des Großen „Sansoussi“ ein besonderer Leckerbissen an Architektur und Gartengestaltung.
Nicht vom Zentrum aus war diese Weltstadt gewachsen, sondern aufgesplittert in vielen Distrikten, jeder mit eigener Atmosphäre, speziellem Flair.
Auch nach Wochen konnte ich diese Metropole nicht als homogenes Ganzes erfassen, nur S- und U-Bahn erschlossen mir die diversen Stadtteile.
So weit gestreut, wie sich die Stadt in die Landschaft eingenistet hatte, so vielfältig, aber auch entsprechend entfernt voneinander, waren auch ihre baulichen Sehenswürdigkeiten.
Als der März die ersten Knospen sprießen ließ machten wir uns auf den Weg, um wenigstens einen Teil von ihnen kennen zu lernen.
Ein paar herrliche Frühlingswochen konnten wir mit Ausflügen nutzen, dann kam plötzlich überraschend und unerwartet für Franz, da seine Einheit nach Schlesien verlegt worden war, die Nachricht bzw. der Befehl, sich dahin zu begeben.
Damit war für uns alles Planen für die Zukunft abrupt und auf unbestimmte Zeit unterbrochen. Wann würden wir uns wieder sehen? Wir wussten es nicht…
Ende Juni lief auch mein Dienstverpflichtungs-Vertrag für Berlin aus und da nun eine Verlängerung um ein weiteres halbes Jahr keine Verlockung mehr darstellte, wollte ich gern in das vertraute Milieu meiner Kindheit und Jugend zurückkehren.
Um meinen Anspruch auf Heimfahrt geltend zu machen, musste ich das Büro des Personalchefs aufsuchen, der für die gesamte Belegschaft verantwortlich zeichnete. Er galt in seinem Bereich als unnahbarer, gebieterischer Leiter.
Es dauerte eine Weile, bis ich nach Anmeldung zu ihm vorgelassen wurde.
Ohne von seinem Schreibtisch hoch zu blicken, empfing er mich ausgesprochen unwirsch.
Wie stets, ersetzte ich den obligaten und erwünschten „Heil Hitler“ Gruß durch ein freundliches „guten Tag“.
„Was wollen Sie“? war die einzige Erwiderung darauf.
Aus gebührender Entfernung musterte ich kurz mein Gegenüber.
Ein Mann um die Vierzig, schlank, mit kurzem, ziemlich farblosen Haar, unter dem ein scharf geschnittenes Gesicht keine Regung verriet. Auch seine Stimme hatte einen stahlharten Klang, der trotz des Sonnenscheins, der durch die Fenster drang, ein Frösteln erzeugte.
Schnell trug ich mein Anliegen vor, schob den Vertrag als Beweisstück auf die Kante des Schreibtisches und wich sofort, wie ein gescholtenes Kind ein paar Schritte zurück.
Jetzt unterbrach der Mann kurz seine Arbeit, überflog das vorgelegte Papier…“das kommt überhaupt nicht in Frage,“ herrschte er mich an, stand auf und gab mir den Schrieb zurück.
„Aber wieso… mein Vertrag hier in Berlin läuft am 30.6. aus und somit habe ich das Recht nach Hause zurückkehren zu können“, stammelte ich aufgeregt.
„Gar nichts haben Sie“! Seine Augen unter schütteren, zusammengezogenen Brauen funkelten mich zurechtweisend an. „Wann Sie nach Hause fahren können, das bestimmen wir und nicht Sie!“ wandte er sich wieder seiner Tätigkeit zu. „Haben Sie verstanden…“?
Nein, ich hatte gar nichts verstanden. In mir keimte eine rasende Wut hoch, das Blut stieg mir in die Wangen. Gegen diesen Menschen kam ich nicht an! Aber nein, unterkriegen würde ich mich auch nicht lassen. Niemals…
Fluchtartig, ohne Gruß verließ ich den Raum.
Schon auf dem Weg zurück zu meinem Arbeitsplatz, reifte ein abenteuerlicher Plan in meinem Kopf heran.
Nein, ich würde mich nicht fügen, nicht wie eine gehorsame Sklavin unterordnen – die Zeiten, in denen man über seine Untertanen nach Lust und Laune verfügen konnte, waren gottlob vorbei.
Ich würde nach Hause zurückkehren und zwar heute noch und klammheimlich!
Dieser Entschluss dämpfte meinen Zorn ein wenig, denn jetzt musste glasklar geplant werden, jede Minute zählte!
Es war Samstag und die Arbeitszeit endete bereits mittags…
Ich würde den Nachtzug nach Wien nehmen – schon stand alles was zu tun war Abruf bereit: als erstes ein Telegramm an meine Eltern, mit der Bitte mich vom Bahnhof abzuholen…
In großer Eile, aber äußerst konzentriert packte ich meine Habseligkeiten in Koffer und Tasche – jetzt nur nichts vergessen…
Die Miete für das Zimmer war bis Ende des Monats bezahlt. Alle Erklärungen an die Vermieterin und die Kolleginnen könnten schriftlich nachgeholt werden, wenn ich zu Hause und in der Firma in Wien eingetroffen sein würde, von der ich für ein halbes Jahr nach Berlin „ausgeliehen“ wurde.
Alles klappte wie am Schnürchen!
Als der Zug durch die Nacht, Richtung Süden ratterte, stieg in mir ein solch´ triumphales Gefühl hoch, als hätte ich eben eine Meisterschaft gewonnen.
Immer wieder stand ich von meinem Eckplatz, den ich gerade noch in einem Abteil gefunden hatte, auf, um am leicht schaukelnden, schmalen Gang diese spontane Eisenbahnfahrt auf mich wirken zu lassen.
Das Stampfen der Räder, das Ächzen der Gleise unter der über sie hinweg rasenden Stahlschlange, steigerte meine Hochstimmung ins Überdimensionale.
Ich öffnete einen Spalt das Zugfenster.
Draußen herrschte absolute Dunkelheit. Nur wenige Sterne zeigten sich und die gekrümmte Mondscheibe war zu abgemagert, um über die vorbei fliegende Landschaft, Licht zu streuen.
Aber der Duft von frischem Grün noch unverbrauchter Wiesen erregte die Nase. Tief atmete ich ihn ein, während mir der Fahrtwind die Haare ins Gesicht peitschte. In diesen Augenblicken fühlte ich mich frei und froh!
Nur in den Stationen der großen Bahnhöfe, in denen das schnaubende Ungetüm anhielt, Türen auf- und zugeschmissen wurden, Menschen hinaus- und herein hasteten, störte die nüchterne Gegenwart mit Lärm und Betrieb, die beglückende Emotion.
Irgendwann in dieser Nacht schien ich dann doch in meinem Abteilsitz eingenickt zu sein, denn plötzlich grüßte von draußen der helle Morgen die Reisenden und eine erwachende Sonne schickte ihre schwachen Strahlen über die kleine, zufällig zusammen gewürfelte Gruppe im engen Geviert. Man gähnte, rieb sich die Augen. Man kannte sich nicht, jeder hatte seinen eigenen Grund und eine andere Ursache, für diese Nachtfahrt.
Außer höflichen Floskeln kam kein Gespräch auf. Jeder war mit sich selbst beschäftigt.
Ich schaute auf die Armbanduhr. Noch über eine Stunde bis zur Ankunft in Wien!
Wieder ging ich nach draußen und betrachtete die nun veränderte Landschaft, die sich anmutiger, lieblicher als oben im Norden zeigte; mit Hügeln, kleinen Dörfern, saftigem Grün. Vertraut war alles und doch…ungewohnt!
„Was für eine Überraschung“, rief meine Mutter schon von weitem, als sie mich, beladen mit Koffer und Reisetasche aus dem Waggon auf den Perron heruntersteigen sah. “Wir haben Dich zwar nicht so plötzlich erwartet, aber wie herrlich, dass Du endlich wieder nach Hause Kommst“, begrüßte sie mich mit einer heftigen Umarmung.
Auch Vater war sichtlich erfreut über das Wiedersehen und hievte sofort mein schweres Gepäckstück hoch. “Sag´ einmal, hast Du da Steine drin?“ seufzte er über dessen abnormes Gewicht.
„Das grad´ nicht, aber ein paar Bücher halt“, musste ich lachen. „Ihr wisst doch, dass ich davon nicht genug kriegen kann und könnt´ Euch nicht vorstellen, wie schwierig es ist, in den Buchhandlungen was Brauchbares zu finden. Ich musste einfach auf gut Glück was aussuchen. Angeblich haben die Nazis, also die Regierung, die ganze jüdische Literatur aus dem Verkehr gezogen… So ein Blödsinn, als ob sich einer für den Stammbaum des Autors interessieren würde. Schließlich kommt es doch auf das was drinnen steht, an…“
Mutter nickte und nahm mir die ebenfalls voll gestopfte Tasche ab. Immer das gleiche, dachte sie. Lesen, lesen…
Ja, wenn alles noch wie früher sein würde, dann hätte das „Kind“ in der größten Buchhandlung der Stadt und des ganzen Landes bei einem der Onkels von Miriam ihrer Leidenschaft als Beruf huldigen können.
Am folgenden Sonntag wurde ich als glückliche Heimkehrerin kräftig verwöhnt. Mutter hatte die Lebensmittelkarte für einen knusprigen Schweinebraten geplündert und ich entdeckte mein rosafarbenes Kabinett, das geduldig auf mich gewartet hatte, neu.
Beeindruckt von dem herzlichen Empfang beschloss ich, auch den Montag die errungene Freiheit zu genießen und wie in alten Zeiten, des Onkels Schrebergärtlein zu besuchen, zu dem ich so oft mit Miriam spaziert war.
Wie mochte es ihr wohl gehen? Seit dem Kriegszustand mit Amerika gelangte keinerlei Nachricht über den großen Teich – es war eine abgeriegelte Welt geworden.
Am Dienstag musste ich dann aber doch zu meiner neuen Firma aufbrechen, um dort den für mich vorgesehenen Arbeitsplatz, zugeteilt zu erhalten.
Das Werk lag ca. 25 km außerhalb von Wien, nur die Büros für die Ein- und Verkaufsabteilungen befanden sich noch in einem altehrwürdigen Gebäude im Stadtzentrum und dort hoffte ich, meinen neuen Tätigkeitsbereich zu erhalten.
Zunächst musste ich mich aber auf den Weg nach außerhalb machen und die zuständige Personalabteilung aufsuchen.
Auf mein freundliches „Guten Tag“ und der Vorstellung, erfolgte ein entsetztes „Mein Gott, wo bleiben Sie denn nur“, seitens eines Herrn, ebenfalls mittleren Alters, der aber weniger stramm und eher von kleiner Statur mit leichtem Ansatz von Bauch, die Hände über dem Kopf zusammen schlug.
„Was fällt Ihnen denn ein? Wir kriegen seit gestern laufend Telegramme aus Berlin über Ihr Verschwinden.“
„Mein Vertrag ist abgelaufen, also bin ich wie vor einem halben Jahr vereinbart, nach Hause zurückgekehrt“? verteidigte ich mich.
„Abgehauen, ist wohl das richtigere Wort dafür! Setzen Sie sich“, forderte mich der Personalchef in einem ruhigeren Ton auf und deutete auf einen Stuhl hinter dem Schreibtisch.
„So, wie Sie sich das vorstellen, geht es natürlich nicht! „Sie müssen nach Berlin zurück und zwar sofort. Berlin besteht darauf!“
„Kommt nicht in Frage“, wehrte ich mich und berichtete, wie brüsk und flegelhaft mich der dortige Personalgewaltige abgefertigt hatte.
Eine kleine Pause entstand.
„Nehmen Sie Vernunft an“, versuchte mich mein Gegenüber zu beschwichtigen. „Wir würden Sie ja gerne hier behalten, aber unsere Muttergesellschaft in Berlin fordert hartnäckig Ihre Rückkehr.“
Ich beharrte auf meinem „nein“!
„Sind Sie sich im Klaren darüber, was Arbeitsverweigerung bedeutet…? Wir leben im Krieg und mit Ihrem Verhalten bringen Sie sich in größte Gefahr“!
Daran hatte ich natürlich nicht gedacht. „ich verweigere ja nicht die Arbeit, aber ich bleibe nicht auf unbestimmte Zeit in Berlin“, erwiderte ich etwas kleinlauter geworden.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, bemühte sich nach längerer Überlegung, der zuerst so aufgebrachte Personalchef und ich meinte ein leises Schmunzeln aus seinem Gesicht zu lesen… Wien gegen Berlin, eine Kraftprobe im neidischen Miteinander…!? „Sie gehen für ein weiteres halbes Jahr nach Berlin und wir sorgen dafür, dass Sie nach Ablauf dieser Zeit, auf jeden Fall nach Hause können“!
Zweifelnd schaute ich den Mann an und hatte den Eindruck, dass er mir trotz allem Ärger wohlgesinnt war. „Kann ich mir da ganz sicher sein, kann ich mich darauf verlassen“, zögerte ich.
„Ganz sicher…wir regeln das von hier aus!“
Daraufhin stand er auf, reichte mir die Hand. „Gute Fahrt zurück nach Berlin und zu Jahresende sprechen wir weiter, über ihren Einsatz in unserem Flugmotorenwerk in Wien.
Zu Hause angelangt und die Niederlage selbst noch nicht verkraftet, hatte ich meinen Eltern mein plötzliches Auf- und bevorstehendes Abtauchen irgendwie begreiflich zu machen. Leider war der Mensch doch nicht frei, auch wenn er sich für Momente so fühlte.
Einen Abend später saß ich wieder im Zug, der diesmal in Richtung Norden stampfte und dröhnte. Verflogen war alle Euphorie, ein dumpfes Gefühl in der Magengegend quälte mich, wenn ich an die nächsten Tage und das Zusammentreffen mit meinem Chef und den Kollegen dachte.
Gut, ich hatte eine bindende Zusage erhalten, aber der erwünschte persönliche Triumph war zu einem recht mickrigen Erfolg zusammengeschmolzen.
Die Vermieterin in Lankwitz dürfte kaum etwas von meinem Ausbruch mitgekriegt haben und die Abwesenheit vielleicht für einen verlängerten Wochenendausflug gehalten haben.
Meine Kolleginnen empfingen mich dagegen mit deutlicher Zurückhaltung.
Am beschämendsten empfand ich das Gespräch mit meinem obersten Vorgesetzten, den Leiter der Rechtsabteilung, der sich seinen Angestellten gegenüber stets loyal verhalten hatte.
„Warum sind Sie nicht zu mir gekommen“? war dann auch sein Vorwurf, als ich ihm meine Flucht zu erklären versuchte, und…“wir werden Sie Ende des Jahres nicht gegen Ihren Willen in Berlin festhalten“, nachdem ich ihm, von der in Wien getroffenen Vereinbarung berichtete.
Also doch kein ganz sinnloses Unternehmen?
Mit der Zeit gewann ich auch das Vertrauen meiner Kolleginnen zurück und so gestalteten sich die folgenden Monate in der Hauptstadt wieder harmonisch und angenehm.
Den Sommer nützte ich vor allem für Exkursionen in Landstriche, die von Berlin aus übers Wochenende leicht zu erreichen waren.
An einem besonders warmen Samstag, an dem die Sonne Häuser und Straßen der Millionenstadt aufheizten, fuhr ich an die Ostsee.
Zuerst widmete ich mich der alten Handelsmetropole Stralsund mit ihren zahlreichen gotischen Backsteinbauten und schönen Bürgerhäusern.
Es war ein sehr fremdartiges Stadtbild, das ich hier vorfand; streng und kühl, nichts Liebliches oder gar Verspieltes lockerte die herbe Bausubstanz auf. Massiv und würdevoll schien die Architektur in gewollter Sachlichkeit dem nahen Meer Trotz bieten zu wollen. Auch die Sonne vermochte es nicht, ihr einen Hauch von Heiterkeit zu verleihen.
Über den 2,5 km langen Fahrdamm erreichte ich am späten Nachmittag die Insel Rügen, ein sprödes Eiland, das seine Kreidefelsen berühmt gemacht hatte.
Eilig quartierte ich mich für die Nacht in einer kleinen Pension ein und startete sofort zu diesen von der Natur charakteristisch geformten Klippen, die mich besonders interessierten.
Steil fielen die gelappten Erhebungen fast senkrecht zum Ufer ab. Ein grandioser Anblick, der mich bis zur langsam herauf ziehenden Dämmerung in seinen Bann zog.
Der nächste Vormittag erschloss mir während eines langen Spaziergangs das Naturwunder intensiver. Seine faltigen Umrisse waren auf die Überflutung der Kreide- und Grundmoränenlandschaft zurückzuführen.
Ein schmaler Pfad führte direkt oberhalb der Kreideformationen entlang. Grasbüschel wucherten aus dem sandigen Boden, wurden von einer frischen Brise hin und her gezerrt, die auch mein Haar zauste und mir immer wieder Strähnen davon, ums Gesicht wehte.
Unten am Strand kräuselte ein schmaler Saum weißer Gischt die See, die sich in blassem Graublau in tänzelnden Wellen, hin zum Horizont bewegte.
Niemand begegnete mir bei dieser Wanderung. Weit und breit nur unberührte Natur…das Surren verborgener Insekten, ab und zu ein schriller Vogelschrei und vor allem die vielfältigen Stimmen die der Wind dieser Landschaft entlockte, waren meine Begleiter.
So recht geeignet zum Nachdenken, zur beglückenden Empfindung einer Schöpfung, die so viele Geheimnisse in sich birgt.
Menschenwerke sind vergänglich, sie verfallen…werden vergessen, aber die Großartigkeit der Schöpfung erfindet immer neue Formen, hört nie auf, sich manchmal sogar skurril zu organisieren!
Welchen Zweck verfolgt sie…oder gibt es gar keinen Zweck?
Nein, das glaubte ich nicht, denn Sinnlosigkeit passte nicht zu dem Konzept, das der Planet Ede an fantastischen, wenn auch oft unverständlichen Wundern erschaffen hatte!
Ich blieb stehen, strich mir das Haar aus der Stirn und schaute in die weite Ferne, wo sich schemenhaft Himmel und Meer einander vermählten.
Wozu all´ die Fragen? Genügte es nicht das Schöne, das diese Welt für ihre Geschöpfe bereit hielt, einfach zu genießen…?
Wäre da nur nicht dieser unselige Krieg, der abseits dieses friedlichen Idylls als düsteres Schreckgespenst sein grausames Spiel mit den Menschen trieb.
Nein, nicht daran denken, nicht den zauberhaften Tag sich damit vermiesen! Tief die würzige Luft einsaugen und überzeugt sein, dass letztendlich das Positive als Triebkraft, den Kosmos beherrschte!
Der Nachmittag brachte mich zurück nach Berlin, in den Alltag.
In meinem Zimmer angekommen, versuchte ich Franz in einem Brief mein Erlebnis mitzuteilen, fand aber nicht die Worte, die meine Stimmung ausdrücken konnten. So landete das halb beschriebene Blatt schließlich im Papierkorb.
Seltsam… bei dieser Gelegenheit musste ich feststellen, dass seit einiger Zeit, unser gegenseitiger Briefwechsel zu einem belanglosen Alltagspalaver verkommen war.
Durch irgendwelche glücklichen Umstände blieb die Reichshautstadt auch in der zweiten Hälfte des Jahres 1942 von feindlichen Luftangriffen verschont, sodass kein Bombenalarm die trügerische Ruhe störte und das Leben in der Stadt durchaus in normalen Bahnen verlief.
Dagegen wurde das Ruhrgebiet mit seinen Rüstungszentren weit mehr von den zerstörerischen Attacken heimgesucht.
Ende August verkündete der 30 cm hohe „Volksempfänger“ – das neue, billige Radio der Nation – dass die 6. deutsche Armee unter Generalfeldmarschall
Paulus mit rund 280.000 Mann bis zur Wolga nördlich von Stalingrad, vorgestoßen sei und einen Großteil der Stadt erobert hätte.
Viel zu rasch entschwanden die Sommermonate und wie in jedem Herbst bereitete die Natur mit Sturm und Regen die Menschen im mittleren Europa auf die kalte und düstere, nur wenige Stunden am Tag erhellte, Zeit des Winters vor.
Den Nachrichten über das Vordringen der deutschen Armee in Russland bis Stalingrad folgte, jedoch immer noch keine Siegesmeldung über die Einnahme der Stadt.
Was war los…
Als die 4. Kriegsweihnacht nahte, begannen Gerüchte in der Heimat über einen Stillstand an der russischen Front zu kursieren, doch niemand wusste Genaues. Jetzt im Winter, wo die Kälte das riesige Land mit Schnee und Eis in seinen frostigen Krallen hielt, könnte das eine Katastrophe bedeuten, an die niemand glauben wollte. Es gab immer noch Leute, die trotz strengstem Verbot und unter großer Gefahr sogar für das eigene Leben, klammheimlich englische Sender hörten. Aber was war dabei Wahrheit und was ebenfalls Propaganda?
Für mich bedeuteten die Tage vor dem Fest, Vorbereitungen auf die endgültige Heimkehr…diesmal legal und ohne Hektik.