Sylvia

– oder die Liebe ein Traum?

In den Parks der Stadt Wien blühen wieder die Rosen, denn es ist Juni. Dem Mond fehlt noch ein kleines Stück zur Vollendung. Sein Zauberlicht verwandelt Wirklichkeit in Traum. Irgendwo in den Büschen zwitschert eine Nachtigall.

Die Silhouette eines eng umschlungenen Paares taucht aus dem Dunkel, als Eberhard und Michael, zwei Pensionisten, an einer im Grün der Bäume versteckten Bank, vorübergehen. Für die Beiden gleicht das Ganze einem schönen, aber leeren Gefäß. Den Inhalt haben sie genossen, ein seltsamer Geschmack davon ist übrig geblieben.

„Ja“, seufzt Eberhard, „das war einmal!“

„Schade“… antwortet Michael.

Dann begeben sie sich zum Abendschoppen in ein Wirtshaus.

„Wenn die Liebe aufhört, endet das Leben“, spinnt Eberhard den Faden weiter.

„Die Liebe…“ wiederholt Michael und nickt mit dem Kopf. „Was wäre die Welt ohne sie“?

„Ein Paradies ohne Freude und ohne Leid!“

„Meine schönste Liebe war eigentlich gar keine Liebe“, beginnt Eberhard zu erzählen.

„Was dann?“ will sein Kollege wissen.

Eberhard überhört es.

Seine Gedanken sind bereits weit fort, viele Jahre zurück geglitten. „Ich traf sie in Capri“, er macht eine Pause, „der Felseninsel im blauen Meer! Mein Urlaub war fast zu Ende, als sie kam. Nur einen Tag und eine Nacht verbrachten wir zusammen. Was für eine herrliche Nacht….! Kein Film, kein Roman hätte einen so romantischen Rahmen zu meinem Erlebnis erfinden können, als Capri ihn bot. Sie hieß Sylvia und war jung und schön wie eine Göttin!“

„Hm…“ räuspert sich Michael und grinst. „Weiter…“!

„Wir gingen spazieren…die ganze Nacht! Auf schmalen, vom Mond beschienen Pfaden… Zwischen duftenden Blumen… Wir hörten das Meer rauschen und ich spürte Sylvias jungen Körper dicht neben dem Meinen. Nie mehr erschien mir ein weibliches Wesen so verlockend wie sie!“

„Und…?“ drängt Michael von Neuem.

„Wir sprachen über viele Dinge. Über das Leben und seine Tücken. Über seine Schönheit und seinen Sinn. Wir philosophierten… Wir unterhielten uns auch über unsere Liebsten in der Heimat.“

Michael zieht ein langes Gesicht. „Ist das alles“? fragt er enttäuscht.

Eberhard nickt. „Ich sah‘ sie nie wieder….aber ich denke so gern an jene Nacht und an Sylvia. Ich glaube sie war meine schönste Liebe! Sie schenkte mir…“ er zögert, „ ja, sie schenkte mir vor allem die Überzeugung von meiner Anständigkeit. Wie oft hat man die schon? In den Hoffnungen und Enttäuschungen des Daseins geht der Glaube an den eigenen Charakter oft verloren. Wir tun so viel, was wir verstecken müssen!“

Michael schlürft seinen Wein. Er lächelt spöttisch. „Dein Glück, dass Ihr Euch so bald trennen musstet!“

„Wahrscheinlich“, gibt Eberhard zu. „Wir alle sind keine Helden. Siegreich überstandene Verlockungen sind Raritäten und damit Glanzpunkte in unserem Leben. Ich bin dankbar für diese eine Nacht!“ Er betrachtet sinnend die goldgelbe Flüssigkeit vor ihm.

Danach sprechen die Beiden nicht mehr viel miteinander. Über den Weingläsern schwebt der Qualm ihrer Zigarren. Sie sind zwei welke Gestalten in einer rauchigen Wirtsstube.

Aber draußen, nicht weit davon, blühen wieder die Rosen… Pärchen halten sich umschlungen… Denn das Leben darf nicht enden….