Diesen Roman schrieb Margarete mit 18 Jahren. Er spielt in der Zeit des Rokoko, also in etwa in der Zeit um 1750. Sie verbrachte Stunden in der Wiener Nationalbibliothek um sich die wichtigsten Daten der Zeit aufzuschreiben und hat versucht sich auch in die Erzählweise einzulesen. Jetzt hat sie Tage damit verbracht das schon etwas ramponierte Manuskript abzutippen damit wir diese Erzählung in die Website setzen können.
Kapitel 1 – Karneval in Venedig
Über Venedig glänzt der Mond. Von seinem Himmelsthron überschaut er es ganz – mit all‘ den anmutigen Gestalten, die wie ein übermütiger Insektenschwarm zwischen den bunten Steinbauten umher schwirren. Für ihn sind Venedig und seine Menschen eine kleine, entzückende Miniatur in der etwas größeren des Meeres.
Lächelnd kost der Nachtwind die erhitzten Gesichter, lässt sich halb unwillig, halb beglückt einfangen von den bauschigen Seidenröcken, von den duftenden Haarlocken. Spielerisch fliegt er von einem zum anderen! Gleicht ihm nicht Venedig in seiner Leichtigkeit, seinem launischen Spiel? Trägt nicht das Wasser, dieses sprühende, lebendige Element der Bewegung, Venedigs Paläste und Straßen auf den Armen? Wiegt es nicht die Stadt und ihre Bewohner nach seiner sehnsüchtigen Melodie? Nichts Schweres, nichts Starres, nichts Festes – das ist Venedig, die Stadt des Meeres.
Michael Born, der Münchner Handwerkssohn vergisst sich und sein Leben.
Er erlebt mit allen Sinnen Venedig – und seinen Karneval.
Vom Canal steigt der eigenartige, strenge Geruch des Wassers auf, vermischt sich mit dem Parfüm der Frauen. Leise plätschern die Wellen, wenn die Gondoliere die Ruder in die silbern glänzende Flut tauchen und ihr Gesang verirrt sich als melodische Begleitung in das Lachen und Tollen am Markusplatz.
Ein unbekannter Jemand flüstert ihm fremde, wohlklingende Worte ins Ohr. Sein Verstand nimmt sie nicht auf, trotzdem begreift er sie, denn diese Nacht versteht man oder man versteht sie nicht!
Und Michael Born erlebt vollkommen. Vielleicht ist das, was wir einen Augenblick lang vollkommen erleben das viel umstrittene, heißersehnte, schemenhafte Etwas, das wir als „Glück“ bezeichnen.
Überall begegnet Schönheit, sinnverwirrender Glanz seinem Auge. Schönheit, die nicht erhaben für sich alleine steht, sondern die alles in sich vereinigen will, was ihre Nähe sucht.
Eine Frauenhand umklammert seine Arm, lässt sich kichernd festhalten, unter der dunklen Maske formen unbekannte Lippen irgendwelche, unsinnige Worte.
Jeder gleicht Jedem! Freund, Fremder, Armut, Reichtum, das wird zu Nichts durch die Maske. Sie schwingt sich über Begriffe und lächerliche Phrasen, sie schafft frohe, heitere Menschenkinder.
Noch einer ist da! Er ist Mittelpunkt, Hauptdarsteller in der Komödie des Lebens. Und heute, in der letzten Karnevalsnacht beherrscht er auf allen Bühnen in Venedig die Szene. Dennoch entzieht er sich dem lauschenden Ohr, dem schönheitshungrigen Auge. Amor, der blondlockige Schelm versteckt sich übermütig in dunklen Nischen und Gängen.
Gleich dem schönsten Deckengemälde wölbt sich der glitzernde Sternenhimmel über den „Festsaal“
San Marco.
Als der dunkle Mantel der Nacht am dichtesten um die Stadt gehüllt ist, klingt das letzte ausgelassene Lachen hinauf zu den fernen Lichtern. Trunken, begeistert von sich selbst hält sich Venedig umschlungen im letzten, tollsten Überschwang.
Dann ist der Spuk zu Ende. Die Gestalten besinnen sich, dass ihre Maske nur Schein, aber sie vollenden ihr Spiel ganz, sie entlarven sich nicht als eine vielleicht ebenso trügerische Wirklichkeit,
sondern sie verschwinden in engen Gässchen, huschen in verborgene Lauben, nehmen das Geheimnis ihrer prickelnden Narretei mit sich. Was zurückbleibt ist ihr girrendes, leises Kichern und auf den grauen Steinplatten ein buntes Chaos verrückter Kleinigkeiten, halb zerrissen und zertreten.
Michael Born ist plötzlich allein. Er schaut in das langsam vorüber ziehende Wasser.
Sehr still ist es mit einmal um ihn. Nichts ist zurück geblieben von dem bezaubernd schönen Spiel. Er sieht nur noch die schöne, aber einsame Fassade, die glänzenden Gaukler sind dahin, sie huschen hie und da noch als flüchtige Schatten vorüber.
Da kommt das Gefühl einer großen Einsamkeit über ihn.
Vor dem Palast Grimani schaukelt eine Gondel im Kanal, sie ist festgebunden an einem der Pfähle, die wie Schildwachen vor dem Eingang stehen. Gleichmäßig schlägt das Wasser an die breiten Steintreppen, deren unterste ein leichter Moosteppich überzogen hat. Durch die Fenster fällt ein Lichtschein. Gedämpfte Stimmen verlieren sich im einförmigen Gesang des großen Canal. Wieder flammt ein heller Schein auf, auch in den kleineren, versteckten Häusern.
Michael sieht es, er flüchtet in das Gewirr der engen, dunklen Gassen, aus denen die weißen Brücken wie leuchtende Hügel hervor glitzern und fühlt hier plötzlich in dem nächtlichen Labyrinth noch mehr, dass er ja fremd ist! Mühsam sucht er rechts und links, kreuz und quer seine Herberge, wo ein einfaches Lager ihn erwartet.
Der edle Leib eines Pferdes stellt sich ihm da in den Weg. Silbern fällt das Mondlicht darauf, haucht über die leblose Statue die täuschende Vision der Lebendigkeit.
Michael bleibt stehen, atmet tief auf. Unverwandt betrachtet der das Denkmal, vor dem er so oft schon gestanden, das ihm nun die zaubrische Mondnacht wieder neu, wieder anders zeigt.
Er besinnt sich auf die vergangenen Tage.
Von neuem lässt eine unbestimmte Sehnsucht sein Herz höher schlagen.
Er sieht den Söldnerführer Colleoni in Helm und Harnisch die Zügel des Pferdes halten! Er sieht Verrechio, den Lehrer des großen Leonardo an dem Standbild arbeiten, dessen Gedanken noch das lebende Modell so unmittelbar in sich trugen. Er sieht das geniale Dreigestirn Raffael, Leonardo, Michelangelo. Er sieht Dürer. – Das ist sein Vorbild, seine Sehnsucht.
Durch ihre Kunst haben sie ihr Zeitalter gekrönt, haben es zu einem Höhepunkt in der Weltgeschichte erhoben, in dem zu leben sich der ärmste Bürger reich fühlen musste.
Sie haben gezeigt, was echt, was edel in unserer Seele schlummert. Sie haben das Wahre zu wecken gesucht, schufen Gestalten, die in Form und Ausdruck schönste Harmonie ausstrahlten.
Jene Harmonie, die als letzter, als erhabenster Ruhepunkt über allem Sein steht, nach der in ewiger Sehnsucht unbewusst unsere Seele sucht.
Michael seufzt. Da bemerkt er zu seinen Füssen einen farbigen Gegenstand. Er hebt ihn auf. Es ist ein bunter Frauenkamm, dessen sinnreiche Verzierungen über seinen eigentlichen Zweck hinwegtäuschen, ihn zur lieblichen Spielerei machen.
Wie arm ist seine Zeit dagegen. Wie leer! Ist sie nicht im Begriffe, durch ihr unersättliches Abwandeln und Ausgestalten der Form, deren reine, klare Linien vollkommen zu verlieren. Und muss durch diese äußere Verworrenheit nicht allmählich die Seele ersterben.
Plötzlich wirft er den funkelnden Gegenstand in die Lagune. Übermütig schaukelt er nun auf den Wellen, lässt sich von ihnen mit forttragen.
Dann schaut der junge Maler wieder auf Colleoni und das Pferd. Wie jeder Muskel des Tieres aus dem wundersamen System des lebendigen Körpers zu kommen scheint! Wie anmutig sich der schön geschwungene Hals in Falten legt, geschmückt von der kurzhaarigen Mähne.
Das sind Linien, das sind Formen – nein, das ist Leben!
Er erinnert sich wie er vor Stunden, als die Sonne durch die schmalen Fenster der Akademie hereinlugte vor Raffaels Madonna gestanden, die mit halb gesenktem Blick auf die beiden Knaben schaute. Wie dieses Bild trotz seiner Symmetrik, trotz seiner scharf abgegrenzten Linien und trotz der intensiven, nicht im mindesten nuancierten Farben ihm so edel und natürlich erschienen ist.
Farbtechnik, Form, das trägt den Stempel der Zeit, aber die Seele des Bildwerkes steht über Zeit und Raum. Darum wohl ist er immer wieder vor diese Madonna getreten, hat nicht die jede Körperform abgrenzenden Linien, nicht die kräftigen und dennoch aufeinander abgestimmten Farbtöne studiert, sondern hat das Leben gesucht, das Leben das darin ist auch heute, wo das Auge die Wirklichkeit anders sieht als damals vor Jahrzehnten.
Er erinnert sich, wie er dann gespürt hat, dieses Leben, und an die Begeisterung dabei, an dieses Gefühl das ihn emporhob und fortzutragen schien in dieses damals hinein, in diese hohe Zeit des Geistes und der Seele, wie diese Welt ihn ganz beherrscht hat – genau wie….ja genau wie auch die letzten Stunden.
Irgendwo knarrt ein Tor laut und disharmonisch.
Michael Born schreckt zusammen. Aber es ist nicht dieses unverhoffte Geräusch, das ihn zusammenzucken lässt. Es ist ein Erschrecken vor sich selbst.
Das bist du! Zwiespalt! Aus Zwiespalt wird nichts Ganzes, kein rechter Mensch und schon gar nicht ein rechter Künstler.
Da hört er die melodische Stimme eines Mannes hinter sich. „Signor, Signor Born!“
Er dreht sich unwillig um. Der Mann fordert ihn auf mitzukommen, denn die Herberge ist unweit von hier. Er glaubt den Fremden nach dieser Nacht heim geleiten zu müssen.
Schweigend folgt ihm Michael.
Dann wirft er sich angekleidet für die paar Nachtstunden auf das Bett.
Nichts bin ich wirklich ganz, denn beides hat mich vollkommen beherrscht. Das eine kann ich nicht missen, da es mich emporhebt und hinaushebt aus dem, von dem ich mich so brennend gern losreißen möchte; von dem bezaubernd schönen Spiel ohne Inhalt.
In der Ruhe die ihn umgibt erkennt er die zwei Welten, erkennt er die Größe ihres Gegensatzes.
Langsam flattert der dunkle Mantel der Nacht höher, hinauf zu den Wolken, die wie ernste Künder der Fastenzeit sich über das freundliche Blau decken. Aus dem sind sie entstanden, wachsen, wachsen zu grauen Gebirgen.